»Mit der eigenen Vergangenheit leben«: Die Vergangenheit als Schlüssel zur Zukunft
Vergleiche zwischen Mensch und Maschine hinken oft. So gleicht das menschliche Gedächtnis keineswegs einer Festplatte, die alle Ereignisse des Lebens als Daten feinsäuberlich in abgesicherten Sektoren ablegt. Es ist weit mehr als ein Speicher der Erinnerungen: Es ist ein höchst aktives Organ, radikal auf das Kommende ausgerichtet.
Diese Erkenntnis verdanken wir, so Charles Pépin, dem französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941). Mit seinem Werk »Materie und Gedächtnis« (1896, deutsch 1908) werde erstmals das Gedächtnis zum Thema der Philosophie. Bergsons Werk entstand in Zeitgenossenschaft zu Hauptwerken von Sigmund Freud und Marcel Proust. Sie bilden den Ausgangspunkt für das Buch des französischen Philosophen und Schriftstellers Charles Pépin, das sich der Vergangenheit widmet, um in die Zukunft aufzubrechen.
Bergson habe vor mehr als 100 Jahren gezeigt, dass das Gedächtnis »nicht statisch, sondern dynamisch ist, dass unsere Erinnerungen lebendig sind – und vor allem: dass unser Gedächtnis konstitutiv für unser Bewusstsein und unsere Identität ist«, erläutert Pépin. Jener habe insistiert, dass Lernprozesse unterschiedlich verliefen und wir uns Dinge auf verschiedene Weisen merkten. Er unterschied das »Erinnerungsgedächtnis«, das Lebenserfahrungen festhalte, vom »Gewohnheitsgedächtnis«, das Wissen mit dem »Willensakt des Lernens« speichere.
Fünf Formen des Gedächtnisses
Ausgehend von Bergson stellt Pépin in großen Schritten die Karriere der Hirnforschung bis heute vor. Heute unterschiede man nicht nur zwei, sondern fünf Formen des Gedächtnisses: drei Haupt- und zwei Nebenformen. Da sind zunächst das »episodische« Gedächtnis, das unsere Autobiografie konstruiere, das »semantische« Gedächtnis der Worte und Ideen und das »prozedurale« Gedächtnis, das unsere Gewohnheiten so speichere, dass wir nie mehr vergessen, wie man etwa Fahrrad fährt, wenn wir es einmal gelernt haben. Dazu gesellten sich das Arbeitsgedächtnis und das sensorische Gedächtnis, die beide nur kurzzeitig etwas speicherten.
Wir können uns unserer Vergangenheit nicht entziehen, unser ganzes Leben beruhe auf ihr, und sie begleite unser gesamtes Wissen und Tun. Mit dieser zentralen These unternimmt Pépin eine philosophisch-literarische Reise über zahlreiche Stationen. Sie führt etwa zu Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« und dem berühmten Geschmack der in Tee getauchten Madeleine, der in Proust seine Kindheit aufscheinen lässt; über Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« als den Versuch, sich bewusst zu machen, wie die eigene Identität mit der Flucht aus einer Arbeiterfamilie zusammenhängt; zu Jorge Semprún und seinem autobiografischen Roman »Die große Reise«, in dem er seine schmerzlichen Erlebnisse im KZ Buchenwald verarbeitet; zu »De profundis« von Oscar Wilde, zu David Bowies Songs, die bewusst einen Bogen um die eigene schmerzhafte Kindheit machten, oder zu Joan Didions »Das Jahr magischen Denkens«.
Der Autor flicht immer wieder Erkenntnisse der modernen Hirnforschung in diese Erzählungen ein, etwa den »Rebound-Effekt«, traumatische Erfahrungen oder die Art und Weise, wie man falsche Erinnerungen in anderen induziert. Er schreibt auch von eigenen Begegnungen mit Schriftstellern, Philosophen und Künstlern und erinnert sich, wie ihm ein fantastisches Tor von Zlatan Ibrahimović zu einem Beispiel für das Funktionieren des prozeduralen Gedächtnisses wurde. All diese Beobachtungen und Erkenntnisse sind für Pépin Angelpunkte einer Philosophie des Aufbruchs, mit der man das eigene Leben meistern kann. Es kommt ihm darauf an zu zeigen, dass wir als Menschen in der Lage sind, auch sehr schmerzhafte Erfahrungen zu verarbeiten, und dass das Gehirn die Fähigkeit besitzt, Erinnerungen ins Positive umzudeuten. Auch dabei befindet sich Pépin im Einklang mit der modernen Hirnforschung, etwa der Psychotherapie, die Verfahren entwickelt (hat), Gedächtnisinhalte zu vergessen oder neu zu interpretieren.
Pépin plädiert für einen offenen Dialog mit der eigenen Vergangenheit, um eine »andere Beziehung« zu ihr zu ermöglichen. Schon antike Philosophen wie die Stoiker und Epikureer hätten gewusst, auf sich selbst einzuwirken, um das Leben zu meistern. Den Epikureern war bewusst, dass das, »was gewesen ist, auch nicht hätte sein können«; die moderne Philosophie kennt das unter dem Begriff der »Kontingenz«. Von den Stoikern kann man lernen, dass wir bei Weitem nicht alles, was geschieht, in der Hand haben und wir die Kraft entwickeln können, »dem Schlimmsten ins Gesicht zu sehen und es zu ertragen«.
Für den Autor ist das Leben von drei Bewegungen bestimmt: der zur Vergangenheit, die man »annehmen und umschreiben« kann; der zur Zukunft als »Bewegung des Handelns«; und der »zu den anderen und zur Welt« als ein Sich-Öffnen. Sein Buch ist leicht lesbar und zuweilen elegant formuliert; es hat genug Tiefe, um die Augen für das eigene Selbst und das Sein in der Welt zu öffnen. Dabei geht Pépin stets vom Denken Bergsons aus und kehrt immer wieder zu ihm zurück.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben