»Schuld und Respekt«: Zwischen Rache und Versöhnung
Wer von jemandem unverschuldet verletzt wird, erwartet zu Recht eine Entschuldigung. Bleibt diese aus, entwickelt die Person womöglich Rachegefühle, die – kulturell verschieden – entweder unterdrückt werden oder überhandnehmen können. Letzteres geschah im Fall des Osseten Vitali Kalojew, der 2004 nach Zürich reiste und dort den Fluglotsen Peter Nielsen erstach. Zwei Jahre zuvor war beim tragischen Zusammenstoß zweier Flugzeuge nahe dem Bodensee Kalojews Familie umgekommen. Auf eine Entschuldigung hatte er vergeblich gewartet.
»Der Kniefall von Warschau« hat sich nicht nur den Älteren ins Gedächtnis geschrieben: Als Willy Brandt 1970 vor dem Ehrendenkmal für die Helden des Warschauer Ghettos bei der Kranzniederlegung spontan auf die Knie fiel und wortlos verharrte, wurde diese Geste als das maßgebliche geschichtliche Ereignis für den Beginn der Ost-West-Versöhnung verstanden – mehr als 25 Jahre nach dem Aufstand in Warschau.
Anhand ausführlicher Analysen von Ereignissen wie diesen untersucht die Philosophin Maria-Sibylla Lotter die »Praxis von Vergeltung und Versöhnung«, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ihr Gelingen und Misslingen. Das Buch besteht aus zwei eigenständigen Kapiteln; das erste über moralische Schuld jenseits der juristischen Vorwerfbarkeit, das zweite zu politischen Entschuldigungen für lang zurückliegende Verfehlungen. Beide Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden und stellen »eine Vorarbeit für eine Untersuchung des Verzeihens als einer Interaktion in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten dar«. Lotters philosophischer Diskurs beeindruckt durch Genauigkeit; er profitiert davon, dass die Autorin auch in der Ethnologie zu Hause ist und somit kulturelle Unterschiede fein auszutarieren vermag.
Dass der oben erwähnte Kalojew zwei Jahre vergeblich auf eine Entschuldigung des Unternehmens Skyguide, für das Peter Nielsen als Fluglotse tätig war, gewartet hatte, lag auch daran, dass die Firma aus Angst vor juristischen Fallstricken im Umgang mit Versicherungen nicht explizit Verantwortung für den Unfall übernommen hatte. Kalojews Rache wertet Lotter als »Element eines Kampfes um Anerkennung … die (auf die) Wiederherstellung von Respektbeziehungen zwischen Gleichen abzielt«. In demokratischen Ländern ist das die Aufgabe des Staates und seiner juristischen Instanzen – man unterdrückt die eigenen Rachegefühle, weil das Gewaltmonopol beim Staat liegt. Aber wenn »soziale Praktiken zur Heilung moralischer Wunden« unterbleiben, folgt aus dieser »Unterlassung eine zweite Missachtung«. Diese Lücken in »unseren Praktiken moralischer Reparaturen menschengemachter Übel und Katastrophen« erweisen sich als strukturelle Schwächen, die Lotter sachlich differenziert »aufdröselt«.
Die Schwierigkeiten politischer Entschuldigungen
Auch öffentliche Entschuldigungen wie der »Kniefall von Warschau« zielen auf die »Heilung moralischer Wunden« sowie auf die Anerkennung von historischer Schuld. Mit ihnen hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Praxis der Wiedergutmachung für Kriegsverbrechen und anderes Unrecht entwickelt. Dazu gehören insbesondere politische Entschuldigungen wie die Rede von Premierminister Kevin Rudd in Canberra 2008, der sich im Namen europäischstämmiger Australier öffentlich bei den indigenen Völkern für die »Misshandlungen in der Vergangenheit« des Landes entschuldigte.
Auch bei politischen Entschuldigungen geht es nach Lotter um die Versöhnung und die Herstellung von Gleichheit in Beziehungen. Allerdings spielt hierbei oft auch Imagepflege eine Rolle, und generell folgen Entschuldigungen in der Politik einer »anderen Logik als die Entschuldigungen von Tätern gegenüber ihren Opfern.« Sie haben etwas »Theaterhaftes, inszenieren Gefühle, Absichten und Überzeugungen«, die leicht unecht wirken und deshalb häufig genug misslingen – wie etwa die Schuldanerkenntnisse für die Sklaverei, die Bill Clinton in Afrika geäußert hat, oder die von Barack Obama in US-Parlamenten gegenüber den »native americans«. Trotzdem haben politische Entschuldigungen eine wichtige Funktion: weniger, um die in der Vergangenheit erlittenen Verletzungen zu entschuldigen, sondern als »produktive Akte«, die »dazu beitragen können, die soziale Realität zu verändern«. Damit zielen sie auf die Zukunft und stiften »Versöhnung, indem sie Beziehungen des gegenseitigen Respekts unter Gleichen herstellen«.
Das Buch ist bei aller Differenziertheit und Komplexität sehr verständlich geschrieben – aber dennoch ein philosophisches Fachbuch. Das zeigt sich nicht nur in Anmerkungen und Register, sondern auch darin, wie intensiv sich die Autorin mit den Gedanken anderer Philosophen auseinandersetzt. Es ist zugleich ein Beitrag zur aktuellen politischen Instrumentalisierung von Begriffen wie »Respekt«, »Verantwortung« und »Schuld«.
Entschuldigungen sind Reaktionen auf Unrecht und Demütigung – Lotters Buch erklärt ihre Logik schlüssig über das Prinzip des Ausgleichs. Das Buch ist allen zu empfehlen, die verstehen möchten, wie Versöhnung zwischen Menschen und auf politischer Ebene gelingen kann.
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