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Viel Alltägliches, wenig Mathematik

Der populärwissenschaftliche Autor Brian Clegg beleuchtet das einst hochgepuschte Thema »Chaostheorie«. Doch der wissenschaftliche Teil gerät etwas kurz.

In den 1980er und 1990er Jahren erlebte das Chaos einen regelrechten Hype. Das Thema schaffte es in eine Vielzahl populärwissenschaftlicher Bücher und Zeitschriften, in die wissenschaftliche Fachliteratur, zu Foto-Ausstellungen in vielen Städten und gipfelte vielleicht 1993 im Titelblatt einer Ausgabe des »Spiegel«: »Kult um das Chaos – Aberglaube oder Welterklärung?« Der Autor Brian Clegg möchte in seinem Buch »Chaos im Alltag« den Spagat zwischen der zu Grunde liegenden Mathematik und den alltäglichen Erscheinungen schlagen.

Der Schmetterlingseffekt

Die mathematische Grundlage der Chaostheorie erläutert er dabei in verschiedenen Abschnitten. Eines ihrer wesentlichen Merkmale, die so genannte sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen, beschreibt Clegg zuerst am Doppelpendel und dann an den Beobachtungen des US-amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz aus den 1960er Jahren. Dieser fand mit Computerunterstützung heraus, dass seine Wetterprognosen bei winzigen Veränderungen in den Anfangsdaten zu sehr verschiedenen Ergebnissen führten. Diese Erkenntnis wurde als Schmetterlingseffekt weltberühmt, womit die Chaostheorie in die Wissenschaftsgeschichte eintrat.

Eine weitere Eigenschaft des mathematischen Chaos ist die Selbstähnlichkeit. Reale Beispiele dafür findet man zumindest näherungsweise in der Natur, etwa bei einem Farnblatt, Blumenkohl oder den Verästelungen im Blutsystem: Vergrößert man einen kleinen Ausschnitt, sieht dieser dem Original wieder ähnlich. Exakt selbstähnlich sind mathematische Fraktale wie die Schneeflockenkurve, das Feigenbaum-Diagramm und die Mandelbrotmenge, die im Buch abgebildet sind. Für Laien ist es trotz der Erklärungen im Buch aber nicht leicht zu verstehen, wie sie entstehen. Clegg verzichtet dabei darauf, eine Formel zur Funktionsvorschrift anzugeben – was in diesem Fall wahrscheinlich hilfreich gewesen wäre.

Der Autor macht deutlich, dass mathematisches Chaos nichts mit zufälligen Erscheinungen zu tun hat. Ereignisse wie Münz- oder Würfelwürfe berechnet man statistisch: Den nächsten Wurf kann man zwar nicht vorhersagen, wohl aber das Langzeitverhalten. Insofern ist der Zufall für den Autor berechenbar. Das mathematische Chaos ist jedoch nicht zufällig, sondern deterministisch: Jeder Rechenschritt ist eindeutig festgelegt, und trotzdem ist das Langzeitverhalten praktisch unvorhersehbar.

Durch diese Erkenntnis und die wunderbar farbigen Bilder der Mandelbrotmenge war der mathematische Bereich für populäre Veröffentlichungen prädestiniert. Darüber hinaus wurde das mit der markanten Bezeichnung »Chaos« verbunden, was leicht zu missverständlichen Vorstellungen führt. Der Autor schreibt, es »wäre wirklich besser gewesen, wenn diejenigen, die den Begriff für eine mathematische Definition benutzt haben, sich ein anderes Wort ausgedacht hätten, weil es sehr schwierig ist, den Begriff von seiner ursprünglichen Bedeutung zu trennen«.

Im Buch nehmen Erscheinungen des Chaos im Alltag einen breiten Raum ein. Das reicht vom Billard-Spiel und dem Flipper-Automaten über moderne Wettervorhersagen, Probleme bei der Stichprobenauswahl für Meinungsumfragen, Herzflimmern, Verschlüsselungsverfahren und Börsenkursen bis hin zum »Stau aus dem Nichts« auf Autobahnen. Viele dieser Themen führt Clegg relativ kurz aus.

An manchen dieser Phänomene versucht er charakteristische Merkmale des mathematischen Chaos zu zeigen, etwa bei Börsencrashs. Wie das Zitat oben vermuten lässt, weiß der Autor, dass das umgangssprachlich verwendete Wort »Chaos« nicht immer mit dem mathematisch definierten Effekt übereinstimmt. Diese Tatsache beachtet er allerdings nicht immer. So beschreibt er knapp, der Biologe Robert May habe mit einer »relativ einfachen Gleichung« (gemeint ist die des logistischen Wachstums) Bevölkerungszahlen berechnet – und diese könnten je nach Wachstumsrate chaotisch hin- und herspringen. Dabei führt er aber nicht aus, dass sich das aus theoretischen Modellierungen für Populationen ergibt, die nur in Ausnahmefällen auch für bestimmte Gruppen von Lebewesen zutreffen können. Der von Clegg abschließend formulierte Satz »Chaos in der Bevölkerungsentwicklung gehört zum Alltag« ist sicherlich überzogen, vor allem wenn man an menschliche Populationen denkt. Eventuell ist die Übersetzung vom englischen »population« mit dem deutschen »Bevölkerung« missverständlich.

Dennoch beschreibt der Autor auf spannende Weise, in welchen Situationen sich chaotisches Verhalten feststellen lässt. Das mag viele überraschen, die noch nicht mit solchen Fragen konfrontiert waren. Allerdings zieht der Verfasser die Theorie dafür teilweise verkürzt heran. Wer dem Untertitel entsprechend die Mathematik dazu kennen lernen möchte, wird zu wenig finden, denn sie kommt leider recht kurz.

Es ist sicher Absicht, so gut wie keine Formel zu verwenden, aber eine Beschreibung der Funktionsvorschrift, etwa für die Erzeugung der Mandelbrotmenge, nur in kurzen Worten zu geben oder die logistische Gleichung wegzulassen, erscheint unpassend. Man hätte sie auch in einer zusätzlichen Anmerkung außerhalb des laufenden Textes angeben können, von denen es ohnehin sehr viele gibt. Zudem enthält das Buch kein Literaturverzeichnis und verweist auf keinerlei Quellen. Leserinnen und Leser, die ein wenig von der Mathematik nachvollziehen wollen, müssen selbstständig recherchieren.

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