Lexikon der Biochemie: Röntgenstrukturanalyse
Röntgenstrukturanalyse, Röntgenkristallographie, ein Verfahren zur Bestimmung der dreidimensionalen (3D-) Struktur einer gegebenen Molekülart. Sie macht sich zunutze, dass Röntgenstrahlen durch die Elektronen, die in einem Molekül vorhanden sind, gebeugt werden. Da die Röntgenbeugung, die von einem einzelnen Molekül verursacht wird, unmessbar schwach ist, ist eine große Anzahl an Molekülen (³105) notwendig. Außerdem müssen diese Moleküle in einem regelmäßigen 3D-Muster vorliegen, wie es in Kristallen der Fall ist. Die erste Voraussetzung, die für eine R. erfüllt sein muss, ist das Vorliegen eines gut geordneten Kristalls, in dem die einzelnen Moleküle – jeweils in der gleichen Konformation – in spezifischen Positionen und Orientierungen in einem 3D-Gitter angeordnet sein müssen, so dass sich ihre Beugungsmuster aufaddieren. Aus dieser Summierung kann die Konformation der einzelnen Moleküle hergeleitet werden. Die R. wurde vor über 70 Jahren eingeführt und wird mit immer weiter steigendem Erfolg dazu eingesetzt, den Konformationsbereich biologisch wichtiger Verbindungen, u.a. auch von Proteinen, Nucleinsäuren und Vitaminen (z.B. B12), zu untersuchen.
Die Grundeinheit eines Kristalls ist die Einheitszelle, die als der kleinste Parallelflächner (d.h. ein Festkörper, in dem jede Fläche ein Parallelogramm bildet) des Kristalls definiert ist. Durch wiederholte Translationen, die parallel zu jeder Fläche in drei Richtungen und ohne Rotationen durchgeführt werden, entsteht aus der Einheitszelle das Kristallgitter. Die drei Richtungen definieren die drei Kristallachsen. Die Einheitszelle kann ein oder mehrere Moleküle enthalten. Die Anzahl der Moleküle je Einheitszelle ist für alle Zellen desselben Kristalls immer gleich, sie kann jedoch bei verschiedenen Kristallen des gleichen Moleküls unterschiedlich sein. Dies trifft insbesondere auf Proteinkristalle zu. Die Moleküle, die eine multimolekulare Einheitszelle bilden, können relativ zueinander und zu den Kristallachsen ganz unterschiedliche räumliche Orientierungen einnehmen. Dies erweist sich wiederum für globuläre Proteine als wahr, die oftmals eine unregelmäßige Form besitzen. Aufgrund dieser Unregelmäßigkeit ist es für sie auch schwierig, sich ohne große Löcher oder Kanäle zwischen den einzelnen Molekülen zusammenzudrängen. Die Löcher und Kanäle werden mit ungeordneten Lösungsmittelmolekülen gefüllt, die oft mehr als die Hälfte des Kristallvolumens besetzen. Die Proteinmoleküle stehen in einem Kristall nur in wenigen kleinen Bereichen miteinander in Kontakt und selbst in diesen Bereichen ist der Kontakt möglicherweise nur indirekt, über eine oder mehrere Lösungsmittelmolekülschichten. Aus diesem Grund wird vermutet, dass die Proteinkonformationen, die durch R. bestimmt werden, identisch – oder beinahe identisch – mit den Konformationen in wässriger Lösung sind. Diese Vermutung wird außerdem durch die Tatsache gestützt, dass die Konformationen einer Reihe von Proteinen, die mit Hilfe sowohl der R. als auch der NMR-Spektroskopie (bei der die Proteine in wässriger Lösung untersucht werden) abgeleitet wurden, große Ähnlichkeit miteinander aufweisen.
In der R. werden oft Kα-Röntgenstrahlen (λ = 0,1542nm) verwendet, die von Kupfer bei Elektronenbeschuss emittiert werden. Es werden jedoch zunehmend Röntgenstrahlen angewandt, die durch Synchrotrone erzeugt werden. Diese Röntgenstrahlen besitzen eine höhere Intensität und können in Wellenlängen gewählt werden, die sich von Kupfer-Kα unterscheiden. Zur Untersuchung der Molekülkonformation sind Röntgenstrahlen notwendig, da ihre Wellenlänge in der gleichen Größenordnung liegt, wie die interatomaren Abstände (z.B. beträgt der Abstand zwischen zwei Kohlenstoffatomen, die durch eine einfache kovalente Bindung verknüpft sind, 0,154nm).
Auf den Kristall wird ein schmaler Röntgenstrahl gerichtet. Ein Teil des Strahls geht direkt durch den Kristall hindurch, während der Rest durch die Elektronen der Kristallatome gestreut wird. Die Streuung, die von jedem Atom verursacht wird, ist der Elektronenzahl (d.h. der Ordnungszahl) direkt proportional. Die meisten Atome in organischen Molekülen, wie z.B. Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff, haben eine niedrige Ordnungszahl und besitzen (in dieser Reihenfolge) 1, 6, 7 und 8 Elektronen. Wenn ein Molekül in einer 3D-Struktur oft an äquivalenten Plätzen vorkommt, wie es bei einem Kristallgitter der Fall ist, verhält sich die Struktur wie ein Beugungsgitter und die Röntgenstrahlwellen werden in verschiedenen Richtungen gebeugt. Die gebeugten Wellen vereinigen sich wieder. Wellen, die in Phase sind, werden durch die Rekombination verstärkt, Wellen, die nicht in Phase sind, werden gelöscht. Die Rekombinationsart hängt nur von der Atomanordnung in den Molekülen ab, die den Kristall aufbauen. Die rekombinierten Wellen werden entweder in Form von schwarzen Flecken auf Röntgenfilmen erfasst oder mit Hilfe eines Festkörperelektronendetektors. Der gebeugte Strahl, der durch jeden Fleck des Beugungsmusters dargestellt wird, wird durch drei Eigenschaften charakterisiert: die Amplitude, die Wellenlänge und die Phase. Alle drei Eigenschaften müssen bekannt sein, um die Lage der Atome, die diese Beugung bewirken, ableiten zu können. Die Amplitude ist durch die Intensität des Flecks gegeben und kann gemessen werden. Die Wellenlänge ist bekannt, weil sie mit der des gewählten Einfallsstrahls übereinstimmt, die Phase geht jedoch verloren. Daraus ergibt sich für die R. ein "Phasenproblem". Für kleine Moleküle wurde dieses Problem durch sogenannte "direkte Methoden" gelöst, die auf statistischen Beziehungen zwischen Intensitäten beruhen. Für große Moleküle, wie z.B. Proteine, wird dagegen die indirekte Methode eingesetzt, die von Perutz und Kendrew eingeführt wurde. Hierbei werden einige Atome eines Schwermetalls in der Weise in den Kristall eingebaut, dass sie die Konformation des Moleküls oder die Einheitszelle nicht verändern. Diese Atome besitzen wesentlich mehr Elektronen als die Atome von C, H, O, N und S, welche das Proteinmolekül aufbauen. Als Folge davon, beugen die Schwermetallatome Röntgenstrahlen viel stärker, wodurch einige Flecken des Beugungsmusters an Intensität zunehmen. Aus einer Fourier-Summation dieser Zunahmen werden Abbildungen (Patterson-Abbildungen) der Vektoren zwischen den Schwermetallatomen erhalten. Aus diesen Abbildungen können die Positionen der Schwermetallatome in der Einheitszelle bestimmt werden. Dadurch wird es möglich, ihren Phasen- und Amplitudenbeitrag zum gebeugten Strahl zu berechnen, zu dem sie beitragen. Mit dieser Kenntnis, sowie der der Proteinamplituden allein und des Protein-Schwermetall-Komplexes (d.h. eine Phase und drei Amplituden) ist es möglich, zu ermitteln, ob die Interferenz der Röntgenstrahlwellen, die durch die Schwermetallatome und das Protein gebeugt werden, additiv oder substraktiv ist, und wie groß diese beiden Effekte sind. Zusammen mit der Kenntnis der Phase des Schwermetallatoms lassen sich daraus zwei gleich gute Phasenlösungen berechnen. Um entscheiden zu können, welche der beiden Lösungen die richtige ist, muss ein weiterer Schwermetall-Protein-Komplex der gleichen Analyse unterzogen werden, wodurch sich ein zweites Paar gleichwertiger Lösungen ergibt. Derjenige Wert, der mit einem Wert des ersten Paars übereinstimmt, gibt die korrekte Phase wieder. In der Praxis sind mehrere verschiedene Schwermetallkomplexe notwendig, um eine gute Phasenbestimmung für alle Flecken zu erreichen.
Mit Hilfe der Amplituden und Phasen der Röntgenbeugungsdaten wird die 3D-Elektronendichteverteilung der Einheitszelle des Kristalls berechnet, aus der die Konformation des Proteinmoleküls hergeleitet werden kann. Dazu werden heutzutage komplizierte Computergraphiken herangezogen. Bei der ursprünglichen Methode wurden die Höhenlinien der Elektronendichte auf horizontale, transparente Kunststofffolien übertragen und diese in einem parallelen Stapel angeordnet. Auf jeder Folie stellen die Höhenlinien die Elektronendichteverteilung in einer bestimmten Ebene der Einheitszelle dar. Sie sind vergleichbar mit den Höhenlinien einer geologischen Vermessungskarte. Wenn die Folien übereinander gestapelt wurden, war es möglich, dem Verlauf der Höhenlinien zu folgen und daraus die Konformation des Proteins abzuleiten.
Die maximale Auflösung, die durch eine R. erreicht werden kann, ist durch die Wellenlänge der verwendeten Röntgenstrahlung (z.B. 0,1542nm) gegeben. Die tatsächliche Auflösung, die mit einem Beugungsmuster erreicht werden kann, hängt von der Anzahl der analysierten Flecken ab: je mehr Flecken vorhanden sind, um so größer ist die Auflösung. Bei einer Auflösung von 0,6nm sieht eine α-Helix wie ein fester Zylinder aus; bei einer Auflösung von 0,4nm ist es möglich, den Verlauf der Polypeptidkette zu erkennen; bei einer Auflösung von 0,2nm sind der Verlauf der Polypeptidkette und die Positionen der Aminosäureseitenketten unterscheidbar; die einzelnen Atome werden jedoch erst bei 0,1nm aufgelöst. In der Praxis wird die maximale Auflösung nur selten erreicht, da eine zu große Datenmenge analysiert werden müsste. Die meisten Röntgenstrukturuntersuchungen werden bei einer Auflösung von 0,17-0,39nm durchgeführt. Hierbei ist es nicht möglich, solche chemisch unterschiedlichen Gruppen wie OH, NH2 und CH3 zu unterscheiden oder eine unbekannte Aminosäuresequenz herzuleiten, da mehrere Aminosäurepaare vollständig oder beinahe ununterscheidbar sind (z.B. Thr und Val, Asp und Asn, Glu und Gln, His und Phe). Die Aminosäuresequenz eines Proteins ist für eine genaue Konformationsermittlung durch R. beinahe unentbehrlich. [K.E. van Holde Physical Biochemistry (Prentice Hall Inc.,1985, 2. Ausg.) 253-273; J.R. Heliwell Macromolecular Crystallography (Cambridge University Press, 1992)]
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