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Freistetters Formelwelt: Eine komplexe Formel mit erstaunlichen Anwendungen

Für Laien sehen so gut wie alle mathematischen Formeln auf den ersten Blick unverständlich aus. Und selbst wenn man sich mit dem Thema auskennt, muss man oft ein zweites Mal hinsehen, um die Bedeutung einer Formel zu erkennen
Eine weibliche Hand schreibt mathematische Formeln auf
Viele Gleichungen wirken sehr abstrakt – haben aber handfeste Anwendungen.
Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Ich betreibe seit 2008 ein Internetblog mit dem zugegebenermaßen etwas kryptischen Titel »Astrodicticum Simplex«. Der Begriff beschreibt ein astronomisches Gerät, das der deutsche Forscher Erhard Weigel im 17. Jahrhundert erfunden hat.

Mit dem mathematischen Begriff des »Simplex« hat es nichts zu tun; die Namensgleichheit führt aber dazu, dass ich immer besonders aufmerksam werde, wenn ich das Wort irgendwo sehe. Das letzte Mal war das der Fall, als ich mich mit der so genannten Cayley-Menger-Determinante beschäftigt habe, die man in dieser Formel finden kann:

\[ V(S)^2 = \frac{(-1)^{n+1}}{2^n (n!)^2} \text{det}(B) \]

Es braucht ein bisschen Zeit, die Symbole zu erläutern. Mit \(S\) wird ein Simplex beschrieben: So nennt man in der Mathematik ein spezielles n-dimensionales Polytop. Das klingt auch nicht viel verständlicher, ist aber nur ein verallgemeinertes Vieleck in beliebig hohen Dimensionen. Oder anders gesagt, ein 0-Polytop ist einfach bloß ein Punkt; ein 1-Polytop bekommt man, wenn man zwei Punkte durch eine Linie verbindet; und ein 2-Polytop besteht aus Linien, die zu einem Polygon verbunden sind, also einem geschlossenen Streckenzug in der Ebene (zum Beispiel einem Dreieck oder einem Quadrat). Noch eine Dimension höher kann man ein Polyeder auch als 3-Polytop bezeichnen, und so kann es beliebig lange weitergehen. Ein Simplex ist das einfachste mögliche Polytop in einer bestimmten Dimension. Also ein Dreieck im zweidimensionalen Raum, ein Tetraeder in drei Dimensionen und so weiter.

Die obige Formel erlaubt es, das Volumen \(V\) eines n-dimensionalen Simplex zu berechnen, und zwar mit Hilfe der Cayley-Menger-Determinante det(\(B\)). Dazu braucht man zuerst die entsprechende Matrix \(B\), die aus \((n+2)\) Spalten und \((n+2)\) Reihen besteht. Sie ist symmetrisch, in der ersten Reihe und Spalte steht nur die Zahl 1, bis auf das erste Diagonalelement, das so wie alle weiteren 0 beträgt. Die übrigen Einträge werden aus den Abständen gebildet, die alle Ecken des Simplex jeweils voneinander haben.

Jetzt haben wir alle Elemente der Formel geklärt, und man muss vielleicht kurz innehalten, um zu erkennen, was daran so besonders ist: Abgesehen von der Dimension \(n\) des Simplex braucht man für die Berechnung des Volumens nur die relativen Abstände zwischen den Ecken zu kennen. Man benötigt weder Kenntnis über die Winkel zwischen den Kanten noch über die Koordinaten der Ecken. Solange die Abstände bekannt sind, lässt sich die Formel ausrechnen. Das macht die Volumenbestimmung mit der Cayley-Menger-Determinante zu einer vielfältig einsetzbaren Methode, die nicht nur in der Mathematik relevant ist.

Die Vermessung von Molekülen

Eine Anwendung, die mir besonders gut gefällt, findet sich in der Kernspinresonanzspektroskopie. Damit kann man unter anderem die Struktur von Molekülen bestimmen, was in der Medizin, der Biochemie und vielen anderen Bereichen wichtig ist. Mit dieser Art der Spektroskopie ist es beispielsweise möglich, die Distanzen zwischen den Atomen eines Moleküls zu messen. Und dann kann man mit der Cayley-Menger-Determinante dessen Volumen und seine dreidimensionale Struktur berechnen.

Der Prozess ist nicht trivial; dennoch finde ich es erstaunlich, dass man so etwas mit einer Formel erledigen kann, die nur auf den relativen Abständen zwischen Punkten basiert. Die Eleganz erschließt sich vielleicht nicht auf den ersten Blick, doch wenn man genau genug schaut, findet man sie zwischen all den Symbolen. Es lohnt sich, mehr als einmal hinzusehen, bevor man ein Urteil fällt. Das ist ein Grundsatz, den man durchaus auch abseits der Mathematik anwenden kann.

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