Warkus' Welt: Das Alibi-Prinzip
Vergangenen Montag brannten hier in Jena zum wiederholten Male einige Keller in Mietshäusern. Vermutlich geht ein Brandstifter um. Falls jemand – warum auch immer – vermutet haben sollte, dass ich die Keller angezündet habe, bin ich aber fein raus: Ich war am Montagabend nämlich gar nicht in Jena, sondern in Berlin. Das kann ich unter anderem durch einen Kassenbon eines Berliner Cafés nachweisen. Außerdem gibt es Zeugen, weil ich zufällig einen alten Bekannten getroffen habe und bei einer Orchesterprobe war. Und da ich nun in Berlin war, kann ich nicht zur selben Zeit in Jena Feuer gelegt haben.
Das liegt an einer grundlegenden Schlussregel: Ein Mensch – oder ganz allgemein ein Gegenstand – kann sich nicht gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten befinden. Steht fest, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort war, dann war er genau dort und nirgendwo anders. Für diese Regel (rechtswissenschaftlich ein so genannter Erfahrungssatz) gibt es die auf den deutschen Philosophen Peter Janich (1942–2016) zurückgehende Bezeichnung »Alibi-Prinzip«. Umformuliert besagt es: Jede Bewegung eines Menschen oder eines anderen Gegenstands von A nach B benötigt Zeit.
Wenn Sie zwei gleich zuverlässige Berichte bekämen, denen zufolge ich am Montag zeitgleich in Berlin und in Jena war, würden Sie als vernünftiger Mensch unweigerlich folgern, einer davon müsse falsch sein
Philosophisch interessant wird das Alibi-Prinzip wie so oft erst, wenn man auf seine Begründung schaut. Im Gegensatz zu vielen so genannten Naturgesetzen wie dem ohmschen oder hookeschen Gesetz ist vom Alibi-Prinzip nicht bekannt, wer es »entdeckt« hat. Das ist auch kein Wunder, denn vermutlich hat es nie jemand groß entdecken müssen. Es ist nicht so, dass jemand mit Hilfe irgendwelcher wissenschaftlicher Verfahren die Ortsbewegungen hinreichend vieler Menschen untersucht und dann festgestellt hat, dass ausnahmslos in allen Fällen jede untersuchte Person zu jeder Zeit immer nur an einem Ort war, und Justiz und Alltag seither mit diesem Ergebnis weiterarbeiten. Im Gegenteil: Die erdrückende Mehrheit aller Menschen hat schon immer in der Sicherheit gehandelt, dass kein Mensch an zwei Orten zugleich sein kann, weil jede Ortsbewegung Zeit benötigt. Und diejenigen, die anderer Ansicht sind, halten wir nicht bloß für Inhaber einer abweichenden Meinung – wir halten sie für unvernünftig.
Nicht zu widerlegen
Eine experimentelle Widerlegung des Alibi-Prinzips ist daher gar nicht möglich. Wenn Sie zwei gleich zuverlässige Berichte bekämen, denen zufolge ich am Montag zeitgleich in Berlin und in Jena war, würden Sie als vernünftiger Mensch unweigerlich folgern, einer davon müsse falsch sein. Es kann buchstäblich nichts passieren, womit sich das Prinzip widerlegen lässt: Wir lassen es erst gar nicht zur Widerlegung zu.
In der Philosophie bezeichnet man Regeln, die nicht erst auf Grund irgendeiner Interaktion mit der Welt aufgestellt werden, sondern bereits »vor aller Erfahrung«, von vornherein, gültig sind, mit dem lateinischen Ausdruck »a priori«. Man kann große Teile der neuzeitlichen Philosophie als den Versuch umschreiben, Sätze zu finden, die einen Informationsgehalt haben und zugleich a priori gültig sind. Solche Sätze wären zwangsläufig der Kern jeder vernünftigen und wissenschaftlichen Weltsicht, da es definitionsgemäß nichts gibt, was man tun könnte, um sie zu widerlegen. Daran, dass die Philosophie bis heute putzmunter ist, bemerken wir allerdings, dass dieses Ziel offensichtlich nach wie vor nicht erreicht wurde.
Ob das Alibi-Prinzip wirklich im engsten philosophischen Sinne a priori ist, hängt davon ab, ob man akzeptiert, dass eine Regel, die implizite Grundlage all unseres Alltagshandelns ist, bereits »vor aller Erfahrung« gültig ist. Immerhin ist Teilnahme am Alltagsleben ja auch eine Erfahrung, die man erst einmal machen muss. So oder so führt uns das Alibi-Prinzip eine Schlüsselerkenntnis der neuzeitlichen Weltsicht vor: Zwar hat all unser Wissen irgendwie mit der Welt zu tun, aber dennoch gibt es offensichtlich Wissen, das wir nicht erst aus Beobachtungen der Beschaffenheit der Welt generieren müssen, um sicher über es zu verfügen.
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