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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Der Satz vom Igel: Ist Mathematik schuld am Bad-Hair-Day?

Deshalb sitzen die Haare niemals perfekt: Das Hairy-Ball-Theorem erklärt, warum man niemals alle Wirbel wegbekommt – und welcher Versuchsaufbau für die Kernfusion geeignet ist.
Lama mit Wirbel in den Haaren

Dass Mathematik schuld am schlechten Wetter sein kann, habe ich bereits in der ersten Folge dieser Kolumne erklärt. Das Fach macht sich bei einigen aber nun vielleicht noch unbeliebter. Es sagt nämlich auch etwas über Frisuren aus: Laut einem Satz aus der Topologie ist es unmöglich, die Haare so zu kämmen, dass kein Wirbel entsteht.

Doch anstatt sich darüber zu ärgern, sollte man lieber bewundern, wie sich extrem abstrakte Ideen auf alltagsnahe Situationen auswirken. Denn wer hätte schon gedacht, dass komplexe topologische Konzepte wie Tangentialräume, Euler-Charakter und Homotopien etwas über unsere Frisur aussagen? Und tatsächlich lassen sich weitere Analogien finden: Aus dem so genannten Satz vom (gekämmten) Igel folgt nämlich auch, dass es auf der Erde immer einen Ort gibt, an dem es vollkommen windstill ist. Oder dass man für die Kernfusion einen donutförmigen Aufbau braucht. Im Übrigen hat der Satz auf Englisch den amüsanten Namen »hairy ball theorem«, was für viele Wortspiele sorgt.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Wer schon einmal etwas von Topologie gehört hat, mag von dem Ergebnis überrascht sein. Denn das Gebiet zählt zu den abstraktesten der Mathematik. Die Disziplin ähnelt der Geometrie, die alle Details übersieht. Die genaue Gestalt einer Figur spielt keine Rolle; Objekte gelten als gleich, wenn man sie ineinander umformen kann, ohne dass man sie zerreißt oder zusammenklebt. Ein berühmtes Beispiel dafür sind eine Tasse und ein Donut, die für Topologen identisch sind: Beide besitzen exakt ein Loch, weshalb man sie ineinander umformen kann. Anders hingegen ein Brötchen, das man zu einem Ei oder einer Laugenstange formen kann, nicht aber zu einem Bagel oder einer Brezel.

Beides hat genau ein Loch | Durch einfaches Kneten kann man eine Tasse zu einem Donut verformen. Darum sind beide Objekte topologisch gesehen gleich.

Doch was haben Haare damit zu tun? Wenn jemand kurze, glatte Haare hat, ähnelt die Frisur einem Vektorfeld: Jeder Punkt beschreibt einen kleinen Pfeil, der in eine bestimmte Richtung deutet. Ein typisches Beispiel für ein Vektorfeld ist die Windrichtung: An jedem Ort auf unserem Planeten kann man diese bestimmen. Trägt man die Pfeile auf einer Karte auf, ähnelt das Ergebnis einem haarigen Ball, etwa einer Kokosnuss. Nun sagt der Satz vom Igel Folgendes aus: Auf einer Kugel kann es kein stetiges Vektorfeld geben, das nirgendwo null ist. Oder anders ausgedrückt: Jeder stetig gekämmte Mensch hat an mindestens einem Punkt eine Glatze.

Um zu verstehen, wie das Ergebnis zu Stande kommt, erweist sich die Analogie eines windigen Planeten als am anschaulichsten. Stellen Sie sich vor, Sie wandern jeweils ostwärts entlang der nördlichen und südlichen Polarkreise, wobei in beiden Regionen ein unveränderlicher Wind weht, der sich nicht von einer Stelle zur anderen abrupt ändern kann. Sie starten am nördlichen Polarkreis und nehmen wahr, dass der Wind zunächst gegen Ihren Rücken weht, anschließend von links kommt, dann von vorne und schließlich von rechts. Wenn Sie an den Startpunkt zurückkehren, bläst er Ihnen wieder in den Rücken. Für Sie hat sich der Wind also während des Wegs gedreht – und zwar im Uhrzeigersinn.

Wind fegt über die Erde

Nun fliegen Sie zum südlichen Polarkreis und umrunden auch da den windigen Planeten. Sie starten wieder mit dem Wind im Rücken, doch dann weht er zunächst von rechts, bevor er Sie von vorne und schließlich von links erreicht. Auch in diesem Fall hat sich die Windrichtung gedreht – allerdings entgegen dem Uhrzeigersinn.

Windrichtung Nord- versus Südpol

Mit dieser Feststellung ist man schon fast am Ziel! Die Windrichtung kann sich entlang eines Rundwegs nur um ein ganzzahliges Vielfaches von 360 Grad drehen, da der Wind sonst am Start- und Endpunkt (die ja gleich sind) in unterschiedliche Richtungen wehen müsste. Nun muss man sich nur noch vor Augen führen, was es bedeutet, wenn ein Vektorfeld stetig ist: Es darf seine Ausrichtung nicht ruckartig ändern. Dreht sich der Wind also genau einmal, während man einen bestimmten Rundweg geht, dann ist das ebenfalls der Fall, wenn man ein wenig vom abgelaufenen Pfad abweicht. Tatsächlich muss die Anzahl der vollständigen Rotationen des Winds für jeden geschlossenen Weg gleich sein. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist entweder das Vektorfeld nicht stetig oder an einer bestimmten Stelle null.

In unserem Beispiel variiert die Windrichtung entlang des nördlichen und südlichen Polarkreises zwar jeweils um den gleichen Wert, allerdings mit unterschiedlichem Vorzeichen: Im ersten Fall dreht sich die Windrichtung mit, im zweiten entgegen dem Uhrzeigersinn. Das heißt, einmal dreht er sich um 360 Grad und einmal um −360 Grad – was einen Winkelunterschied von 720 Grad macht. Wenn das Vektorfeld also stetig sein soll, muss es an mindestens einem Punkt null sein. Eine solche Stelle kommt in einem stetigen Vektorfeld meist einem Wirbel gleich.

Satz vom Igel für die Kugel

Meteorologisch gesehen bedeutet das, dass es immer irgendwo auf der Welt einen Wirbelsturm gibt, in dessen Auge es vollkommen windstill ist. Man kann allerdings zeigen, dass das nicht für eine Donutoberfläche gilt. Denn wie bereits erwähnt, unterscheiden sich eine Kugel und ein Torus (so der mathematische Begriff) drastisch voneinander. Wenn es einen torusförmigen Planeten geben sollte, dann könnte dort der Wind überall wehen, ohne dass notwendigerweise an irgendeiner Stelle ein Wirbelsturm entsteht.

Satz vom Igel für den Torus

Tatsächlich hat der Satz weitere praktische Konsequenzen, die über das bloße Haarekämmen hinausgehen. Für die Kernfusion braucht man beispielsweise starke Kräfte, die dem Druck eines erhitzten Plasmas standhalten. Da es bisher keine geeigneten Materialen dafür gibt, besteht ein Ansatz darin, die Teilchen durch ein starkes Magnetfeld zusammenzuhalten. Ein sphärischer Aufbau wäre zunächst am naheliegendsten, doch wegen des Satzes vom Igel ist das Magnetfeld an einer Stelle zwingend null – somit könnten die Teilchen dort entweichen. Das ist der Grund, warum die Plasma-Experimente eine donutförmige Struktur haben.

Um am Ende ganz ehrlich zu sein: Wenn die Haare schlecht liegen, kann man der Mathematik nicht wirklich die Schuld zuschieben. Denn streng genommen erfüllt unser Kopf nicht die nötigen Voraussetzungen für den Satz vom Igel. Zum einen haben wir schlicht zu wenige Haare – in der mathematischen Welt muss jeder Punkt einer Oberfläche von einem Vektor besetzt sein. Zudem ist weder unser Kopf noch der daran hängende Körper eine (topologische) Kugel, da wir Öffnungen wie Mund, Ohren- und Nasenlöcher und so weiter besitzen. Dennoch ist es in meinen Augen eine kreative Entschuldigung, wenn man mal wieder einen »Bad-Hair-Day« hat.

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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