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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Sonntagsfrage und einer peinlichen Wahlprognose

Bei der Vorhersage von Wahlergebnissen kann man vieles falsch machen und trotzdem richtigliegen. Wie das die Meinungsforschung voranbrachte, erzählen Hemmer und Meßner.
Franklin D. Roosevelt um das Jahr 1936

Im Herbst ist es wieder so weit. In Deutschland wird ein neuer Bundestag gewählt. Und bis dahin erreichen uns beinahe täglich neue Umfragen: »Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?« Aus den Medienberichten und dem Wahlkampf ist die Sonntagsfrage oder Wahlabsichtsfrage nicht mehr wegzudenken. Sie ist die Königsdisziplin der Demoskopie.

Ihre eigentliche Geschichte beginnt mit einem Desaster und der süffisanten Wette eines berühmten Demoskopen. Die Wochenzeitung »The Literary Digest« hatte es sich ab 1916 zur Aufgabe gemacht, unter allen US-Präsidentschaftskandidaten den Wahlgewinner vorherzusagen. Und das tat sie anfangs mit großem Erfolg: Mit Hilfe ihrer verschickten Fragebogen identifizierte sie bei fünf Wahlen den kommenden Präsidenten. Und dann kam das Jahr 1936. Der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt und der republikanische Herausforderer Alf Landon standen zur Wahl. »The Literary Digest« sandte wieder Millionen Umfragebogen aus, und mehr als zwei Millionen fanden ihren Weg ausgefüllt zurück in die Redaktion – mit einem eindeutigen Ergebnis. Der Wahlsieg werde an Alf Landon gehen, verkündete die Zeitschrift in der Ausgabe vom 31. Oktober, nur wenige Tage vor der Wahl.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Die Umfrage der Wochenzeitung rief George Gallup auf den Plan. Der New Yorker Journalismus-Professor und Gründer eines Meinungsforschungsinstituts wettete, dass er den Ausgang der Wahl mit einer mündlichen Befragung besser voraussagen könne als »The Literary Digest«. Und Gallup ging sogar noch einen Schritt weiter und kündigte in einem Leserbrief an, dass die Vorhersage der Zeitung falsch sein würde. Er hatte nämlich erkannt, dass den Umfragen des »Literary Digest« ein Stichprobenfehler zu Grunde lag. Die Menschen, die an der Umfrage teilnahmen, bildeten keinen Querschnitt des Wahlvolks. Und dieser Konstruktionsmangel ließ sich auch nicht dadurch beheben, dass man Millionen von ihnen befragte. Mit Hilfe seiner eigenen Daten, die aus der Befragung von wenigen zehntausend Menschen stammten, konnte Gallup sogar den Fehler der Zeitung reproduzieren: Er sagte die (falsche) Vorhersage der Zeitung korrekt vorher.

George Gallup | An dem von ihm gegründeten American Institute of Public Opinion entwickelte er die Gallup Poll, die zum Vorbild für politische Meinungsumfragen in zahlreichen Ländern wurde.

Gewinner dieser Präsidentschaftswahl war somit nicht nur Franklin D. Roosevelt, der seine Präsidentschaft mit großem Abstand vor Landon verteidigte, sondern auch Gallup. Die Zeitschrift dagegen erholte sich von diesem Desaster nicht mehr und wurde nur zwei Jahre später eingestellt. Die »Gallup-Umfrage« steht seither für exakte Meinungsumfragen auf statistischer Grundlage. So ging die US-Präsidentschaftswahl 1936 in die Geschichte ein als Beginn der modernen wissenschaftlichen Meinungsforschung.

Mythos Gallup?

Wie so oft in der Geschichte lässt sich die Sache mit dem genauen Ursprung nicht so einfach klären. Fest steht, dass Gallup die Meinungsumfrage wenn auch nicht erfunden, so doch sehr erfolgreich vermarktet hat. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren wurden Umfragen auf sozialwissenschaftlich-empirischer Basis in der Marktforschung und der Werbepsychologie eingesetzt. Gallups Leistung bestand vor allem darin, als Erster systematisch die Methoden der Marktforschung auf die Politik zu übertragen. Umtriebig wie er war, gründete er in mehreren Ländern Umfrageinstitute – die heute noch nach ihm benannt sind.

Meinungsforschung in Deutschland

In Nazi-Deutschland hatte die Meinungsforschung einen schweren Stand. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sie sich – maßgeblich gefördert durch die westlichen Alliierten, denen die Demoskopie als »demokratische Wissenschaft« galt. Eine Perspektive, an deren Entstehen Gallup tüchtig mitgewirkt hatte. Etwa mit einem 1940 erschienenen Bestseller (»The Pulse of Democracy«), in dem er die Meinungsforschung als Mittel präsentierte, mit dem Bürgerinnen und Bürger in einen direkten Dialog mit der Politik treten könnten.

Und so gründeten sich bereits kurz nach Kriegsende einige der Umfrageinstitute, deren Namen heute noch geläufig sind. Das erläutert Anja Kruke, Historikerin und Leiterin des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung, in ihrem Buch »Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien, 1949-1990«.

Ihre Premiere erlebte die Sonntagsfrage bereits zur ersten Bundestagswahl im Jahr 1949, allerdings noch nicht als medial inszeniertes Kopf-an-Kopf-Rennen. Denn die ersten politischen Umfragen wurden von der CDU und Konrad Adenauer in Auftrag gegeben. Dass die Medien ihre eigenen Daten erhoben und für die Berichterstattung verwendeten, begann erst in den 1960er Jahren. Seit 1976 gibt es die Sonntagsfrage wöchentlich.

Der Vorwurf der Manipulation

Eine Debatte durchzieht die Geschichte der Demoskopie: die Frage nach der manipulativen Kraft der Umfragen. Inwiefern beeinflussen sie selbst das Ergebnis, das sie vorhersagen wollen? Wissenschaftlich lässt sich ihr Einfluss auf politische Entscheidungen nur schwer belegen, weshalb bloß wenige aussagekräftige Studien erschienen sind. Was es gibt, sind theoretische Überlegungen.

Laut der »Bandwagon-Hypothese« beispielsweise erfahren erfolgreich wirkende Parteien auf Grund dieser Wahrnehmung zusätzliche Unterstützung in der Wählerschaft – von Menschen, die sinnbildlich auf den fahrenden Zug aufspringen (englisch: »to jump on the bandwagon«). Das gegenteilige Argument, die »Underdog-Hypothese«, besagt, dass der erwartete Gewinner Stimmen zu Gunsten scheinbarer Verlierer einbüßt.

Wer zuletzt lacht ... | Der letzte Redakteur des »Literary Digest«, Wilfred Funk, amüsiert sich über den kolossalen Patzer der Umfrageinstitute im Jahr 1948. Sie hatten einen Sieg Deweys vorhergesagt, und die »Chicago Tribune« verkündete ihn sogar in ihrer legendären falschen Schlagzeile. Tatsächlich musste Dewey seine Niederlage einräumen, wie die Zeitung in Funks Händen zutreffend schreibt.

Wird es knapp bei einer Prozenthürde, wird häufig mit der »Fallbeil-Hypothese« argumentiert: Die Wählerschaft will, nach dieser These, ihre Stimme nicht verschenken und wählt daher keine Partei, die an der Sperrklausel des Wahlsystems zu scheitern droht. Allerdings gilt umgekehrt die These der »Coalition Insurance«: Wählerinnen und Wähler größerer Parteien leihen einem potenziellen (kleinen) Koalitionspartner ihre Stimme, wenn dieser laut Umfrage an der Sperrklausel zu scheitern droht.

Auch Gallup erlebte ein Umfragedesaster

Die Thesen schließen sich gegenseitig aus und helfen vor allem den Parteien, ihr Wahlergebnis im Nachhinein zu interpretieren. Sie beweisen hingegen nicht, dass die Umfragen einen tatsächlichen Einfluss auf das Wahlverhalten hatten. Was die Geschichte der Meinungsforschung auch gezeigt hat: Falsche Vorhersagen wird es immer wieder geben. Das musste auch Gallup schmerzhaft erleben.

Zwölf Jahre nach seinem Triumph über »The Literary Digest« erlebte Gallup selbst ein Umfragedesaster. »Dewey defeats Truman« titelte 1948 der »Chicago Daily Tribune«, nachdem Gallup den Wahlsieg des republikanischen Herausforderers Thomas Dewey vorausgesagt hatte. Doch es kam anders: Harry Truman feierte einen klaren Wahlsieg und blieb US-Präsident.

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