Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines Wunderpredigers, der eine uralte Masche nutzte
Die Geschichte kann so einiges lehren. Dass die Menschen dadurch schlauer werden und nicht immer wieder in dieselben Fallen tappen, darf allerdings bezweifelt werden. Man nehme zum Beispiel die Geschichte von Alexander von Abonuteichos. Er machte sich vor mehr als 1800 Jahren die Leichtgläubigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner eines kleinen Küstenstädtchens zu Nutze.
Die Sache begann mit einer Bronzetafel, die gegen Mitte des 2. Jahrhunderts in Chalkedon – damals war es eine kleinasiatische Hafenstadt, heute ist es ein Teil Istanbuls – aufgefunden wurde. Die Tafel kündete davon, dass in Abonuteichos, einem Ort an der Schwarzmeerküste, ein Gott gemeinsam mit seinem Vater Apollon ankommen werde, um die Stadt in Besitz zu nehmen. Dieser sollte Asklepios sein, der griechische Gott der Heilkunst. Um ihm entsprechend huldigen zu können, fingen die Bewohner an, einen Tempel für seine Ankunft zu bauen.
Ein Gott erscheint, wie Gott ihn schuf
Und tatsächlich, eines Tages erschien auf dem Markt der Stadt ein Mann. Bis auf einen goldenen Gürtel, der sein Gemächt bedeckte, war er nackt. Als er begann, in unverständlicher Sprache zu predigen, liefen die Leute zusammen, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Sie verstanden zwar nicht, was er von sich gab, doch als sie den Namen Asklepios heraushörten, dämmerte ihnen: Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen!
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Der geheimnisvolle Mann zog zur Baustelle des Tempels, die Menge folgte ihm. Dort angekommen, stellte er sich in eine Wasserpfütze, griff plötzlich ins dreckige Wasser und förderte ein Gänseei zu Tage. Er öffnete es vorsichtig, und siehe da, aus dem Ei schlüpfte eine kleine Natter, in der die Menschen sogleich den wiedergeborenen Asklepios erkannten. Jetzt war jedem klar: Die Weissagung hatte sich bewahrheitet!
Der Prophet des Asklepios nistet sich ein
Nach diesem beeindruckenden Schauspiel vergingen einige Tage, die der Prophet des Asklepios dazu nutzte, es sich in einer kleinen Hütte gemütlich zu machen. Dort thronte er im Dunklen, gekleidet in weitem Gewand, auf das geheimnisvolle Zeichen gestickt waren.
Die erst wenige Tage zuvor geschlüpfte Schlange war mittlerweile auf mehrere Meter herangewachsen und hatte einen Menschenkopf. Damit aber nicht genug: Sie sprach jetzt auch – und das Erste, was die Leute aus ihrem Mund vernahmen, war: »Glykon bin ich, Enkel des Zeus, ein Licht für die Menschen!«
Die Menschen rissen sich nun darum, den Propheten und die sprechende Schlange zu sehen. Sie drängten sich in die Hütte, die nun vorsorglich mit separaten Ein- und Ausgängen versehen wurde, um so vielen Menschen wie möglich den Blick auf das Spektakel zu ermöglichen.
Alles nur Theater!
Leider war all das nur ein ausgeklügeltes Theaterspiel: Die Bronzetafel war vom Propheten selbst vergraben worden, das Gänseei war präpariert, die ausgewachsene Schlange schon vorher besorgt. Der menschliche Kopf war aus einer Art Pappmache gefertigt worden, und die Stimme verlieh ihr ein Freund des Propheten.
Wer aber war nun dieser ominöse Prophet? Wie uns sein Biograf Lukian (er lebte im 2. Jahrhundert) erklärt, hieß er Alexander, war tatsächlich in Abonuteichos geboren und hatte wahrscheinlich eine Ausbildung als Arzt genossen – etwas, was zu jener Zeit allerdings mehr Wunderheiler als Mediziner bedeutete. Und: Er war ein Schüler des Philosophen Apollonius von Tyana (40–120). Mit ihm reiste er durch die Lande und ließ sich auch spirituell ausbilden. Ohne Zweifel eine gute Vorbereitung für all das, was kommen sollte.
Denn Glykon, die Schlange des Propheten, wurde kurz darauf im fertig gebauten Tempel als Orakel installiert. Gleichzeitig erklärte man den Tempel zur Heilstätte. Schnell sprach sich herum, dass es in Abonuteichos einen Wunderort mit einem Wundertier und einem Wunderprediger gab. Und bald waren Alexander und seine Schlange weit über die Stadt hinaus bekannt.
Die Menschen kamen aus der gesamten römischen Welt nach Abonuteichos. Für die Stadt war das Orakel ein Segen, und zu Ehren Glykons – der auch Ion genannt wurde – erhielt der Ort kurzerhand den neuen Namen Ionopolis. Selbst Münzen mit dem Bildnis des Glykon wurden geprägt. Aus dem ehemals fahrenden Wunderheiler Alexander war innerhalb kürzester Zeit ein einflussreicher Mann geworden.
Erfolg mit einem unschlagbaren Leistungspaket
Der Historiker Angelos Chaniotis von der Princeton University erklärt den Erfolg Alexanders – abgesehen vom relativ günstigen Preis pro Befragung des Orakels – mit etwas, was er als unschlagbares Leistungspaket bezeichnet: die Heilung von Krankheiten durch Asklepios, das Deuten der Zukunft durch Glykon und schließlich die Befreiung von der Todesangst. Letzteres versprach die Einweihung in einen Mysterienkult, der ebenfalls in Abonuteichos eingerichtet wurde. Damit deckte Alexander gleich drei Dinge ab, die Menschen üblicherweise suchen. Sein Erfolgsrezept war es eben, die richtige Mischung anzubieten. Er vermengte all jene Kulte, die er im Lauf seiner Reisen kennen gelernt hatte. Durch leichte Anpassungen versprach er den Menschen genau das, was sie sich ersehnten.
Natürlich gab es auch Skeptiker, Neider oder andere Gegner. Doch die hielt sich Alexander bis ans Ende seines Lebens durch die Unterstützung wichtiger Stadtbeamter vom Leib. Denn auch diese profitierten vom berühmten Orakel ihrer Stadt und hatten daher großes Interesse daran, dass das Glykon-Orakel reibungslos arbeitete.
Wie es mit Glykon und Alexander zu Ende ging
Laut Alexanders eigener Weissagung hätte er mit 150 Jahren vom Blitz getroffen werden müssen. Das wurde durch ein faulendes Bein, das ihn schließlich mit nicht ganz 70 Jahren dahinraffte, vereitelt.
Während Alexanders Biograf Lukian – der ihm nicht sonderlich wohlgesinnt war – frohlockte, dass mit dessen Tod auch der Glykon-Kult ein Ende fand, bestätigen dies die Münzfunde nicht. Noch bis in die 250er Jahre wurden Prägungen mit der Glykon-Schlange ausgegeben. Funde von solchen Münzen vor allem im Donauraum deuten darauf hin, dass sich der Kult noch einiger Beliebtheit erfreute – auch außerhalb Anatoliens.
Und obwohl heute wohl niemand mehr dem Glykon-Kult anhängt – Wundermittel und Prophezeiungen aller Art funktionieren immer noch ziemlich gut. Was wohl schon im 2. Jahrhundert ein Erfolgsgarant für einen Kult war, ist es auch heute noch: die ständige Angst der Menschen vor ihrer Vergänglichkeit.
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