Psychologie mit Ernst: Macht Macht blind?
Macht korrumpiert die Mächtigen – ist das mehr als eine Binsenweisheit? Oder war der Filmmogul Harvey Weinstein schon immer das Charakterschwein, das durch seine extreme Schamlosigkeit und Brutalität im Umgang mit Frauen zum eigentlichen Urheber der weltweiten #MeToo-Bewegung wurde? Und, um einen krassen Fall aus der politischen Sphäre heranzuziehen: Wie kann aus einem charismatischen, idealistischen Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft ein monströser Diktator werden, so wie der geschasste Robert Mugabe in Simbabwe?
Für Psychologen stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie eine typische Genese, eine Entwicklungsgeschichte, die erklären könnte, wie genau Macht einen Menschen zum Schlechteren verändert? Weinstein und Mugabe sind keine Einzelfälle, sondern lediglich prominente Beispiele dafür, dass manche Mächtigen glauben, sich nahezu alles erlauben zu können. Und wie sie – zumindest erstaunlich lange – ungestraft damit durchkommen. Ihre Geschichten und die ihrer Opfer illustrieren, welche fatalen Folgen jene Macht haben kann, die Alphatiere in Politik, Wirtschaft und Großorganisationen allerorts ausüben.
Warum aus unbestritten intelligenten, kreativen und erfolgreichen, mitunter sogar liebenswürdigen Menschen in allzu vielen Fällen rücksichtslose und moralblinde Monster werden – das ist das Thema des Sozialpsychologen Dacher Keltner, der an der University of California in Berkeley lehrt und forscht. Er ist auf ein Phänomen gestoßen, das er »das Machtparadox« nennt. In seinem gleichnamigen Buch (in deutscher Übersetzung 2017 bei Campus erschienen) beschreibt Keltner das rapide Verkümmern all der positiven Fähigkeiten und Eigenschaften, die man auf dem Weg zur Macht braucht und erfolgreich einsetzt: Einfühlungsvermögen, Zuhörenkönnen, Sensibilität für kritisches Feedback, Offenheit für die Bedürfnisse anderer.
Mächtige verhalten sich nach Erreichen der Machtposition oft so, als hätten sie ein Gehirntrauma erlitten
Nach zwei Jahrzehnten Forschung zu diesem Phänomen konstatiert Keltner: Mächtige verhalten sich nach Erreichen der Machtposition oft so, als hätten sie ein Gehirntrauma erlitten. Plötzlich sind alle positiv-sozialen Eigenschaften wie weggeblasen, und ein impulsives, rücksichtsloses Verhalten bricht sich Bahn. Quasi von heute auf morgen verlernen Mächtige zuzuhören, sie können sich nicht mehr vorstellen, dass andere Recht haben könnten, und sie sind blind und taub für kritisches Feedback geworden. Sie scheinen die Fähigkeit verloren zu haben, andere Menschen zu »lesen«, also ihre Gesten zu verstehen, ihre Gefühle zur Kenntnis zu nehmen und richtig zu interpretieren.
Und tatsächlich: Keltners Hypothese vom Gehirntrauma ist inzwischen vielfach durch die Untersuchung von Gehirnfunktionen und -anatomie bestätigt worden. So hat der Psychologe Sukhvinder Obhi von der McMaster University in Ontario in neurologischen Studien herausgefunden, dass die Fähigkeit, das Ausdrucksverhalten anderer Menschen zu »spiegeln«, bei Mächtigen deutlich beeinträchtigt ist. Menschen besitzen in der Regel das Vermögen, die Gefühle und die Körpersprache anderer zu lesen und sozusagen »nachzufühlen«. Schon deren Anblick reicht, und bei ihnen selbst werden die entsprechenden Gehirnareale aktiv. Nicht (mehr) so bei den Mächtigen: Diese Basisfähigkeit der Empathie scheint wie abgeschaltet oder zumindest betäubt zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Untergebene oder Abhängige dazu neigen – da sie ja sehr auf das »richtige Lesen« angewiesen sind –, den Vorgesetzten oder »Herrscher« ihrerseits zu spiegeln. Falls tatsächlich noch Reste von empathischer Wahrnehmungsfähigkeit beim Mächtigen vorhanden sein sollten, erhält er wegen dieser Spiegelbilder weniger ehrliches Feedback. Der Kaiser erkennt seine Nacktheit nicht.
Mächtige kennen nur noch ihre eigene Perspektive
Der Wirtschaftspsychologe Adam Galinsky und sein Team haben das Phänomen in einem Experiment eindrucksvoll nachgewiesen. Mächtige und nichtmächtige Versuchspersonen wurden aufgefordert, sich den Buchstaben »E« auf die Stirn zu malen, und zwar so, dass ein Gegenüber den Buchstaben erkennen kann. Die meisten »normalen« Menschen lösten diese Aufgabe korrekt. Mächtige jedoch zeichneten den Buchstaben dreimal so häufig falsch, also für den Betrachter seitenverkehrt auf die Stirn. Sie kennen offenbar nur noch ihre eigene Perspektive.
Nun könnte man fragen: Wer ist im Sinne dieser Forschung »mächtig« – und wer nicht? Man kann natürlich Menschen untersuchen, die eindeutig hierarchische Macht besitzen, also hohe administrative oder entscheidungsbefugte Positionen einnehmen, Chefs oder Bosse eben. Aber wie viele Studien zeigen, reicht manchmal auch schon kurzzeitig verliehene und keineswegs weit gehende Macht aus, um die beschriebenen Veränderungen zu erzeugen, vor allem die Ausschaltung des Spiegelns. Selbst wer nur für kurze Zeit (in Experimenten zudem!) andere herumkommandieren darf, zeigt deutlich Anzeichen für verminderte Empathie. Jedoch klingt dieser Effekt schnell ab, wenn die Macht wieder entzogen wird. So richtig blind und taub für die Bedürfnisse und Gefühle anderer wird man erst, wenn die Macht groß und andauernd ist – nicht das schlechteste Argument für demokratische Strukturen.
Eins könnte die Mächtigen ein bisschen entlasten: Zu ihren Aufgaben gehört es ja meistens, Ergebnisse zu bringen, Ziele zu erreichen, sich dafür auf das Wesentliche zu konzentrieren und periphere Informationen (etwa die Befindlichkeit anderer) auszublenden. Oder, wie es die Sozialpsychologin Susan Fiske ausdrückt: Macht reduziert die Notwendigkeit, die anderen ständig »lesen« zu müssen. Allerdings führt das auf Dauer eben zu Blindheit, Hybris und kontraproduktiven autokratischen Verhaltensweisen, und so weit sollte die Entlastung dann doch nicht gehen. Macht macht nicht nur blind, sondern führt langfristig auch zum Realitätsverlust. Oder ganz schlicht: Macht macht dümmer.
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