Nachruf: Mathematiker aus Leidenschaft
Friedrich Hirzebruch ist tot. Der Nestor der deutschen Nachkriegsmathematik starb bereits am Pfingstsonntag im Alter von 84 Jahren.
Nach einigen Monaten beim Militär und Kriegsgefangenschaft studierte der junge Hirzebruch Mathematik in Münster und Zürich. Sein Vater habe das Fach am Gymnasium unterrichtet, erzählte er einmal in einem Interview: "Ich konnte mit ihm immer diskutieren. Ich hatte Freude daran zu verstehen, wie man Zahlen in Zahlensysteme einteilt, warum die Wurzel aus 2 irrational ist. Insofern gab es für mich gar keine andere Berufsmöglichkeit."
1952 ging Hirzebruch für zwei Jahre in die USA, an das renommierte Institute for Advanced Studies nach Princeton. Dort begegnete er mehrfach Albert Einstein. Kennen gelernt habe er ihn nicht, so Hirzebruch. Einstein "saß immer mit Gödel zusammen, und die beiden diskutierten ununterbrochen." Auch Hirzebruch tauschte sich gerne und oft mit Kollegen aus der Wissenschaft aus. Wie wichtig das sei, habe er in Princeton begriffen, sagte er später einmal. Dort formulierte der junge Deutsche eine zukunftsweisende Verallgemeinerung des Satzes von Riemann-Roch aus der Funktionentheorie, was ihm zumindest in Fachkreisen einige Bekanntheit eintrug.
Schon mit 28 Jahren trat Hirzebruch eine Professur in Bonn an, wo er bis zu seiner Emeritierung bleiben sollte. Dort wollte er etwas aufbauen, was dem berühmten Institut in Princeton nachstreben sollte, und lud sofort Gastprofessoren ein. Da er immer wieder Rufe anderer Universitäten erhielt, konnte er in den Bleibeverhandlungen mit dem Ministerium zusätzliche Gelder für die Gäste aus aller Welt durchsetzen. So entwickelte sich Bonn zu einem international anerkannten Zentrum für Algebraische Geometrie und Topologie, das mithalf, die mathematischen Grundlagen für das derzeit gültige Standardmodell der Theoretischen Physik zu legen.
Um Hirzebruchs Errungenschaften in der Mathematik verstehen und würdigen zu können, sind umfangreiche Fachkenntnisse vonnöten. Wer nicht einige Semester Funktionentheorie, Algebraische Geometrie und Topologie studiert hat, wird kaum etwas davon verstehen. Der Berliner Mathematikprofessor Günter Ziegler erinnert sich: 1982 habe Hirzebruch bei einem Vortrag lebhaft über seine Forschung berichtet, "Ungleichungen zwischen Chern-Zahlen, Konstruktionen von Ball-Quotienten aus Geradenarrangements, komplexe Tori, und so weiter. Ich studierte damals gerade anderthalb Jahre, verstand kein Wort – und war fasziniert". Dennoch: "Auch mir als naivem Drittsemesterstudenten war klar, dass hier ein ganz Großer seines Fachs spricht."
1969 gründete Hirzebruch den Sonderforschungsbereich "Theoretische Mathematik", aus dem elf Jahre später – längst überfällig – das Max-Planck-Institut für Mathematik hervorging. Der Bonner Professor leitete es bis Mitte der 1990er Jahre. Auch wenn das Institut in Princeton natürlich um einiges größer und berühmter ist, gelang es Hirzebruch dennoch, aus einem Fachbereich mit gerade einmal zwei Lehrstühlen im damals verschlafenen Bonn eine international anerkannte Forschungsstätte für Mathematik aufzubauen. Nebenbei fand der umtriebige Mathematiker die Zeit, zweimal als Vorsitzender der Deutschen Mathematiker Vereinigung (DMV) zu fungieren. Beim ersten Mal 1962 kämpfte er darum, die Community in den beiden deutschen Staaten zusammenzuhalten. Beim zweiten Mal durfte er sie 1990 wieder zusammenführen.
Unvergessen ist Hirzebruchs Rede, mit der er 1998 den Internationalen Mathematikerkongress (ICM) in Berlin eröffnete, der nach einer Pause von 94 Jahren erstmals wieder in Deutschland stattfand. Der Bonner erinnerte an die Verfolgung jüdischer Mathematiker in den 1930er und 1940er Jahren. Viele der besten Wissenschaftler mussten fliehen und ließen die ehemalige mathematische Weltmacht Deutschland in Trümmern zurück. Das damals geschehene Unrecht dürfe nie vergessen werden, appellierte Hirzebruch an das auffalend stille Auditorium. Wie kein anderer hatte er das Recht, für die Mathematik in Deutschland zu sprechen.
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