Freistetters Formelwelt: Ein Theorem für Faule
Ich habe in der Schule gelernt, wie man simple Gleichungen mit einer oder auch mehreren Unbekannten löst. Das in diesem Zusammenhang wichtige gaußsche Eliminationsverfahren habe ich aber erst in den Mathematikvorlesungen an der Universität kennen gelernt (dass mein Schulunterricht in Mathematik nicht sonderlich gut war, habe ich in dieser Kolumne schon öfter erwähnt). Ganz besonders beeindruckt hat mich dabei der Satz von Kronecker-Capelli, den man durch diese Formel zusammenfassen kann:
Die Gleichung liefert zwar nicht die Lösung, doch sie macht etwas fast noch Wichtigeres: Sie sagt, ob überhaupt eine Lösung existiert! Angenommen, man hat einen Satz linearer Gleichungen mit mehreren Unbekannten. Also zum Beispiel so etwas wie x + y + 2z = 3, x + y + z = 1 und 2x + y + 2z = 5. Drei Gleichungen mit drei Unbekannten, das sollte kein Problem sein. Und tatsächlich zeigt sich nach kurzer Rechnerei, dass x = 2, y = −3 und z = 2 sein muss.
Was aber, wenn ich die Gleichungen ein wenig verändere, zum Beispiel zu x + y + 2z = 3, x + y + z = 1 und 2x + 2y + 2z = 5? Die Änderung ist minimal, ich habe nur einen einzigen Koeffizienten in der dritten Gleichung ausgetauscht. Und auch wenn es sich jetzt immer noch um drei Gleichungen mit drei Unbekannten handelt, lässt sich auf einmal keine Lösung mehr finden. Und wenn ich die dritte Gleichung zu 2x + 2y + 2z = 2 ändere, gibt es auf einmal wieder eine Lösung, diesmal sogar unendlich viele.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.
Was hier passiert, lässt sich mit dem Satz von Kronecker-Capelli wunderbar zusammenfassen. Mit A und A|b sind die Koeffizientenmatrix und die erweiterte Koeffizientenmatrix des Gleichungssystems gemeint. Es ist ja kein Problem, die drei Gleichungen in Form einer Matrix aufzuschreiben. In unserem Beispiel hätte sie in der ersten Zeile die Einträge (1,1,2), in Zeile zwei steht (1,1,1) und in der letzten Zeile (2,1,2). Die erweiterte Koeffizientenmatrix enthält dann auch noch die rechten Seiten der Gleichungen, also (1,1,2,3), (1,1,1,1) und (2,1,2,5). Mit dem Rang einer Matrix wird – vereinfacht gesagt – bestimmt, wie viele ihrer Zeilen (oder Spalten) linear unabhängig sind.
Wie viel Information steckt im System?
Als ich zuvor das erste Gleichungssystem durch den Austausch eines Koeffizienten verändert habe, wurde die dritte Zeile der Koeffizientenmatrix zum Doppelten der zweiten Zeile. Sie sind demnach nicht mehr linear unabhängig voneinander. Im ersten Fall beträgt der Rang der Matrix 3, im zweiten Fall nur noch 2. Wichtig ist allerdings der Vergleich mit dem Rang der erweiterten Koeffizientenmatrix A|b. Der Satz von Kronecker-Capelli sagt nämlich, dass das Gleichungssystem nur dann lösbar ist, wenn die Ränge der beiden Matrizen übereinstimmen. Das ist im ersten Beispiel der Fall und im zweiten nicht – und deswegen ist das zweite Gleichungssystem nicht lösbar. Im dritten Beispiel habe ich außerdem die erweiterte Koeffizientenmatrix so geändert, dass zwei ihrer Zeilen linear abhängig sind. Jetzt haben beide Matrizen den Rang 2 und das System wird wieder lösbar. Doch weil der Rang kleiner ist als die Zahl der Unbekannten, ist es nicht mehr eindeutig lösbar, und es gibt unendlich viele Lösungen.
Rein anschaulich läuft das Prinzip darauf hinaus, wie viel Information in den einzelnen Gleichungen steckt. Im letzten Beispiel ist die Gleichung x + y + z = 1 zwar formal nicht identisch mit 2x + 2y + 2z = 2. Aber ich kann aus ihr nichts lernen, was nicht auch in den anderen Gleichungen steht. Sie liefert keine neue Information und deshalb besteht mein System mit drei Unbekannten eigentlich nur aus zwei Gleichungen. Es ist unterbestimmt und aus diesem Grund nicht eindeutig lösbar.
Sätze wie der von Kronecker-Capelli sind wunderbar für faule Menschen (wie mich). Man kann damit vorher entscheiden, ob es sich lohnt, mit der Rechenarbeit zu beginnen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben