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Warkus’ Welt: Ist die Menschheit zum Besseren fähig?

Mit Immanuel Kant blickt unser Philosophiekolumnist auf das Ende des Assad-Regimes in Syrien und fragt, welches »Geschichtszeichen« sich in der allgemeinen Freude über die Befreiung verbirgt.
Menschen starren durch Gitterstäbe, im Vordergrund eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch
10. Dezember 2024: Familien harren auf Lebenszeichen ihrer inhaftierten Angehörigen, während das berüchtigte Sednaya-Militärgefängnis am Stadtrand von Damaskus aufgelöst wird.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

In der Nacht zum 8. Dezember 2024 verließ der syrische Diktator Baschar al-Assad das Land, das er 24 Jahre lang unterjocht hatte. Mit der Offensive eines islamistischen Militärbündnisses endete für die Weltpolitik völlig überraschend, die seit 1970 währende Herrschaft eines einzelnen Familienklans, die sich spätestens seit Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 zu einer verbrecherischen Tyrannei entwickelt hatte.

Hunderttausende Unschuldiger hat das Assad-Regime auf dem Gewissen. Sie wurden Opfer von Kriegsverbrechen oder von Folter und Mord in Gefängnissen und Lagern. Der syrische Sicherheitsapparat hatte eine verwickelte Infrastruktur, in der Gefangene häufig zwischen verschiedenen Behörden und Standorten verlegt wurde. Die offiziell zu Verhaftungen berechtigte Justiz und Polizei waren oft gar nicht involviert, der Verbleib der Gefangenen oder auch ihr Tod wurde laut einem Bericht der Vereinten Nationen gegenüber Angehörigen häufig verschwiegen. Manche Gefangene waren seit Jahrzehnten verschwunden. Die französische Nachrichtenagentur AFP berichtete am 9. Dezember, manche der jetzt Befreiten seien noch nicht einmal in der Lage gewesen, ihren Namen zu nennen.

Ein verbrecherischer Herrscher, der seine Untertanen willkürlich foltern und sie in grausamen Verliesen »verschwinden« lässt: Das ist ein archetypisches, buchstäblich mittelalterliches Bild für Ungerechtigkeit und das Böse. (Das Wort »Verlies« kommt von einem mittelhochdeutschen Wort für »verlieren«. Im Französischen heißt es »oubliette«, von »oublier«, vergessen.) Entsprechend ist die Befreiung von widerrechtlich Eingekerkerten ein starkes Bild, das tief im kulturellen Gedächtnis verankert ist. Ludwig van Beethoven setzte es in seiner Oper »Fidelio«, die mit der Öffnung ebensolcher Kerkertüren endet, effektvoll in Szene.

Die Bilder von den Gefangenenbefreiungen, die wir aus Syrien sehen, sind nicht minder gewaltig und bewegend. Kein Wunder also, dass bei aller berechtigten Skepsis, was die Zukunft des Landes angeht, dieser Tage immer wieder eines artikuliert wird: Dies ist ein Zeichen der Hoffnung.

Auch die Französische Revolution begann mit einer Gefangenenbefreiung von welterschütterndem Symbolcharakter – wobei die Bastille 1789 im Gegensatz zu den syrischen Folterkellern fast leer stand. Abgesehen davon, dass die Ereignisse in Syrien also eine tief verankerte kulturelle Symbolik bedienen, können wir einem philosophischen Klassiker eine recht plausible Erklärung dafür entnehmen, wie eine solche Revolution, wie wir sie gerade beobachten konnten, einen besonderen Zeichencharakter entfaltet. In seiner Schrift »Der Streit der Fakultäten« von 1798 behandelt Immanuel Kant die Frage, wohin die Menschheit sich entwickeln wird:

»Das menschliche Geschlecht ist entweder im continuirlichen Rückgange zum Argeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe«

Doch anhand welcher Anhaltspunkte können wir entscheiden, welchen der drei Wege das Schicksal nehmen wird? Denn wenn wir eines über die Geschichte wissen, dann – erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt: »(W)ir haben es mit freihandelnden Wesen zu thun, denen sich zwar vorher dictiren läßt, was sie thun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie thun werden«, schreibt Kant. Und: »Geschäftige Thorheit ist der Charakter unserer Gattung.« Jederzeit können unerwartete Ereignisse eintreten, durch die eine Entwicklung zum Guten oder zum Schlechten sich wieder in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Französische Revolution als geistiges Ereignis

Kant sucht nun in der Geschichte nach einem »Geschichtszeichen«: irgendeine Begebenheit, die darauf hinweist, dass die Menschheit zumindest das Potenzial hat, zum Besseren hin fortzuschreiten. Und diese Begebenheit ist für ihn die Französische Revolution. Allerdings nicht als politisch-militärisches Ereignis mit all seinen Grausamkeiten, sondern als geistiges Ereignis, als die uneigennützige Begeisterung der Masse für die Entwicklung eines Staatswesens hin zu einer republikanischen Verfassung. Deren wichtigster Charakterzug ist für Kant übrigens, »den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden«. Frieden und bürgerliche Freiheit sind für ihn untrennbar miteinander verknüpft.

Vielleicht haben wir ein ebensolches Geschichtszeichen erlebt: die Fähigkeit, uns sogar aus der Ferne und ganz ohne Eigennutz über die syrische Revolution zu freuen – zumindest falls und insofern sie aus Syrien einen republikanischen und friedlichen Staat machen wird und keine aggressive Theokratie. Wenn wir Kant glauben, zeigt unsere Begeisterung für die am Horizont erschienene Möglichkeit eines besseren Syriens womöglich, dass auch die Menschheit im Ganzen besser werden kann. Wenn Spitzenpolitiker angesichts eines solchen welthistorischen Ereignisses allerdings vor allem frohlocken, nun mehr Syrer abschieben zu können, sagt dies auch etwas aus: über den Unwillen, sich die Menschheit wenigstens für den Augenblick einmal als zur Besserung fähig zu denken.

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