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Warkus' Welt: Let's kratz!

Bei verkrustetem Geschirr hilft – Philosophieren! Unser Kolumnist Matthias Warkus zeigt, wie wir durch Abstraktion das Unwesentliche vom Wesentlichen trennen. Ganz ohne Spülbürste.
Zwei verkrustete, dreckige Essteller auf einem Holztisch
Was macht einen Teller aus? Um das herauszufinden, müssen wir zunächst alles entfernen, was nicht »Teller« ist.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Vor vielen Jahren lernte ich in der Bahn eine britische Sprachwissenschaftlerin kennen. Wir kamen ins Gespräch über mein Promotionsvorhaben, das ich gerade begonnen hatte und das bis dahin nur als Entwurfsskizze existierte. Ich erklärte, dass es um den Begriff der Veränderung gehen sollte. An viele Details aus der Unterhaltung erinnere ich mich nicht mehr, aber an einem Punkt sagte ich, vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch: »The goal is to be as abstract as possible.« Das brachte mir eine belustigt hochgezogene Augenbraue und eine ungläubige Nachfrage ein. So abstrakt wie möglich? Wirklich? – Na klar! Genau das liegt einer gängigen modernen Auffassung davon, was Philosophie tut, ja gerade zu Grunde: Man möchte über irgendetwas so abstrakt reden, wie es nur geht.

Nur: Was heißt eigentlich »abstrakt«? Darüber lohnt es sich nachzudenken.

Geht man der Wortherkunft nach, was Sprachwissenschaftler wie auch Philosophen gemeinhin gern machen, stößt man auf das lateinische Verb »abstrahere«. Es bedeutet so viel wie wegziehen, fortschleppen, abhalten, abziehen oder sogar gewaltsam trennen. Einen weiteren Hinweis kann das seit dem Mittelalter etablierte Gegenstück zu »abstrakt« liefern: »konkret«. Dieser Begriff kommt ursprünglich vom lateinischen »concrescere« – zusammenwachsen, sich verdichten, verhärten, gerinnen. Sollten Sie unter Zahnfleischbeschwerden leiden, wird Ihnen das Wort »Konkrement« vielleicht schon einmal beim Arzt begegnet sein. Das Ergebnis des Abstrahierens ist das »Abstrakte«. Der Wortbedeutung nach wird also beim Abstrahieren von etwas Zusammenklebendem oder Verklumptem etwas abgetrennt. Nur: Was genau wird wovon abgetrennt?

Die traditionelle, wie in der Philosophie so oft bei Aristoteles zu Grunde gelegte Vorstellung besagt, dass das Zusammengewachsene, Verklumpte zum Beispiel handfeste Gegenstände des alltäglichen Lebens sind. Von ihnen kratzt man das Irrelevante ab wie festgetrocknete Essensreste von den Esstellern des Vortags. Auf das Abstraktum »Kreis« im geometrischen Sinne käme man dann, indem man von kreisförmigen Objekten wie Tellern, Keksen, runden Bierdeckeln, Kreidekreisen und Bleistiftkreisen all das abzieht, was sie nicht gemeinsam haben.

Klingt plausibel? Ist aber nicht ohne. Das große Problem dieses Ansatzes besteht darin, dass man gewissermaßen schon hineinstecken muss, was man am Ende herausholt. Denn um von all dem abzusehen, was verschiedene kreisförmige Gegenstände nicht gemeinsam haben, muss man ja bereits wissen, was »kreisförmig« heißt.

Daher hat sich in Philosophie und Mathematik eine Theorie entwickelt, die Abstraktion mit Hilfe des Begriffs der Äquivalenzrelation definiert. Erste Ansätze dafür finden sich bei David Hume 1740; mathematisch-logische Form nehmen solche Abstraktionsverfahren seit etwa Mitte der 1880er Jahre an. Der Philosoph Peter Janich (1942–2016) beschrieb das Ganze so: »Abstrakta werden aus Konkreta dadurch gebildet, dass über letztere invariant bezüglich einer Äquivalenzrelation gesprochen wird.« Eine Äquivalenzrelation ist beispielsweise »x ist gleich lang wie y«. Sie ist reflexiv (jeder Gegenstand ist genauso lang wie er selbst), symmetrisch (x gleich lang y => y gleich lang x) und transitiv (x gleich lang y und y gleich lang z => x gleich lang z).

Über konkrete Gegenstände wie Dachlatten, Schranktüren und Kreidelinien invariant bezüglich dieser Äquivalenzrelation zu reden, bedeutet: Man bildet Sätze, deren Wahrheit davon unberührt bleibt, wenn man einen Gegenstand darin durch einen beliebigen gleich langen austauscht: Der Satz »Eine vier Meter lange Dachlatte ist doppelt so lang wie eine zwei Meter lange Dachlatte« bleibt wahr, wenn man ihn umformt in »Eine vier Meter lange Schranktür ist doppelt so lang wie eine zwei Meter lange Kreidelinie«. Hier wurden sogar gleich zwei verschiedene Ersetzungen vorgenommen. Der abstrakte Begriff der Länge ist somit aus einer Relation gewonnen, die sich beschreiben lässt, ohne bereits über den Begriff der Länge zu verfügen – denn um zu entscheiden, ob zwei Gegenstände gleich lang sind, kann man sie einfach aneinanderlegen oder mit einem unskalierten Messschieber vergleichen.

Die berühmteste Anwendung dieser Abstraktionstheorie ist die Gewinnung des Begriffs der natürlichen Zahl aus der Relation der Gleichmächtigkeit von Mengen in der strukturalistischen Mathematiktheorie. Dass zwei Mengen gleich mächtig sind, lässt sich durch Bilden von Paaren ermitteln, ohne dass man dafür bereits zählen können müsste. Der Begriff der Zahl ergibt sich dann durch Abstraktion über diese Äquivalenzrelation.

Doch wie auch immer man sie nun auffasst: Da Abstraktion darauf beruht, von etwas abzusehen und unterschiedliche Gegenstände auf bestimmte gemeinsame Merkmale zu reduzieren, gibt es in der Philosophiegeschichte eine große Tradition der Kritik an unzureichender oder gar falscher Abstraktion. Aber das ist eine eigene Kolumne wert – die nächste nämlich!

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