Warkus' Welt: Die goldene Mitte
Wann ist ein Mensch tapfer? Wenn jemand nicht feige und verzagt handelt, sondern aus gutem Grund und ohne zu zaudern bereit ist, eine Gefahr einzugehen. Allerdings schätzt die Person nicht alle Gefahren völlig gering, empfindet bisweilen auch Angst und agiert keinesfalls so, als sei sie unbesiegbar oder unverwundbar. Sonst wäre ihre Art von Handeln besser mit der ursprünglichen Bedeutung des altmodischen Worts »tollkühn« charakterisiert.
Eine Feuerwehrfrau etwa wünscht man sich tapfer: Wenn es darum geht, eine bewusstlose Person aus einem verqualmten, einsturzgefährdeten Haus zu retten, soll sie wenig Furcht empfinden. Stattdessen soll sie ohne zu zögern ihre Schutzausrüstung anlegen und, auch wenn es ein Risiko für sie bedeutet, hineingehen, ihr Fachwissen und Training zum Tragen bringen, die größten Gefahren vermeiden und ihre Aufgabe gekonnt erledigen. Tollkühnheit ist in derselben Situation hingegen nicht unbedingt wünschenswert: Unsere Feuerwehrfrau sollte sich nicht völlig furchtlos und ungeschützt in die Flammen stürzen, nur um ein Stofftier oder ein Hochzeitskleid zu bergen. Sie soll, in anderen Worten, zwischen Zaudern und Tollkühnheit abwägen und einen Mittelweg finden.
Die Ausgangsfrage war aber, was einen Menschen tapfer macht und nicht bloß eine einzelne Handlung. Wir möchten nicht, dass die Feuerwehrfrau nur in einer einzelnen Situation abwägen kann. Sie soll sozusagen die stehende Fähigkeit oder Disposition dazu haben, bei jedem Einsatz immer wieder die richtige Balance zwischen Angst und Furchtlosigkeit, zwischen Selbstschutz und Risiko zu finden. Dazu muss sie bestimmte Gewohnheiten haben, zum Beispiel regelmäßig gefährliche Einsatzsituationen üben. Dann können wir sie mit Fug und Recht tapfer nennen.
Nach dem ethischen Hauptwerk von Aristoteles, der »Nikomachischen Ethik«, die vermutlich um das Jahr 330 v. Chr. entstanden sein dürfte, ist dies die Definition einer Tugend: eine auf Gewohnheiten basierende Disposition, bestimmte Empfindungen im richtigen Maß zu haben. Dieses richtige Maß liegt immer zwischen zwei Extremen. Tapferkeit findet sich, wie oben besprochen, zwischen Feigheit und Tollkühnheit; Großzügigkeit findet sich zwischen Geiz und Verschwendung; Höflichkeit zwischen Schleimerei und Streitsucht; Gelassenheit zwischen Gefühllosigkeit und Jähzorn; und so weiter. Ein glückliches und gutes Leben besteht in tugendhafter Aktivität.
Tugend ist also definiert über die Fähigkeit, im Empfinden und Handeln eine Mitte zwischen Extremen zu finden. Hier hat die Redensart von der »goldenen Mitte« ihren Ursprung. Allerdings, das erklärt Aristoteles mit Nachdruck, ist diese Mitte kein arithmetisches oder geometrisches Mittel, selbst dort nicht, wo man Extreme halbwegs quantifizieren kann. Die gesunde Mitte zwischen Askese und Völlerei bei der Menge an Nahrung, die man zu sich nehmen sollte, ist etwa für den legendären Schwerathleten Milon von Kroton (6. Jahrhundert v. Chr.) eine andere als für einen Sportanfänger.
Der kanadische Philosoph Yvan Pelletier hat einmal ein anderes Beispiel gegeben: Die Menge, die man bei einer Hochzeitsfeier trinken sollte (wenn man Alkohol trinken darf und will), sei nicht der Mittelwert zwischen »gar nichts« und »bis zum Umfallen«, sondern »so viel, wie es geht, ohne dass es peinlich wird«, denn bei einer Hochzeit soll es denkwürdig überschwänglich zugehen. Hier ist die Mitte also in gewisser Hinsicht ebenfalls schon recht extrem.
Aristoteles’ Konzept unterscheidet sich von anderen ethischen Ansätzen dadurch, dass es kein Entscheidungsverfahren liefert, mit dem wir Handlungen oder Handlungsregeln als gut oder böse klassifizieren können. Die Ethik ist für ihn keine exakte Wissenschaft, sondern vergleichbar mit einem Kunsthandwerk oder einer handwerklich-wissenschaftlichen Disziplin wie der Medizin. Ein guter Mensch mit einem guten und glücklichen Leben ist jemand, der die Disposition hat, im Empfinden und im praktischen, rationalen Abwägen die Mitte zwischen zwei Extremen zu treffen. So wie ein guter Handwerker die Fähigkeit hat, Dinge zu schaffen, bei denen nichts mehr hinzugefügt und nichts mehr weggenommen werden muss.
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