Warkus’ Welt: Die Grenzen der Realität
Als ich im Grundschulalter war, waren »Klein-Fritzchen«-Witze noch groß in Mode. In einem davon ging es um Groß- und Kleinschreibung, in deutschsprachigen Grundschulen seit jeher ein bewegendes Thema. Fritzchen soll den Satz »Die Katze sitzt hinterm Ofen« schreiben und weiß nicht, welche Wörter man groß- und welche man kleinschreibt. Also erklärt der Lehrer ihm: Die Wörter, die für etwas stehen, was man anfassen kann, schreibt man groß, die anderen klein. Daraus schließt er wie folgt: »die« – kann man nicht anfassen. »katze« – kann man auch nicht anfassen (kratzt nämlich). »Sitz« – kann man anfassen. »Hintern« – kann man anfassen. »ofen« – kann man nicht anfassen (heiß). So ergibt sich der Satz: »die katze Sitz Hintern ofen.«
Nun gibt es feuerfeste Handschuhe, die es einem erlauben, auch einen heißen Ofen zu berühren, und tatsächlich sogar speziell für Tierhalter entwickelte »Fangnetze«, mit dem man selbst die kratzbürstigsten Katzen zu fassen bekommt. Ob man »etwas anfassen kann«, hängt also offensichtlich davon ab, welche Hilfsmittel man zur Verfügung hat.
In der Philosophie ist es zwar eher kein Thema, welche Katzen man mit welchem Werkzeug anfassen kann. Aber darum, dass man mit bestimmten Gegenständen nur auf technisch vermittelte Weise interagieren kann, geht es durchaus häufiger. Ein berühmtes Beispiel kommt von jemandem, den wir eigentlich nicht als Philosophen kennen, nämlich Winston Churchill, der sich in seiner erfolgreichen Autobiografie »Meine frühen Jahre« aus dem Jahr 1930 zur Frage einlässt, wie wir verlässlich in Erfahrung bringen können, welche Gegenstände in der Außenwelt wirklich existieren, obwohl uns unsere Sinne täuschen können.
Churchills Denkfehler
Sein Beispiel ist die Sonne, die wir am Himmel stehen sehen: Wir nehmen sie nur mit unserem Sehsinn als grelle Blendung wahr. (Ich ergänze: Wir können sie nicht anfassen oder auch nur um sie herumgehen.) Wie können wir dann wissen, dass hinter dieser Leuchterscheinung ein realer Gegenstand steht? Für Churchill ist es ganz einfach: So kann man zum Beispiel anhand von astronomischen Berechnungen, die »völlig von unseren Sinnen getrennt sind«, voraussagen, wann die Sonne sich verfinstern wird. Das Argument, dass die Berechnungen wiederum auf menschlichen Sinneswahrnehmungen beruhen, lässt er nicht gelten: »Sie könnten, zumindest in der Theorie, auch durch automatische Rechenmaschinen ermittelt werden, die durch das auf sie fallende Licht in Gang gesetzt werden, ohne jede Einmischung der menschlichen Sinne an irgendeinem Punkt.«
Churchill macht hier allerdings einen Denkfehler: Die astronomischen Computer, die ihm hier vorschweben, muss schließlich ein Mensch unter Zuhilfenahme seiner Sinne entworfen und programmiert haben (oder ein anderer Computer, den wiederum ein Mensch entworfen und programmiert hat). Das Ergebnis des Computers muss ein Mensch mit seinen Sinnen entgegennehmen und das tatsächliche Stattfinden der Sonnenfinsternis zu dem vom Computer vorhergesagten Zeitpunkt lässt sich auch nicht ohne Sinneswahrnehmungen verifizieren.
Dasselbe gilt für die Uhren, die wir verwenden, um zu wissen, wann der Zeitpunkt überhaupt eintritt: Selbst wenn sie kein Menschenwerk wären, müsste sie doch immer noch ein Mensch mit Hilfe seiner Sinneswahrnehmungen stellen – und zwar anhand von astronomischen Phänomenen, deren Zusammenhang untereinander und zum Zyklus der Sonnenfinsternisse bekannt ist. Uhren und die Computervorhersage sind am Ende nichts anderes als die Bestätigung einer Gesetzmäßigkeit, die man (letztlich mit Hilfe menschlicher Sinne) selbst aufgestellt und ihnen zu Grunde gelegt hat. Dass wir maschinelle Vorhersagen über bestimmte Gegenstände treffen oder beispielsweise auch bestimmte Gegenstände technisch fabrizieren können, die wir nicht einmal in der Theorie von Hand herstellen könnten, ändert nichts daran, dass letztlich all unser Kontakt mit der Außenwelt durch unsere körperlichen Fähigkeiten bedingt ist. Ob wir nun wissen wollen, ob man die Katze anfassen kann oder ob die Sonne existiert.
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