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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die Erfindung der eulerschen Zahl

Im Gegensatz zu Pi oder Wurzel zwei wurde »e« erst spät entdeckt. Die eulersche Zahl tauchte erstmals in der Zinsrechnung auf – doch sie half schon vorher dabei, große Werte miteinander zu multiplizieren.
Die Eulersche Zahl liegt wie eine Schlange in Schleifen im Sand, am Horizont sieht man blauen Himmel.
Die eulersche Zahl ist inzwischen fast so berühmt wie Pi.

Ich habe nachgezählt: Inzwischen habe ich schon elf meiner Kolumnen der Kreiszahl Pi gewidmet. Das war vielleicht auch ein Grund dafür, dass mir meine lieben Kolleginnen und Kollegen einen Geburtstagskuchen mit der Kreiszahl verziert haben. Meine Obsession mit der Zahl sollte aber nicht verwundern, schließlich ist es die symbolische Zahl der Mathematik, ein irrationaler Wert, der mit einem der einfachsten geometrischen Objekte verbunden ist: dem Kreis.

Anders verhält es sich mit der eulerschen Zahl e ≈ 2,71828. Zwar ist e inzwischen auch ein bekannter Vertreter der irrationalen Zahlen. Aber im Gegensatz zu √2 und π wurde e erst ziemlich spät entdeckt. Erste Spuren finden sich im frühen 17. Jahrhundert, und erst Leonhard Euler verlieh der Zahl in den 1720er Jahren ihren Namen »e« (tatsächlich bezog sich der Mathematiker dabei nicht auf seinen Nachnamen, sondern nutzte offenbar bloß einen Buchstaben im Alphabet, der damals noch nicht besetzt war).

Dass es so lange dauerte, bis e entdeckt wurde, mag erstaunen. Tatsächlich ist die Geschichte der Zahl so vielfältig wie die Anwendungen, in denen man sie antrifft: von Wahrscheinlichkeitsrechnung über Zinsmathematik bis hin zum Sekretärinnenproblem. Doch tatsächlich verfügten die Mathematiker bis zum 17. Jahrhundert nicht über das nötige Werkzeug, um auf die eulersche Zahl zu schließen. Denn anders als Pi oder Wurzel zwei gibt es kein geometrisches Objekt, mit dem e verbunden ist. Es entspricht zum Beispiel nicht der Seitenlänge oder der Fläche eines gewöhnlichen Vielecks. Um auf e zu stoßen, muss man schon etwas tiefer graben – oder sich mit dem Bankwesen beschäftigen.

Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Letzteres tat Jakob Bernoulli, ein Schweizer Mathematiker des 17. Jahrhunderts. Damals führte er ein einfaches Gedankenexperiment durch (das ich grob auf die heutige Zeit anpasse). Angenommen, Sie haben einen Euro auf der Bank und diese wäre enorm großzügig und zahlt Ihnen jährlich 100 Prozent Zinsen. Nach Ablauf dieses Jahres haben Sie Ihr Vermögen verdoppelt. Bernoulli fragte: Was, wenn die Zinsen über einen kürzeren Zeitraum aufgeteilt werden? Die Bank könnte Ihnen zum Beispiel nach sechs Monaten 50 Prozent Zinsen ausschütten und am Ende noch einmal 50 Prozent. In diesem Fall hätten Sie nach einem halben Jahr 1,50 Euro auf dem Konto und nach weiteren sechs Monaten ein Vermögen von 2,25 Euro – also 25 Cent mehr als bei der jährlichen Ausschüttung.

Auch der Zinseszins hat irgendwann ein Ende

Bernoulli spann diese Idee des Zinseszins weiter, indem er die Zeiträume immer weiter verkleinerte: Falls eine Bank vierteljährlich 25 Prozent Zinsen auszahlt, dann haben Sie am Ende des Jahres etwas mehr als 2,44 Euro; falls Sie hingegen monatlich 8,33 Prozent Zinsen kassieren, besitzen Sie nach einem Jahr 2,61 Euro.

Die Berechnung läuft dabei folgendermaßen ab: Angenommen, eine Bank zahlt an jedem Tag des Jahres einen Anteil von 1365 Ihres Vermögens als Zinsen. Dann addiert man zu dem bestehenden Betrag (ein Euro) den Zinsanteil 1 + 1365 aus. Das ist das Vermögen, das Sie nach einem Tag besitzen. Um Ihren Kontostand am zweiten Tag zu berechnen, muss man den aktuellen Besitz (1 + 1365) mit 1365 multiplizieren (damit erhält man die Zinsen) und auf das aktuelle Vermögen addieren: 1 + 13651365·(1 + 1365). Das macht man immer so weiter, und zwar 365-mal. Die Rechnung wird schnell recht lang und unübersichtlich, aber sie lässt sich glücklicherweise zu einer einfachen Formel zusammenfassen. Ihr Kontostand beträgt demnach nach einem Jahr (1 + 1365)365 Euro, was ungefähr 2,71 Euro ergibt.

Je kleiner der Zeitraum, in dem die Zinsen ausgezahlt werden, desto größer die Gesamtsumme, die man am Ende des Jahres erhält. Doch Bernoulli erkannte, dass das Vermögen trotzdem endlich bleibt – selbst wenn man die Zinsen kontinuierlich ausgezahlt bekommt. Das konnte er durch die Bestimmung des Grenzwerts beweisen – eine mathematische Operation, die dank der bahnbrechenden Arbeiten von Isaac Newton und Wilhelm Gottfried Leibniz wenige Jahre zuvor möglich war. Als Bernoulli den Grenzwert berechnete, entdeckte er die eulersche Zahl e:

\[ \text{e} = \lim_{n \to \infty} (1 + \frac{1}{n})^n = 2,718281828459045235360287471352…\]

Aus der Schulzeit wissen Sie vielleicht noch, wie die Geschichte weitergeht: Besonders spannend ist die eulersche Zahl in Zusammenhang mit der Exponentialfunktion f(x) = ex, denn die Funktion entspricht ihrer eigenen Ableitung, also f'(x) = f(x) = ex. Das bedeutet: An der Stelle x = 0 hat die Exponentialfunktion eine Steigung von e0 = 1, an x = 1 hat die Funktion eine Steigung von e, bei x = 2 entspricht die Steigung e2 und so weiter. In der Analysis, wo Ableitungen und Integrale allgegenwärtig sind, nimmt die Exponentialfunktion daher eine wichtige Rolle ein.

Ein Trick fürs Rechnen

Die eulersche Zahl tauchte bereits vor Bernoullis Zinseszins-Überlegung in einem völlig anderen Zusammenhang auf. 1614 widmete sich der schottische Gelehrte John Napier astronomischen Berechnungen, die vor allem Multiplikationen von sehr großen und kleinen Zahlen umfassten. Da damals noch keine Rechenmaschinen zur Verfügung standen, musste Napier mühsam von Hand seitenlange Kalkulationen durchführen. Daher überlegte er, ob es nicht eine einfachere Möglichkeit gäbe, das Produkt zweier Zahlen zu berechnen.

Napier wurde fündig. Er führte zu den Faktoren, die er multiplizieren wollte, »künstliche Zahlen« ein, deren Summe am Ende auf das gewünschte Produkt führen sollte. Sprich: Anstatt zwei Zahlen miteinander zu multiplizieren, nahm er sich zwei andere Werte vor, die er addierte – und kam dabei auf das richtige Ergebnis.

Damit begründete er das Konzept des Logarithmus: Denn der Logarithmus eines Produkts (heute als log(a·b) bezeichnet) entspricht der Summe der Logarithmen beider Zahlen, also: log(a·b) = log(a) + log(b). Heute wissen wir, dass der Logarithmus gewissermaßen dem Gegenteil einer Potenz entspricht: 22 ist 4, 23 ist 8 und der Logarithmus zur Basis zwei gibt an, welche Zweierpotenz 2x zum Beispiel 6 ergibt: log2(6) = 2,58….

All das war zu Napiers Zeiten aber noch nicht bekannt. Deshalb behalf er sich auf etwas andere – und zugegebenermaßen auf umständliche Weise.

Napier sah sich verschiedene Zahlenfolgen an, die er miteinander verglich. Auf der einen Seite betrachtete er »arithmetische Folgen«, also Zahlen, die immer einen festen Abstand zueinander haben, wie: 2, 4, 6, 8, 10, … Auf der anderen Seite widmete er sich »geometrischen Folgen«, deren Folgenglieder in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, etwa: 2, 4, 8, 16, 32, … Napier erkannte, dass er die beiden Folgen miteinander in Verbindung bringen und auf diese Weise seinem Ziel näher kommen konnte: Statt zwei Zahlen aus der geometrischen Folge miteinander zu multiplizieren, könnte er zwei entsprechende Zahlen aus der arithmetischen Folge addieren.

Die Verbindung der arithmetischen und geometrischen Folgen entspricht dem, was heute als Logarithmus bekannt ist. Napier konzentrierte sich damals auf geometrische Folgen, deren Zahlenverhältnis (1 − 10-7) entspricht, etwa: 10 000 000, 9 999 999, 9 999 998,0000001, …

Ein Wettrennen mit einem Frosch

Das kann man sich folgendermaßen vorstellen. Angenommen, ein Frosch möchte eine Strecke von 10 000 000 Metern, also 10 000 Kilometern zurücklegen. Er beginnt mit seiner Reise und hüpft einen Meter voran. Da ihn der Sprung etwas ermüdet hat, kommt er bei seinem zweiten Sprung nicht ganz so weit, er legt bloß 1 − 10-7 Meter zurück. Bei jedem erneuten Sprung kommt der Frosch ein zehnmillionstel weniger weit als zuvor. Zeitgleich startet ein Läufer neben dem Frosch und legt mit jedem Schritt einen Meter zurück; anders als der Frosch ermüdet er aber nicht. Jedes Mal, wenn der Frosch nach vorne hüpft, geht die Person einen Meter weiter.

Je näher der Frosch der Ziellinie kommt, desto kleiner werden dessen Sprünge – tatsächlich wird er die Ziellinie niemals erreichen, auch wenn der Abstand zu ihr beliebig klein wird. Der Läufer schreitet hingegen mit gleichbleibender Geschwindigkeit voran und wird damit eine weitaus größere Strecke zurücklegen als die 10 000 Kilometer.

Napier schaffte es, die zurückgelegten Distanzen von Frosch und Läufer in Zusammenhang zu setzen – ein Zusammenhang, der heute als Logarithmus bekannt ist. Die Strecke, die der Läufer zurückgelegt hat, entspricht dem Logarithmus der Länge, die der Frosch gehüpft ist. Das lässt sich mit der heutigen Schreibweise recht schnell erkennen. Der Läufer hat nach n Schritten eine Strecke von n Metern zurückgelegt. Beim Frosch ist es etwas komplizierter, die von ihm zurückgelegte Strecke nach n Sprüngen entspricht folgender Summe:

\( \sum_{k=0}^{n-1} (1-10^{-7})^k \)

Solche Summen sind als geometrische Reihen bekannt und lassen sich vereinfacht ausdrücken:

\[ \sum_{k=0}^{n-1} (1-10^{-7})^k = 10^7 -10^7(1-10^-7)^n \]

Wenn der Läufer also n Meter zurückgelegt hat, ist der Frosch nur 107 − 107(1 − 107)n Meter weit gekommen. Um von der Distanz des Frosches auf n zu schließen, braucht man den Logarithmus, weil n im Exponenten der Formel steckt.

Aus Napiers Aufzeichnungen lässt sich im Nachhinein nachvollziehen, dass er zunächst einen Logarithmus zur Basis von zirka 1e berechnete – und das, ohne die eulersche Zahl zu kennen. Für all seine Kalkulationen setzte er eine Zahl x mit der Funktion (1/e)x in Zusammenhang.

Das Auftreten der eulerschen Zahl in Napiers Berechnungen ist nicht allzu überraschend, wenn man sich überlegt, wie tief der Wert mit Logarithmen und exponentiellem Wachstum verwurzelt ist. Tatsächlich behielt Napier seine Basiswahl aber nicht bei – er bemerkte schnell, dass es einfacher wäre, den Zehnerlogarithmus zu verwenden, da dann lästige Konstanten der Art log(10), die in seinen Berechnungen ständig auftauchen, einfache Werte annehmen.

Auch wenn Napier die eulersche Zahl niemals ausgeschrieben und explizit benannt hat, gibt es einige Quellen, welche die irrationale Zahl als »Napiers Konstante« bezeichnen. Der Begriff »Bernoullische Zahl« setzte sich ebenso wenig durch, da Bernoulli zwar den Zahlenwert von e in seiner Zinseszins-Berechnung bestimmte, ihr aber keinen Namen gab oder sie als etwas Besonderes ansah. Erst Euler erkannte das Potenzial von e und stellte einen Zusammenhang zwischen Bernoullis Berechnungen, Exponentialfunktionen und Logarithmen her. Und so trägt sie nun seinen Namen – selbst wenn er nicht ihr wahrer Entdecker ist.

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