Lexikon der Chemie: flüssige Kristalle
flüssige Kristalle, kristalline Flüssigkeiten, Mesophasen (von griech. mesos, "mitten, zwischen"), organische Verbindungen (auch Metallkomplexe mit org. Liganden) in einem Zustand mittlerer Ordnung, der zwischen dem des dreidimensional vollgeordneten Kristalls und dem der gewöhnlichen, strukturell ungeordneten Flüssigkeit liegt. F. K. besitzen sowohl Eigenschaften des kristallinen Zustandes (z. B. Anisotropie vieler Eigenschaften, Elastizität) als auch typische Eigenschaften von Flüssigkeiten (z. B. teilweise geringe Viskosität, Formunbeständigkeit). Die f. K. wurden 1888 von dem österreich. Botaniker F. Reinitzer an dem Benzoesäureester des Cholesterins entdeckt und 1889 von dem Physiker O. Lehmann erstmals näher untersucht.
Chem. Verbindungen, die f. K. bilden können, werden auch als Mesogene bezeichnet. Nach ihren Existenzbedingungen unterscheidet man zwei Arten von f. K.: thermotrope f. K. und lyotrope f. K. Amphotrope Verbindungen können beide Arten ausbilden.
1) Thermotrope f. K. Sie werden von reinen Stoffen oder auch Gemischen in einem bestimmten Temperaturbereich gebildet. Dieser thermische Existenzbereich ist eingegrenzt durch den Schmelzpunkt der kristallinen Phase und den Klärpunkt, bei dem der f. K. in die isotrope Flüssigkeit übergeht. Voraussetzung für die Ausbildung von f. K. ist eine geeignete Molekülgestalt der entsprechenden Verbindungen. Diese kann stäbchenförmig (auch mit stärkeren Abweichungen wie terminalen oder lateralen Verzweigungen) oder auch scheibchenförmig sein.
a) F. K. mit stäbchenförmigen Molekülen (sie werden auch als calamitische f. K. bezeichnet). Es sind etwa 50000 organische Verbindungen mit flüssig-kristallinen Eigenschaften bekannt, die als gemeinsames Merkmal eine langgestreckte, stäbchenförmige Molekülgestalt aufweisen und durch die allgemeine Konstitutionsformel F1-A1-M-A2-F2 beschrieben werden können. Durch eine Mittelgruppe M (z. B. -CH=N-, -CH=CH-, -C≡C-, -N=N-, -N(O)=N-, -COO-, -CH=CH-COO-, -C6H4-, andere Ringsysteme, eine Einfachbindung) sind zwei Ringe A1 und A2 (Benzol, Cyclohexan, heterocyclische Fünf- oder Sechsringe) verbunden, die noch in p-Stellung mit gleichen oder unterschiedlichen Flügelgruppen F1 und F2 (z. B. -F, -Cl, -CN, -NO2, -CnH2n+1, -OCnH2n+1) substituiert sind. Es können auch Elemente wie Hg, Si, Sn, S oder Se in das Molekül eingebaut sein. Die für praktische Anwendungen benötigten niedrigschmelzenden f. K. mit einem großen thermischen Existenzbereich bestehen meist aus Substanzgemischen. Bisweilen können f. K. nur einseitig durch Unterkühlung der Schmelze als metastabile Phasen erhalten werden, man bezeichnet sie dann (im Gegensatz zu den aus wechselseitiger Umwandlung erhaltenen enantiotropen f. K.) als monotrop.
flüssige Kristalle. Abb. 1: Schematische Darstellung der Ordnungszustände in flüssigen Kristallen: (a) nematische Phase, (b) smektische A-Phase, (c) smektische C-Phase, (d) smektische B-Phase.
Es gibt verschiedene Typen von f. K., die auch an ein und derselben Substanz vorkommen können und dann durch Phasenumwandlungen getrennt sind (Polymorphie). Den verschiedenen Typen entsprechen unterschiedliche Phasenstrukturen (Abb. 1). Bei den nematischen f. K. (Symbol N) sind die Längsachsen der Moleküle, die in der isotropen Flüssigkeit regellos verteilt sind, weitgehend parallel zueinander ausgerichtet. Die dadurch gegebene, gemittelte Vorzugsrichtung der Struktur wird auch als ihr Direktor bezeichnet. Die cholesterinischen (oder auch cholesterischen) f. K. (Symbol N*), eine bei chiralen Substanzen vorkommende Abart nematischer f. K., bestehen aus quasi-nematischen Schichten, die so übereinander gelegt sind, daß die Vorzugsrichtungen benachbarter Schichten einen bestimmten Winkel zueinander bilden und damit eine verdrillte Struktur entsteht. In ihr folgt der Direktor einer (rechts- oder linksgängigen) Schraubenbewegung mit einer bestimmten Ganghöhe. Dabei weisen Enantiomere die gleiche Ganghöhe, aber einen entgegengesetzten Schraubungssinn auf. Bei den smektischen f. K. (Symbol S) sind die Moleküle auch parallel zueinander und zusätzlich in Schichten angeordnet. Es gibt inzwischen über 15 verschiedene Arten smektischer f. K. (jeweils symbolisiert durch einen Buchstaben A, B, C ... in der Reihenfolge ihrer Entdeckung), die sich durch die Ordnung innerhalb der Schichten unterscheiden. So bedeutet smektisch A (SA) "ohne" Ordnung mit senkrecht zur Schichtebene stehenden Molekülen, SC gleichfalls "ohne" Ordnung, aber mit geneigten Molekülen; bei SB erfolgt eine Einordnung der Moleküle innerhalb der Schichten in ein zweidimensionales hexagonales Gitter. In bestimmten Fällen (z. B. SE) kann auch die Drehbarkeit der Moleküle um ihre Längsachse stark eingeschränkt sein. Chirale Mesogene können smektische Phasen mit ferroelektrischen Eigenschaften ausbilden (wie z. B. die smektische C*-Phase), die für praktische Anwendungen von besonderem Interesse sind. Einige Typen smektischer f. K. besitzen Merkmale einer dreidimensionalen Ordnung und stehen damit den festen Kristallen sehr nahe. Es gibt auch mehrere Typen kubischer f. K., deren Eigenschaften sich trotz der starken Anisotropie der einzelnen Moleküle isotrop verhalten. Die unterschiedlichen Strukturtypen können durch röntgenographische Untersuchungen erkannt werden. F. K. gleichen Typs sind im allgemeinen vollständig miteinander mischbar und besitzen charakteristische optische Eigenschaften, die im Polarisationsmikroskop als Texturen beobachtet und zu ihrer Erkennung und Klassifizierung herangezogen werden können.
In Abb. 2 sind einige repräsentative Vertreter von Verbindungsklassen thermotroper Mesogene mit stäbchenförmiger Molekülgestalt zusammengestellt.
flüssige Kristalle. Abb. 2: Thermotrope flüssigkristalline Verbindungen mit Angabe der beobachteten Mesophasen und Umwandlungstemperaturen (in K). (K – kristallin, N – nematisch, N* – cholesterinisch, S – smektisch, I – isotrop-flüssig)
flüssige Kristalle. Abb. 3: Schematischer Aufbau eines Flüssigkristall-Displays.
Grundlegende Beiträge zur Synthese calamitischer f. K. wurden bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von D. Vorländer geleistet. Die erste bei Raumtemperatur kr.-fl. Verbindung war das N-(4-Methoxybenzyliden)-4-butylanilin (MBBA) (1969, Abb. 2c).
Durch molekularstatistische Berechnungen wurde gezeigt, daß in f. K. die Parallelordnung der Moleküle vor allem durch die Abstoßungskräfte zwischen den stäbchenförmigen Molekülen zustande kommt. Die anziehenden Kräfte (Dispersions- und Orientierungskräfte) verstärken diesen Effekt und sind auch für die Einordnung der Moleküle in Schichten verantwortlich. F. K. besitzen elastische Eigenschaften, die mit Hilfe der Kontinuumstheorie beschrieben werden können.
Die anisotrope Molekülgestalt und -anordnung bewirkt eine Anisotropie vieler physikalischer Eigenschaften bei f. K. Typische Beispiele hierfür sind die Anisotropie der optischen Eigenschaften, die die optische Doppelbrechung bewirkt, und die Anisotropie der elektrischen Leitfähigkeit sowie die dielektrische und die diamagnetische Anisotropie.
Anwendung der calamitischen thermotropen f. K. Während f. K. bis etwa 1960 nur einem kleinen Kreis von Spezialisten bekannt waren, haben sie seither eine ständig steigende Zahl von Anwendungsmöglichkeiten gefunden. Infolge der diamagnetischen Anisotropie orientiert sich die Vorzugsrichtung nematischer f. K. parallel zu Magnetfeldern, was in der NMR-, ESR- und UV/VIS-Spektroskopie zur Untersuchung der Anisotropie der Eigenschaften gelöster Stoffe genutzt wird. In elektrischen Feldern orientiert sich die Vorzugsrichtung je nach dem Vorzeichen der dielektrischen Anisotropie parallel oder senkrecht zur Feldrichtung. F. K., die durch epitaktische Wechselwirkung (Epitaxie) mit speziell behandelten Elektroden homogen orientiert sind, können in elektrischen Feldern reversibel umorientiert und so zur Herstellung optoelektronischer Bauelemente (Displays) für elektronische Uhren, Taschenrechner, digital anzeigende Geräte, Bildschirme u. a. benutzt werden. Solche Flüssigkristallanzeigen, die mit LCD (Abk. von engl. liquid crystal display) bezeichnet werden und deren Aufbau in Abb. 3 schematisch dargestellt ist, haben einen extrem niedrigen Energieverbrauch. In der Gaschromatographie erreicht man durch Einsatz f. K. höchste Trennwirksamkeit. Cholesterinische f. K. besitzen eine Temperaturabhängigkeit der Farbe des selektiv reflektierten Lichtes, so daß sie für flächenhafte Temperaturmessung (Thermographie) für medizinische und technische Zwecke benutzt werden.
b) F. K. mit scheibchenförmigen Molekülen (discotische f. K.). Wie erstmals 1977 von S. Shandrasekhar gezeigt wurde, können auch scheibchen- oder diskusförmige Moleküle (Abb. 4) f. K. ausbilden. Sie können sich zu Säulen übereinanderlagern, die ihrerseits durch ihre gegenseitige Orientierung verschiedene flüssig-kristalline Strukturen (columnare Phasen) mit hexagonaler, recht- oder auch schiefwinkliger Anordnung der Säulen ergeben (Abb. 5). Auch discotische Phasen mit einer Neigung der Säulen (analog zur SC-Phase) sind bekannt. Einfache Parallellagerung der Moleküle ohne Säulenbildung ergibt discotische nematische Strukturen. Die discotischen f. K. weisen ebenfalls eine Anisotropie der Eigenschaften auf.
flüssige Kristalle. Abb. 4: Hexasubstituiertes Benzol als Beispiel für ein scheibchenförmiges ("discotisches") Molekül.
flüssige Kristalle. Abb. 5: Hexagonale Anordnung der Säulen in einer discotischen Phase.
Neben den discotischen konnten auch eine ganze Reihe anderer nicht-calamitischer f. K. mit unkonventioneller Molekülgestalt synthetisiert werden. So nimmt die Molekülgestalt der phasmidischen f. K. eine Zwischenstellung zwischen der Stäbchen- und Scheibchenform ein.
2) Lyotrope f. K. Diese können nicht von reinen Stoffen gebildet werden, sondern entstehen durch Wechselwirkung polarer Stoffe mit bestimmten Lösungsmitteln in gewissen Konzentrations- und Temperaturbereichen.
Lyotrope flüssig-kristalline Phasen können von amphiphilen Molekülen gebildet werden, die aus einer polaren Kopfgruppe und einem unpolaren langkettigen Paraffinrest bestehen. Typische Beispiele für derartige Substanzen sind Kaliumpalmitat, Lecithin, Octylamin oder Dodecylsulfonsäure. Die Strukturen lyotroper f. K. sind dadurch ausgezeichnet, daß die in Schichten, Zylindern oder Kugeln angeordneten amphiphilen Moleküle mit ihren Kopfgruppen mit einem polaren Lösungsmittel (Wasser, Alkohole, Chloroform) in Wechselwirkung stehen. Befindet sich das Lösungsmittel außerhalb der Schichten, Zylinder oder Kugeln, so handelt es sich um normale Strukturen; ist es dagegen im Innern, so spricht man von inversen Strukturen. Ein Beispiel für eine Schichtstruktur ist die neat-Phase (Abb. 6a), bei der die Molekül-Doppelschichten mit gegenüberstehenden und teilweise verknäulten Paraffinketten durch das Lösungsmittel getrennt sind. Die middle-Phase (Abb. 6b) besteht dagegen aus Zylindern mit nach außen stehenden Kopfgruppen, zwischen denen sich das Lösungsmittel befindet. Lyotrope f. K. können auch in Drei- oder Mehrstoffsystemen auftreten sowie in Gemischen amphiphiler Polymere (z. B. Polyhexadecylacrylat) mit Lösungsmitteln.
flüssige Kristalle. Abb. 6: Aufbau lyotroper flüssiger Kristalle (schematisch): (a) Struktur der neat-Phase, (b) Struktur der middle-Phase.
Lyotrope f. K. können leicht weitere Stoffe einlagern, die im eigentlichen Lösungsmittel unlöslich sind. Der Vorgang des Waschens unter Verwendung von Seifen oder Netzmitteln beruht teilweise hierauf. Lyotrope f. K. spielen eine große Rolle in biologischen Systemen. Muskelfasern, Gemische von Proteinen und Polypeptiden sowie bestimmte Zellflüssigkeiten kommen im tierischen und menschlichen Körper kristallin-flüssig vor. Lecithin bildet einen physiologisch wichtigen Bestandteil aller pflanzlichen und tierischen Zellen, vor allem des Nervengewebes, und ist in Gemischen mit Wasser sowie Cholesterylestern kristallin-flüssig.
Zellmembranen besitzen eine Struktur, welche derjenigen der lyotropen f. K. sehr ähnlich ist. Deshalb werden künstliche Modellmembranen aus amphiphilen Substanzen mit entsprechenden Lösungsmitteln aufgebaut. Bestimmte Viren, von Krebs befallene Zellen sowie der Inhalt der roten Blutkörperchen haben gleichfalls flüssig-kristalline Eigenschaften.
Flüssig-kristalline Polymere. Der flüssig-kristalline Zustand kann auch bei Polymeren beobachtet werden und ist von zunehmendem Interesse für die Entwicklung polymerer Werkstoffe mit besonderen Eigenschaften. In Analogie zu den niedermolekularen f. K. lassen sich auch die polymeren f. K. in die beiden Gruppen der thermotropen und lyotropen Systeme einteilen.
1) Thermotrope flüssig-kristalline Polymere. Der Hauptweg zu thermotropen f. K. besteht in der chem. Verknüpfung der Polymerketten mit Molekülen niedermolekularer Flüssigkristalle. Dabei können die mesogenen (für die Ausbildung der Mesophasen entscheidenden) Gruppen sowohl in der Hauptkette als auch in Form von Seitenketten eingebaut werden (Abb. 7). Polymere mit mesogenen Gruppen in der Hauptkette erhält man durch Polykondensation oder Copolykondensation aus verschiedenen bifunktionellen Verbindungen, die aus sowohl biegsamen als auch starren (mesogenen) Gruppen bestehen. Solche halbstarren Polymere bilden beim Auftreten einer thermotropen flüssig-kristallinen Phase günstige Voraussetzungen zur Herstellung besonders zugfester Fasern. Polymere mit mesogenen Seitenketten (Kammpolymere) können entweder durch Polymerisation entsprechender flüssig-kristalliner Monomerer oder durch Anlagerung von Molekülen niedermolekularer f. K. an die Polymerkette mittels polymeranaloger Umwandlungen hergestellt werden. Die unmittelbare Verknüpfung der mesogenen Gruppe mit der Hauptkette (Abb. 7b) führt jedoch häufig nicht zur Ausbildung thermodynamisch stabiler flüssig-kristalliner Phasen. Entscheidend dafür erweist sich vielmehr die Verknüpfung der starren mesogenen Gruppe über einen flexiblen Spacer, der sowohl einen bestimmten Abstand als auch eine gewisse Bewegungsunabhängigkeit von der Hauptkette gewährleistet (Abb. 7c). Die Hauptkette wird z. B. durch Polyethylen, Polysiloxane oder Polyacrylate gebildet, als Spacer für die üblichen mesogenen Baugruppen (z. B. Schiffsche Basen, Cyanbiphenylgruppen, Cholesterylester) dienen meist Alkylengruppen. Die Kammpolymere bilden homogene nematische, cholesterinische und smektische Phasen hoher Viskosität.
flüssige Kristalle. Abb. 7: Schematische Darstellung flüssig-kristalliner Polymerer mit mesogenen Gruppen: (a) in der Hauptkette, (b) in der Seitenkette (ohne Spacer), (c) in der Seitenkette (mit Spacer).
2) Lyotrope flüssig-kristalline Polymere. In Lösungen von Polymeren mit starren Ketten kann in bestimmten Temperatur- und Konzentrationsbereichen eine spontane Entmischung in isotrope und anisotrope, d. h. flüssig-kristalline Phasen beobachtet werden. Derartige lyotrope Systeme mit nematischer oder cholesterinischer Struktur wurden für eine Reihe von Biopolymeren nachgewiesen und sind wahrscheinlich charakteristisch für die belebte Natur. Das Auftreten synthetischer Polymerer mit starrer Kette, wie aromatischer Polyamide, Polyester und Polyamidoester, in flüssig-kristallinen Phasen besitzt zunehmende anwendungstechnische Bedeutung. Derartige Polymere können aufgrund ihrer hohen Schmelztemperaturen nur in Lösung verarbeitet werden. Gelingt dabei die Ausbildung flüssig-kristalliner Phasen, so liefert das Verspinnen solcher Lösungen orientierte Fasern mit wesentlich höherer Festigkeit, als sie die aus isotroper Lösung gewonnenen Fasern aufweisen. So übertrifft z. B. die in den USA auf der Basis von Polyphenylenterephthalamiden entwickelte Kevlar-Faser in ihrer spezifischen Festigkeit sogar Stahl.
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