Lexikon der Geographie: Angewandte Geomorphologie
Angewandte Geomorphologie
Ernst Brunotte, Köln
1. Zur Disziplingeschichte
Als eigenständige Disziplin existiert die Angewandte Geomorphologie in Nordamerika bereits seit den 1920er-Jahren. Um den immensen Erosionsschäden auf landwirtschaftlichen Flächen zu begegnen, entstanden zahlreiche staatliche Programme, Gesetze und öffentliche Einrichtungen (u.a. U.S. Soil Conservation Service). Diese förderten die Anwendung geomorphologischer Arbeitsweisen und Erforschung aktueller geomorphologischer Prozesse unter zunehmender Einbeziehung weiterer Aufgabenfelder. Seither entwickelt sich die Angewandte Geomorphologie in Nordamerika auf der Basis eines breiten öffentlichen Interesses. Beispiele für "frühe" Literatur sind Jacks & Whyte (1939), U.S. Department of Agriculture (1938) und das Lehrbuch "Principles of Geomorphology" von Thornbury (1954), letztlich auch die Arbeit von Dury (1969). Angesichts der allgemeinen Wertschätzung von geomorphologischem Wissen und seiner praktischen Umsetzung setzte er sich für vermehrte Anwendung ein und sagte der Angewandten Geomorphologie einen weiteren, starken Aufschwung voraus.
Demgegenüber nahm man das Anwendungspotenzial der Geomorphologie in Europa seinerzeit wenig wahr, sodass die Arbeiten von Bakker (1959), Tricart (1962) und einigen anderen Ausnahmen blieben. Dies änderte sich erst Mitte der 1970er-Jahre mit dem Erscheinen von Lehrbüchern und Aufsätzen, die das Thema speziell behandelten oder zumindest mit berücksichtigten. In Großbritannien verband sich dies mit einer allgemeinen Belebung der Geomorphologie. Nach Jones (1980) ist diese Entwicklung auf drei Ursachen zurückzuführen: auf das gestiegene Bewusstsein von Landesplanern für die Komplexität des Ursachengefüges der "natürlichen Umwelt", auch im Hinblick auf Naturgefahren, auf den Bedarf an fundiertem Wissen über den Untergrund und die Reliefposition von Bauwerken und auf die beruflichen Perspektiven vieler Geomorphologen, die nicht zuletzt wegen knapper Forschungsmittel bei wachsender gesellschaftlicher Kritik an reiner Wissenschaft (Grundlagenforschung) ihren Lebensunterhalt außerhalb der Hochschule suchten und sich in der Konkurrenz mit früher etablierten angewandten Wissenschaftszweigen bewähren mussten (v.a. mit Geologie, Hydrologie und Bodenkunde). Der nicht zuletzt durch engen Bezug zur Geologie und Verknüpfung mit Planungs- und Ingenieurwissenschaften bedingte Wissens- und Theorievorsprung der anglophonen Länder (insbesondere USA, GB, Kanada, Australien) wird durch die Vielzahl von Fachaufsätzen und Lehrbüchern eindrucksvoll belegt und spiegelt sich bereits im Sprachgebrauch wider – mit der deutlichen Unterscheidung zwischen angewandter (applied) und reiner (pure) Geomorphologie. Darüber hinaus unterscheidet Jones (1980) zwischen "angewandter" und "anwendbarer" Geomorphologie (applicable geomorphology). Erstere liefert die Lösung eines konkreten Umweltproblems. Demgegenüber erwächst aus der anwendbaren Geomorphologie erst unmittelbar ein Nutzen, indem eine spätere oder in einem anderen Zusammenhang stehende Anwendung von Methoden und Erkenntnissen erfolgt.
Weltweit kam der Weiterentwicklung der Angewandten Geomorphologie die Einführung neuer Arbeits- und Untersuchungsmethoden zugute, insbesondere Fernerkundung (Satellitenbildauswertung, hochauflösende Luftbildauswertung), Informationstechnologien, immer weiter reichende Laborverfahren.
Einer der frühen Aufsätze deutscher Geographen, welche auf die Bedeutung des Reliefs "...für das Leben der menschlichen Gesellschaft" aufmerksam machten, stammt von Gellert (1968), ein anderer von Sperling (1978). Ihnen folgt die lehrbuchartige Übersicht von Rathjens 1979). Deutliche Akzente zur Thematisierung der Angewandten Geomorphologie setzte die "Zeitschrift für Geomorphologie" mit ihren Supplementbänden "Perspectives in Geomorphology" (1980), "Applied Geomorphology in the Tropics" (1982), "Applied Geomorphology" (1984), "Applied Geomorphological Mapping: Methodology by Example" (1988), "Aktuelle Geomorphodynamik und angewandte Geomorphologie" (1991), "Angewandte und vernetzte geomorphologische Prozessforschung" (2000).
Ausdruck der Nachkriegsentwicklung des Faches und wegweisend ist schließlich die Geomorphologie von Ahnert (1996), die als erstes deutsches Lehrbuch ein ausführliches Kapitel über Angewandte Geomorphologie enthält.
Grundlegend für die anwendungsorientierte Umsetzung geomorphologischer Kenntnisse war in Deutschland die Einrichtung von Laboratorien in Geographischen Instituten seit den 1960er-Jahren. Sie ermöglichte die Hinwendung zur geomorphologischen Prozessforschung. Mit dem Ziel der Quantifizierung entstanden methodisch aufwändige Programme, u.a. zu Bodenerosion und Hochwasserschutz und, in Hinblick auf eine – auch anwendungsbezogene – Erfassung von Reliefformen und Substraten, das DFG-Schwerpunktprogramm "Geomorphologische Kartierung der BRD". Zur selben Zeit wurde die Eignung "konventieller" geomorphologischer Methoden für die rasche Lösung verschiedenster kulturtechnischer Probleme, wie sie sich z.B. bei der Ausweisung neuer Bahntrassen für Hochgeschwindigkeitszüge oder Hochwasserrückhaltebecken ergeben, immer wieder eindrucksvoll demonstriert. Berufsfördernd erwiesen sich auch die jüngsten Hochwasser u.a. des Rheins und der Oder, nach denen die Versicherungswirtschaft zahlreiche Aufträge zur Ermittlung des regionalen wie auch des weltweiten Gefahrenpotenzials vergab.
Alles in allem ist die Angewandte Geomorphologie dabei, sich in Deutschland weiter zu etablieren. Derzeit geschieht dies in allen Bundesländern durch den Einsatz von Geographen bei der Erstellung geomorphologischer Leitbilder in Hinblick auf eine Revitalisierung von Fließgewässern.
Künftig wird das Aufgabenfeld der Angewandten Geomorphologie durch regionale wie globale Veränderungen des Klimas vermehrt werden, deren geomorphologische Effekte sich in der Zunahme von Überschwemmungen, Verstärkung von Murtätigkeiten und raschen Abflüssen, Degradierung des Permafrostes usw. zu erkennen geben.
2. Aufgabenfelder und Anwendungsbereiche
Unter methodischem Aspekt gliedert sich die Angewandte Geomorphologie folgendermaßen:
a) Beschreibung des morphologischen Ist-Zustandes,
b) Erforschung des Wirkungsgefüges im Zusammenhang mit anthropogenem Einfluss,
c) Erarbeitung von Vorhersagen aus den Ergebnissen von a) und b)
Zu ihren Aufgabenfeldern gehören:
a) Beurteilung von Naturgefahren (Hazardforschung),
b) Umweltverträglichkeitsprüfung,
c) Prüfung von natürlichen Umweltsystemen (Umwelt-Audit),
d) Voraussagebewertung,
e) Ressourcenbewertung, Prospektion.
Zu ihren Anwendungsbereichen zählen:
a) Anwendungen im Umfeld der Geowissenschaften, Vegetationskunde, u.a. Erstellung von topographischen und thematischen Karten in Verbindung mit der Erforschung natürlicher Ressourcen;
b) umweltbezogene Studien und Gutachten bezüglich natürlicher wie anthropogen verursachter Gefahren;
c) Entwicklung des ländlichen Raumes unter Einbeziehung von Bodenerosion, Bodenerhaltung, Fließgewässerentwicklung;
d) Stadtentwicklung, Standortsuche für Siedlungen und Industrie;
e) Ingenieurwesen.
Zu den gegenwärtig besonders aktuellen Themen der Angewandten Geomorphologie zählen: Bodendegradation, Natur- und Kunststeinverwitterung an Bauwerken, Böschungsstabilität von anthropogenen und technogenen Aufschüttungen und Abgrabungen, Landschaftsrenaturierung, Baugrundbegutachtung, Hochwassergefährdung, Küstenschutz, geomorphologische Kartierung, Erfassung und Vorhersage gravitativer Massenbewegungen, Prospektion für archäologische Zwecke, Exploration oberflächennaher Lagerstätten.
Lit: [1] AHNERT, F. (1996): Einführung in die Geomorphologie. – Stuttgart.
[2] BAKKER, J.P. (1959): Dutch applied geomorphological research. In: Rev. Geom. Dyn. 10, S. 67-84.
[3] DURY, G.H. (1969): Hydraulic geometry. In: Chorley, R.J. (ed.): Water, earth and man. – London.
[4] GELLERT, J. (1968): Vom Wesen der angewandten Geomorphologie. In: Petermanns Geographische Mitteilungen 112, S. 256-264.
[5] JACKS, G.V. & WHYTE, R.O. (1939) The rape of the earth: A world survey of soil erosion. – London.
[6] JONES, D.K.C. (1980): British geomorphology: an appraisal. In: Z. Geomorph. Suppl. 36, S. 48-73.
[7] LESER, H. (1996): Probleme und Möglichkeiten der Anwendung von Geomorphologie. In: Heidelberger Geographische Arbeiten 104, S. 481-495.
[8] RATHJENS, C. (1979): Die Formung der Erdoberfläche unter dem Einfluss des Menschen. – Stuttgart.
[9] SEMMEL, A. (1986): Angewandte konventionelle Geomorphologie, Beispiele aus Mitteleuropa und Afrika. Frankfurter geowissenschaftliche Arbeiten, Serie D. 6.
[10] SPERLING, W. (1978): Anthropogene Oberflächenformung. Bilanz und Perspektiven in Mitteleuropa. 41. Deutscher Geographentag Mainz, Tagungsberichte und wissenschaftliche Abhandlungen, 5, S. 363-370.
[11] STäBLEIN, G. (1989): Geomorphologie und Geoökologie – Grundanschauungen und Forschungsentwicklungen. In: Geographische Rundschau, 41(9), S. 468-473.
[12] THORNBURY, W.L. (1954): Principles of geomorphology. – New York.
[13] TRICART, J. (1962): L'Épiderme de la terre. Esquisse d'une géomorphologie appliquée. – Paris.
[14] VERSTAPPEN, H.T. (1983): Applied geomorphology – geomorphological surveys for environmental development. – Amsterdam.
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