Lexikon der Geographie: Minderheiten
Minderheiten, Minoritäten, Teilgruppen innerhalb einer Gesellschaft, die sich aufgrund von z.B. ethnischen (Ethnie), sprachlichen, religiösen, kulturellen oder sozialen Zuordnungen von der Mehrheit unterscheiden. Konstitutiv für die soziale Existenz von Minderheiten sind die Bedeutungen, die diesen Unterschieden von der Mehrheit zugeschrieben werden und die je nach Kontext variieren können. Abhängig von den Werte- und Normenmustern der Mehrheit werden bestimmte Merkmale als weniger wertvoll als die entsprechenden eigenen angesehen. Über soziale Zuordnungen werden Unterschiede bedeutsam und gesellschaftlich wirksam, sodass Diskriminierung entstehen kann. Trotz des vorhandenen asymmetrischen Machtverhältnisses zwischen Minderheiten und Mehrheit konstituieren sie sich gegenseitig und gleichzeitig. Dabei sind die Grenzen, die die Differenzen zwischen Minderheiten und Mehrheit markieren, variabel, da die Teilgruppen in sich heterogen sind und auch personale Identifikation als ein vielschichtiger Prozess zu verstehen ist.
Soziale, ethnische, religiöse, sprachliche oder kulturelle Minderheiten stehen in einem besonders spannungsreichen und ambivalenten Verhältnis zum Schulwesen. Einerseits verbinden die meisten Minderheitengruppen mit dem Bildungssystem ein Instrument für ihren sozialen Aufstieg und ihre berufliche Emanzipation. Andererseits dient der Schulsektor der Gruppe der Mehrheit in vielen Fällen als Medium zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unterdrückung. Vor diesem kritischen Hintergrund hat sich der Bereich des Schulsystems zum Angelpunkt eines in Vergangenheit und Gegenwart virulent konfliktträchtigen Beziehungsgefüges zwischen Minderheit und Mehrheit entwickelt. Da durch die Schule die für die Existenz einer Minderheitengruppe wichtigsten kulturellen, religiösen oder sprachlichen Attribute transportiert werden, ist das Bemühen beider Gruppen im Falle einer unvereinbaren Konstellation jeweils auf die Dominanz innerhalb des Schul- und Ausbildungssystems gerichtet. Auf sozialen, ethnischen, sprachlichen oder religiösen Kriterien beruhende Zugangsbeschränkungen für bestimmte Schulen resultieren zwangsläufig in einer Segregation von Minderheit und Mehrheit. Die Geschichte des (öffentlichen wie privaten) Bildungswesens der USA beispielsweise ist bis in die Gegenwart eine Sequenz von Assimilation, Segregation und versuchter Integration. Eines der weit reichendsten Mittel in der Gestaltung des sozialen Kontakts zwischen Mehrheit und Minderheit liegt in der Kontrolle des Lehrplans. Besonders sensible Bereiche des Curriculums, wie z.B. Sprachen oder Geschichte, können sehr schnell der Manipulation der Konfliktparteien unterliegen. Über den Lehrinhalt und eine bewusste Selektion des Lehrpersonals können entscheidende Assimilationsprozesse gesteuert werden. Wo "Ethnizität" als Phänomen ethnischen Bewusstseins im Schulbereich artikuliert wird, folgen in der Regel Konflikte um sprachlich-kulturelle Aspekte (Unterrichtssprache, Fremdsprachenunterricht, Muttersprache der Lehrer, sprachliche Ausgestaltung und inhaltliche Gewichtung der Lehrbücher etc.). Wenn der symbolische Identifikationsgehalt von "Ethnizität" vor der Situation einer streng institutionellen und räumlichen Trennung der Schüler stärker in den Hintergrund tritt, betreffen die Auseinandersetzungen meist pädagogisch-didaktische, infrastrukturelle und pekuniäre Aspekte (Qualität der Lehrkräfte und -mittel, Curricula, Ausstattung der Schulen, Bezahlung des Lehrpersonals, allgemeine Akzeptanz und Bewertung des Diploms der jeweiligen Schule etc.). Auch die Organisationsform (öffentlich oder privat) und die Größe einer Schule (Kleinschule, Leitbild) spielen für Angehörige aus Minderheitengruppen eine große Rolle. In der Mindestgröße, die zur Gründung einer Schule für eine Minderheit notwendig ist, spiegeln sich politische Grunddispositionen der Mehrheit gegenüber der Minorität wider (z.B. italienischsprachige Grundschulen mit teilweise weniger als fünf Schülern in Südtirol während der Zwischenkriegszeit oder überfüllte Grundschulen für Schwarze im Süden der USA in der zweiten Hälfte des 19.Jh.). Diese und ähnliche strukturelle Disparitäten können sich in einem unterschiedlichen Bildungsverhalten verschiedener Minderheitengruppen reflektieren.
ASt/WGa
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