Lexikon der Kartographie und Geomatik: Kartenmodell
Kartenmodell, Karte als Modell, verbreitete Auffassung über den theoretischen Charakter von Karten, basierend auf einer in der Modelltheorie unterschiedenen Form von Modellen, bei der eine Analogie zu einem Gegenstandsbereich durch Abbildung hergestellt wird (Abbild). Modelle ersetzen aufgrund von Struktur-, Funktions- oder Verhaltensanalogien ein Original. Auf der Basis dieser Grundfunktion können dann mit ihrer Hilfe in bestimmten Situationen nachvollziehbar Aufgaben gelöst oder Informationen gewonnen werden und zwar schneller, effektiver und weitergehend, als dies mit dem Original möglich wäre. Diese Voraussetzungen und Bedingungen von Modellen treffen prinzipiell auch für Karten zu. Entsprechend des differenzierten Aufbaus, den unterschiedlichen Funktionen und den erkenntnistheoretischen Betrachtungsmöglichkeiten von Karten ist deren modellbezogene strukturelle und funktionale Bewertung als Modell allerdings nicht einheitlich. So werden z. B. im Rahmen der kartographischen Informationsverarbeitung zur Bestimmung des veränderten Charakters von Informationen Primär-, Sekundär- und Tertiärmodelle unterschieden. Ein weiterer grundlegender Ansatz differenziert im Zusammenhang mit der Kartennutzung, die im Nutzungsprozess wirkenden Bedingungen in Form von Karten-Modellsichten. (Abb.).
In einer ersten Sicht wird dabei die Karte als Abbildungs- oder Darstellungsmodell des Georaums gesehen. Es wird vorausgesetzt, dass Merkmalstrukturen des Georaums auf der Basis von Bedingungen und Eigenschaften kartographischer Abbildungen modellhaft in die Kartenebene übertragen werden können. Bei dieser Modellsicht wird also eine Strukturübereinstimmung zwischen natürlichem Original bzw. dessen Beschreibung durch georäumliche Daten und geometrisch-graphischer Abbildung hergestellt.
In Karten wird ausgelagertes (externalisiertes) georäumliches Wissen repräsentiert (kartographische Repräsentation). Beim Kartennutzer entsteht dieses allerdings erst dann, wenn die abgebildeten Datenstrukturen mit seinen raumbezogenen Vorstellungen gedanklich verknüpft werden (Raumvorstellung). Insofern kann die Karte aus einer zweiten, übergeordneten Sicht als (semantisches) Repräsentationsmodell gesehen werden, bei dem das zugrunde liegende Original des Modells nicht der natürlichen Welt entspricht, sondern dem mental verfügbarem Wissen darüber. Der Unterschied zwischen Abbildungsmodell und Repräsentationsmodell liegt also darin, dass in der Karte zwar differenzierte Lage-, Grundriss- und sonstige Merkmalstrukturen abgebildet werden, diese sich aber von den abstrahierten Strukturen unterscheiden, die der Kartennutzer in Form von kartographischem Wissen aus Karten ableitet.
Neben der Wissensrepräsentation wird mit Hilfe von Karten dieses Wissen in Form von kartographischen Informationen übermittelt. Daraus entsteht zwangsläufig eine dritte Modellsicht, bei der in Karten als Präsentationsmodelle Wissen so angeboten wird, dass es visuell abgeleitet und gedanklich reproduziert werden kann. Die Informationen werden entsprechend bestimmter Fragestellungen und Kommunikationsbedingungen präsentiert und auf der Basis verschiedener kartographischer Präsentationen durch den Kartennutzer zielorientiert und bedarfsgerecht aus Karten abgeleitet. Das Original, für das das Präsentationsmodell eine Analogie bildet, entspricht dabei den Wissensaspekten, die für eine Fragestellung oder unter bestimmten Bedingungen aus einer Karte (als Nachricht aus einer Quelle) abgeleitet werden sollen.
Zeichentheoretisch und technisch realisiert werden diese verschiedenen Funktionen von Karten erst durch ihre nachvollziehbare und wiederholbare materielle Reproduktion. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die vierte Modellsicht von Karten als technisch-formales Modell (oder kybernetisches Modell). Dabei wird impliziert, dass durch die Vorgabe und verfahrenstechnische Anwendung von Modellbedingungen sich deren Charakter auch auf das Modellierungsergebnis überträgt. Im Kartenherstellungsprozess werden dazu vereinheitlichte und formalisierte Verfahren sowie Regelwerke zur Strukturierung und Gestaltung von Daten- und Zeichensystemen bzw. Kartenmustern in Form von Modellen eingesetzt (kartographisches Datenmodell, kartographisches Zeichenmodell). In der Karte selbst müssen aufgrund dieser Bedingungen nicht nur die abbildungsorientierten, wissensorientierten und informationellen Merkmale reproduziert werden, sondern gleichfalls auch die zeichentheoretischen und vor allem technischen Merkmale, die z. B. durch die Datenmodellierung, die Definition von Zeichenreihen oder die technische Realisierung von Farbtönen, Texturen und sonstigen Graphikelementen vorgegeben sind.
Die theoretische Bewertung der genannten Modellsichten zielt zum einen auf die Einschätzung der Relevanz der Modelle im Verhältnis zu ihren Originalen und zum anderen auf die verschiedenen Funktionen der Modelle für die Kartennutzung und die kartographische Erkenntnisgewinnung. Bei sämtlichen Modellsichten lassen sich deutliche Unterschiede zwischen Original und Karte als Modellkonstrukt feststellen. Beim Abbildungsmodell (graphische oder digitale Karte), werden georeferenzierte euklidische, topologische und inhaltliche Relationen determiniert, die in ihrer Vergleichbarkeit und Übersichtlichkeit im Georaum in dieser Form nicht zur Verfügung stehen. Bei der Karte als Repräsentations- und Präsentationsmodell existiert einerseits ein permanentes Angebot an Wissen bzw. Informationen, das in dieser differenzierten Form mental nicht reproduzierbar ist. Andererseits bietet die Karte fragestellungsorientiert Informationen an, auf die in Abhängigkeit vom jeweiligen Prozess der Wissensverarbeitung und unabhängig von einer individuellen Position eines einzelnen Kartennutzers sukzessiv oder im Zusammenhang visuell zugegriffen werden kann. Die Karte fungiert dabei quasi als ausgelagerte mentale Wissensquelle bzw. Gedächtnis, und zwar auch unabhängig von Einschränkungen, die bei der kognitiven Verarbeitung relevant sind (Gedächtnis). Die Karte als technisch-formales Modell in Form von graphikbezogenen Regelwerken und Verfahrensabläufen schließlich fungiert als Führungs- oder Steuerungssystem für die Kartenherstellung. Es fasst gestalterisches und technisches Wissen zusammen, das beim Kartenbearbeiter in diesem Umfang nicht oder nicht angemessen zur Verfügung steht.
Insgesamt eignen sich die Erkenntnisse, die aus den verschiedenen Modellsichten von Karten gewonnen werden, weniger zur unmittelbaren Verwendung für die Kartenherstellung und -nutzung. Ihr Stellenwert liegt vielmehr darin, für die theoretische, empirische und technologische Erkenntnisgewinnung in der Kartogra- phie einen grundlegenden Rahmen zu bilden (kartographische Methodologie).
JBN
Kartenmodell:Kartenmodell: Kartenmodelle und Modelloriginale.
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