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Lexikon der Mathematik: Cantor, Georg Ferdinand Ludwig

deutscher Mathematiker, geb. 3.3.1845 St. Petersburg, gest. 6.1.1918 Halle/Saale.

Cantor wurde als Sohn eines wohlhabenden Kaufmannes geboren, der 1856 mit seiner Familie nach Frankfurt/Main übersiedelte. 1862-1867 studierte er in Zürich, Göttingen und Berlin Mathematik, nachdem sein Vater zunächst für ein Ingenieurstudium plädiert hatte. Nach der Promotion in Berlin (1867) habilitierte sich Cantor 1869 in Halle, wo er 1872 a.o. und 1879 ordentlicher Professor wurde und bis zur Emeritierung 1913 tätig war.

Nach ersten Arbeiten zur Zahlentheorie wandte sich Cantor Fragen der Analysis, speziell der Darstellbarkeit von Funktionen durch trigonometrische Reihen, zu. In einer diesbezüglichen Arbeit publizierte er 1872 eine exakte Einführung der reellen Zahlen mittels Fundamentalfolgen und formulierte das nach ihm benannte Stetigkeitsaxiom. Zugleich wurde er dabei auf das Studium von Mengen sowie die Zuordnungen und Relationen zwischen ihnen geführt. Er definierte die Ableitung M′ einer linearen Punktmenge M als Menge aller Häufungspunkte und bemerkte, daß man in den Ableitungsordnungen über die natürlichen Zahlen hinausgehen kann. Diese um 1872 erfolgte Entdeckung transfiniter Ordinalzahlen kann als Beginn der Mengenlehre angesehen werden.

Ab 1874 widmete er sich dann der Klassifikation unendlicher Mengen mit Hilfe eineindeutiger Zuordnungen. Bereits Bolzano hatte erkannt, daß eine unendliche Menge eineindeutig auf eine ihrer echten Teilmengen abgebildet werden kann, und schon Gelehrte wie Galilei oder Leibniz hatten diese „sonderbare” Eigenschaft in Einzelbeispielen vermerkt. Ein erster großer Erfolg war 1874 Cantors Beweis, daß die Menge der algebraischen Zahlen abzählbar, die Menge der reellen Zahlen aber nicht abzählbar ist, sowie die sich als Folgerung ergebende Existenz transzendenter Zahlen. Im regen Briefwechsel mit Dedekind stehend setzte Cantor die Studien über Mengen fort und publizierte 1878 einen Beweis für die Gleichmächtigkeit der Menge der Punkte der Ebene bzw. des n-dimensionalen Raumes und der Menge der Punkte auf der Zahlengeraden, und löste damit umfangreiche Untersuchungen zur Frage der Dimensionsinvarianz aus.

In einer sechsteiligen Arbeit „Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten” (1879-1884) faßte Cantor seine Ergebnisse zusammen und begründete die Mengenlehre. Darin behandelte er sowohl grundlegende Begriffe der Mengenlehre, wie Menge, Teilmenge, Mächtigkeit, Ordinalzahl, wohlgeordnete Menge und die Mengenoperationen, als auch der mengentheoretischen Topologie, wie abgeschlossene, nirgends dichte, separierte und perfekte Menge.

Als Beispiel für eine nirgends dichte perfekte Menge konstruierte er im 1883 erschienen 5. Teil der Arbeit das nach ihm benannte Diskontinuum, das die Mächtigkeit des Kontinuums hat. Von dieser Menge konnte er nachweisen, daß sie in jeder nichtleeren perfekten linearen Punktmenge als homöomorphes Bild enthalten ist. Hauptgegenstand dieses 5. Teiles war der Aufbau einer Theorie transfiniter Ordinalzahlen, den er mit Hilfe von zwei Erzeugungsprinzipien vornahm. Er konstruierte eine Folge von Zahlklassen, wobei der Übergang zur nächsthöheren Zahlklasse mit einem Anwachsen der Mächtigkeit der Zahlklasse auf die nächsthöhere Mächtigkeit verknüpft war. In diesem Zusammenhang kam Cantor dann auf die bereits 1878 erstmals angedeutete Kontinuumshypo- these zurück und formulierte sie in der Aussage, daß das Kontinuum die Mächtigkeit der zweiten Zahlklasse habe. Cantors Hoffnung, diese Hypothese bald beweisen zu können, erfüllte sich nicht. Erst 1963 konnte P. Cohen eine abschließende Lösung des Problems geben: Setzt man das Zermelo-Fraenkelsche Axiomensystem (ZF) der Mengenlehre als widerspruchsfrei voraus, so ist auch das um die Kontinuumshypothese bzw. deren Negation erweiterte System widerspruchsfrei. Bereits 1938 hatte K. Gödel als wichtiges Teilresultat die Widerspruchsfreiheit des um Kontinuumshypothese und Auswahlaxiom erweiterten Systems ZF bewiesen.

1884 wurde Cantors Schaffen durch eine manisch-depressive Erkrankung abrupt unterbrochen. Die schweren Depressionen zwangen ihn in den folgenden Jahren immer wieder zu längeren Klinikaufenthalten. Zwischen den Krankheitsphasen arbeitete Cantor weiter an dem Ausbau und der Vervollkommnung seiner Theorie. Mitte der 90er Jahre trat er nochmals mit einer wichtigen zweiteiligen Arbeit (1895/97) hervor. Neben der Neufassung zahlreicher Grundbegriffe widmete er sich vor allem dem Aufbau einer Arithmetik der transfiniten Kardinalzahlen. Doch auch hier mußte er einige wichtige Fragen ungelöst lassen, so konnte er nicht nachweisen, daß in Analogie zur gewöhnlichen Arithmetik zwei Kardinalzahlen stets vergleichbar sind, d. h. stets eine der Beziehungen a = b, a< b oder a >b gilt.

Mit dem Begriff der Potenz von Kardinalzahlen gelang Cantor sowohl eine neue Formulierung der Kontinuumshypothese, die zugleich zur Verallgemeinerung derselben führte, als auch ein eleganter Beweis des 1878 erzielten Resultates über die Gleichmächtigkeit eines n-dimensionalen und eines eindimensionalen Kontinuums. Die Bedeutung der Mengenlehre für die gesamte Mathematik wurde erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erkannt, und auch zu diesem Zeitpunkt gab es noch zahlreiche Gegner dieser Theorie. Gefördert wurde die Anerkennung der Mengenlehre durch die Entwicklung solcher mathematischer Teilgebiete wie der Theorie reeller Funktionen, der Topologie, der Funktionentheorie und der Algebra. Dagegen haben neben der ausstehenden Klärung der Kontinuumshypothese und des Beweises des Wohlordnungssatzes vor allem die Anerkennung der Existenz des Aktual-Unendlichen und die noch fehlende begriffliche Exaktheit hemmend gewirkt.

Cantor hatte die philosophische Bedeutung der Mengenlehre erkannt und bemühte sich vor allem ab Mitte der 80er Jahre in mehreren Publikationen, sich mit philosophischen Problemen der Mengenlehre auseinanderzusetzen und seine Position, insbes. seine Auffassung zum Aktual-Unendlichen, zu verteidigen.

In dieser Zeit begann er, sich auch mit Literaturgeschichte zu beschäftigen, und versuchte verschiedene Autorenschaftsprobleme zu klären. Hartnäckig vertrat er die in jenen Jahren viel diskutierte These, daß F.Bacon der wahre Autor der Shakespeareschen Dramen sei und veröffentlichte ab 1896 mehrfach dazu.

Große Verdienste erwarb sich Cantor bei der Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV). Zwar hatte es ab 1867 mehrere Initiativen gegeben, über die bisherige Organisation der Mathematiker in einer Sektion der „Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ hinaus eine eigene Vereinigung zu gründen, doch den entscheidenden, erfolgreichen Durchbruch erzielte Cantor, der dann mit L. Königsberger und W. Dyck die Gründung 1890 vorbereitete. Cantor war bis 1894 der erste Vorsitzende der DMV.

  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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