Lexikon der Mathematik: projektive Geometrie
Teilgebiet der Geometrie, das geometrische Objekte und Relationen untersucht, die sich bei Zentralprojektionen nicht ändern (invariant bleiben).
Die Entwicklung der projektiven Geometrie schloß sich an die Lehre von der Perspektive an, aus der heraus H. Lambert und G. Monge im 18. Jahrhundert die darstellende Geometrie systematisch entwickelt hatten. Grundelemente der projektiven Geometrie waren jedoch bereits wesentlich früher bekannt. So formulierte und bewies G. Desargues bereits 1639 den heute nach ihm benannten Satz (Konfigurationstheorem, Desarguessche Geometrie), und 1640 verallgemeinerte B. Pascal den bereits auf Pappos von Alexandria zurückgehenden Satz:
Sind A, B, C Punkte einer Geraden, sowie A′, B′, C′ Punkte einer anderen Geraden in derselben Ebene, so liegen die Schnittpunkte BC′ ∩ B′ C, CA′ ∩ C′ A und AB′ ∩ A′ B auf einer Geraden.
Die Sätze von Desargues und von Pappos/Pascal waren jedoch zunächst lediglich Aussagen der euklidischen Geometrie, ebenso wie die darstellende Geometrie spezielle Aspekte der euklidischen Geometrie untersuchte. Die Entwicklung der projektiven Geometrie als eigenständige Theorie begann mit den Arbeiten von Jean-Victor Poncelet (1788–1867), der die projektiven Invarianten (Eigenschaften, die bei Zentralprojektionen erhalten bleiben) als Untersuchungsgegenstände der projektiven Geometrie betrachtete.
Zu den Objekten der projektiven Geometrie zählen die Geraden und Ebenen, da die Eigenschaft von Punkten, zu einer Geraden bzw. zu einer Ebene zu gehören, bei Projektionen erhalten bleibt. Hingegen sind die Kongruenz geometrischer Figuren sowie die metrischen Eigenschaften wie Abstände und Winkelgrößen keine projektiven Eigenschaften. Zu den interessanten Objekten der projektiven Geometrie zählen die Kegelschnitte, deren unterschiedliche Arten aus der Sicht der projektiven Geometrie jedoch nicht unterscheidbar sind.
Um die Inzidenzeigenschaften (Schnittverhalten) von Punkten, Geraden und Ebenen als projektive Eigenschaften auffassen zu können, muß die Menge der Punkte der euklidischen Ebene bzw. des euklidischen Raumes um die uneigentlichen (unendlich fernen) Punkte, Geraden und Ebenen erweitert werden. Dies folgt daraus, daß zwei parallele Geraden bei einer Zentralprojektion auf zwei sich schneidende Geraden abgebildet werden können (was der Sprechweise „Parallele Geraden schneiden sich im Unendlichen“ entspricht). Als uneigentliche Punkte werden daher Äquivalenzklassen zueinander paralleler Geraden aufgefaßt, als uneigentliche Geraden Mengen uneigentlicher Punkte, und als uneigentliche Ebene die Gesamtheit aller uneigentlichen Punkte des Raumes.
Die projektive Geometrie läßt sich also aus der euklidischen Geometrie durch die Hinzunahme der uneigentlichen Elemente aufbauen. Als projektive Punkte werden dabei alle eigentlichen und uneigentlichen Punkte, als projektive Geraden die um den zugehörigen uneigentlichen Punkt erweiterten euklidischen Geraden, und als projektive Ebenen die um die entsprechenden uneigentlichen Geraden erweiterten euklidischen Ebenen aufgefaßt. Der um die unendlich ferne Ebene erweiterte Raum heißt schließlich projektiver Raum.
Es ist nicht notwendig, die projektive Geometrie als Erweiterung der euklidischen Geometrie zu betrachten; sie kann durch ein eigenständiges Axiomensystem fundiert werden. Durch Karl Georg Christian von Staudt wurde 1847 ein solches Axiomensystem angegeben, das allerdings noch Lücken und Fehler aufwies, die 1873 von Felix Klein aufgedeckt wurden. Ein Axiomensystem der projektiven Geometrie besteht aus den Inzidenzaxiomen (die weitgehend mit denen der euklidischen Geometrie übereinstimmen), den Anordnungsaxiomen (Axiome der Geometrie), und einem Stetigkeitsaxiom.
Parallele Geraden bzw. Ebenen existieren in der projektiven Geometrie nicht; zwei Geraden schneiden sich stets in einem Punkt und zwei Ebenen in einer Geraden.
Zu den wichtigsten Eigenschaften der projektiven Geometrie gehört das Dualitätsprinzip. In der ebenen projektiven Geometrie sind Punkte und Geraden zueinander duale Objekte, d. h., bei Vertauschen der Begriffe „Punkt“ und „Gerade“ in den Aussagen über Punkte und Geraden entstehen wiederum wahre Aussagen. So sind die Aussagen
Zu zwei voneinander verschiedenen Punkten A und B existiert stets genau eine Gerade, der A und B angehören.
und
Zu zwei voneinander verschiedenen Geraden a und b existiert stets genau ein Punkt, der sowohl zu a als auch zu b gehört.
zueinander dual.
Die entsprechenden dualen Aussagen gelten für alle Axiome und Sätze der projektiven Geometrie. Insbesondere entsteht die duale Aussage des Satzes von Desargues gerade durch Umkehrung dieses Satzes.
Während in der ebenen projektiven Geometrie Punkte und Geraden duale Objekte sind, besteht im projektiven Raum eine Dualität von Punkten und Ebenen.
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