Lexikon der Neurowissenschaft: chemische Sinne
chemische Sinne [Mehrzahl; von griech. chemeia, chymeia = Chemie],Echemical senses, spezialisierte Strukturen, mit denen Organismen in der Lage sind, mit zum Teil hoher Empfindlichkeit ( siehe Tab. 1 ) auf chemische Stoffe zu reagieren (Chemorezeption). Kenntnisse über die chemischen Sinne der Wirbellosen sind – mit Ausnahme der Insekten – noch relativ gering. Bachplanarien loB. bemerken ausgelegte Futterstücke aus einer Entfernung von ca. 8 cm. Die hierfür verantwortlichen chemosensorischen Zellen befinden sich an den Seitenrändern des Kopfes. Krebstiere besitzen chemosensorische Zellen an den Außengliedern der ersten Antenne, den Mundgliedmaßen und Thorakalbeinen, bei Spinnentieren liegen die chemosensorischen Zellen an den Mundgliedmaßen und in der Mundhöhle. Die Unterteilung der chemischen Sinne in Geruchssinn und Geschmackssinn ( siehe Tab. 2 ) entstammt der menschlichen Erfahrung, gilt aber mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund anatomischer und physiologischer Kriterien auch für die Wirbeltiere und Insekten. Während die wichtigste Bedeutung des Geschmackssinns, auch als Nahsinn bezeichnet, in der Nahrungsprüfung liegt, hat der Geruchssinn, auch Fernsinn genannt, neben der Nahrungsfindung noch weitere Funktionen erlangt. Mit Hilfe von Duftstoffen werden Geschlechtspartner angelockt (Pheromone, Sexuallockstoffe), Reviere und Futterquellen markiert, eine Kommunikation im Staatenverband sozialer Insekten ermöglicht oder Warnsignale abgegeben. Weiterhin kommt dem Geruchssinn eine Bedeutung bei der Orientierung (Chemotaxis) sowie der Warnung vor schädlichen bzw. giftigen Substanzen oder Gasen zu. Eine spezielle Form der Chemorezeptoren stellen die Sauerstoff-Rezeptoren des Kreislaufsystems der Säugetiere dar. Diese im Glomus caroticum bzw. aorticum gelegenen Rezeptoren reagieren auf eine Änderung des Sauerstoffgehaltes im Blut. Ihre Aktivität wird direkt den atmungs- und kreislaufregulierenden Zentren des Nervensystems zugeleitet und löst dort reflexartig ablaufende Kompensationsreaktionen aus (Atmungsregulation). Kohlendioxid-Rezeptoren sind auf den Antennen von manchen Insekten nachweisbar.
chemische Sinne
Tab. 1: Schwellenkonzentrationen für chemische Sinnesreize
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Escherichia coli | Zellmembran | L-Asparaginsäure | 4·10-8 | |
D-Glucose | 4·10-7 | |||
Aplysia sp. (Seehase) | Tentakel | Asparaginsäure | 10-9 | |
Octopus sp. (Krake) | Armsaugnapf | Säuren, Chinin | bis 10-8 | |
Homarus sp. (Hummer) | Antenne | Prolin | 10-7 | |
Apis sp. (Biene) | Mundwerkzeuge | Saccharose | 6·10-2 | |
Pieris brassicae, Larve (Kohlweißling) | Antenne | Sinigrin | 10-5 | |
Anguilla sp. (Aal) | Nase | α-Ionon | 10-15 | |
β-Phenylethylalkohol | 2,8·10-19 | |||
Ictalurus sp. (Katzenwels) | Bartel | L-Alanin | 10-11 | |
Homo sapiens (Mensch) | Zunge | Saccharose | 10-2 | |
Chininsulfat | 8·10-6 | |||
Moleküle pro cm3 Luft | ||||
Bombyx mori (Seidenspinner) | Antenne | Sexuallockstoff (Bombykol) | 2·102 | |
Apis mellifera (Honigbiene) | Antenne | Königin-Pheromon | 104 | |
α-Ionon | 1010 | |||
Propionsäure | 4,3·1011 | |||
Canis lupus (Hund) | Nase | α-Ionon | 3·104 | |
Propionsäure | 2,5·105 | |||
Diacetyl | 103 | |||
Buttersäure | 9·103 | |||
Homo sapiens (Mensch) | Nase | Propionsäure | 2,2·1010 | |
Ethylcapronat | 4,0·109 | |||
Vanillin | 5,0·109 | |||
Methylalkohol | 1016 | |||
sek. Butylmercaptan | 107 | |||
α-Ionon | 8,8·107 |
chemische Sinne
Tab. 2: chemische Sinne bei Wirbeltieren
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Rezeptoren | sekundäre Sinneszellen | primäre Sinneszellen | |
Lage | Zunge | Nasen- und Rachenraum | |
wichtigste afferente Hirnnerven | VII., IX., X. | I. | |
adäquater Reiz | organische oder anorganische Moleküle, meist nicht flüchtig | meist organische, flüchtige Moleküle, werden erst in Rezeptornähe in flüssiger Phase gelöst | |
Reichweite | Nahsinn | Fernsinn + Nahsinn | |
unterscheidbare Qualitäten | wenig; 4 Grundqualitäten | sehr viele, schwer abgrenzbare Qualitätsklassen | |
absolute Empfindlichkeit | relativ gering | z.T. sehr hoch | |
biologische Funktion | Nahrungskontrolle; Steuerung der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung | Umweltkontrolle, Nahrungskontrolle, Nahrungssuche, Kommunikation, Fortpflanzung, Orientierung, Beeinflussung von Emotionen | |
Lebensdauer der Sinneszellen | ca. 2 Wochen | ca. 4 Wochen |
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