Lexikon der Optik: Disparation
Disparation, 1) Geometrische D. Darunter versteht man nach DIN 5340-76 den Abstand des Bildpunktes in einem Auge von derjenigen Netzhautstelle dieses Auges, die zur abbildungsgleichen Netzhautstelle im anderen Auge korrespondierend liegt. Die D. kann im Längenmaß auf der Netzhaut angegeben werden oder im Winkelmaß, bezogen auf den bildseitigen Knotenpunkt des Auges. Nach der Richtung, in der die Abweichung erfolgt, unterscheidet man:
Querdisparation (D. parallel zur Verbindungslinie der beiden Augendrehpunkte) und Vertikaldisparation (D. senkrecht zu dieser Verbindungslinie).
Bei der Abbildung auf disparate Netzhautstellen tritt normalerweise Doppeltsehen ein.
2) Funktionelle D. Der wahrgenommene Seheindruck hängt nicht von der geometrischen D. ab, sondern von dem funktionellen Zusammenhang der beiden Netzhäute. Netzhautstellen der beiden Augen, die einander in dem Sinne entsprechen, daß die auf ihnen entstehenden Bilder zu einem Einfachbild verschmolzen werden, die sogenannten korrespondierenden Netzhautstellen (Korrespondenz), sind daher in der Regel nicht mit den geometrischen Deckpunkten identisch. Beidäugiges Einfachsehen findet jedoch auch dann noch statt, wenn der Bildpunkt im anderen Auge nicht genau mit dem korrespondierenden Punkt zusammenfällt, sondern in eine gewisse Umgebung davon fällt (Panum-Bereich). Man spricht dann von funktioneller D. Sie hat bei der Entstehung, Prüfung und Korrektion von Augenstellungsfehlern große Bedeutung.
3) Fixationsdisparation. Mit diesem Begriff bezeichnet man die funktionelle D. speziell für den Fixationspunkt. Sie tritt bei Heterophorien bzw. Winkelfehlsichtigkeit auf, wenn die andauernde muskuläre Kompensation des Augenstellungsfehlers, d.h. die motorische Kompensation der Heterophorie, nicht aufrechterhalten werden kann. Die Heterophorie beginnt dann zu dekompensieren (Dekompensation). Dabei weicht die Vergenzstellung der Augen, d.h. die Richtung der Fixierlinien, etwas von der Arbeitslage in Richtung Ruhestellung ab. Meistens bleibt im Führungsauge die Fixierlinie auf den binokularen Fixationspunkt gerichtet, und im abweichenden Auge wird dieser nicht mehr im idealen Korrespondenzzentrum, in der Netzhautgrubenmitte, sondern innerhalb des foveolären Panum-Bereiches abgebildet (disparate Abbildung). Dank der nun einsetzenden sensorischen Fusion für im Panum-Gebiet disparat abgebildete Objektpunkte wird nun auch der binokulare Fixationspunkt binokular einfach gesehen. Abhängig vom Alter der Heterophorie und von deren Größe folgt das foveale Panum-Gebiet dem Drang zur weiteren Dekompensation. Es erweitert sich zunächst in Richtung der Vergenzruhelage, z.B. bei Esophorie in nasaler Richtung. Dieser Zustand wird als disparate Fusion oder Fixationsdisparation erster Art bezeichnet.
Dauert eine disparate Fusion lange an, so entsteht im abweichenden Auge aus dem disparaten Fusionszentrum (Bildort des binokularen Fixationspunktes) ein neues Korrespondenzzentrum. Dieser zweite Zustand der Dekompensation heißt disparate Korrespondenz oder Fixationsdisparation zweiter Art. Er hat gegenüber der Netzhautgrubenmitte eine echte Korrespondenzverschiebung (Änderung der Richtungswerte, Lokalisationswandel) zur Folge.
Dieser Sachverhalt darf nicht mit der anomalen retinalen Korrespondenz verwechselt werden, bei der eine unterentwickelte Korrespondenzbeziehung zwischen beiden Augen besteht, und daher auch nach Wiederherstellung einer bizentralen Abbildung durch ein Prisma keine normale Netzhautkorrespondenz mehr erreichbar ist. Bei der Fixationsdisparation hingegen bestehen alle Anlagen zur normalen Netzhautkorrespondenz, so daß nach Wiederherstellung der bizentralen Abbildung durch ein Prisma entweder sofort oder nach langsamem Hemmungsabbau und Rückstellung der Richtungswertverschiebung eine ideale bizentrale Korrespondenz erreicht werden kann.
Optometrisch ergeben sich folgende Befunde:
Disparate Fusion im normalen Panum-Gebiet: Es findet eine disparate Abbildung des binokularen Fixationspunktes nur wenig (etwa 1 pdpt) außerhalb der Mitte der Foveola des abweichenden Auges statt. Der binokulare Visus ist nur wenig höher oder gleich dem monokularen. Der Maximalvisus und die Stereowahrnehmung sind nur mit zeitlicher Verzögerung erreichbar, weil zur idealen bifoveolären Abbildung des Fixationspunktes motorisch nachfusioniert werden muß. Dadurch kommt es zu starker Ermüdung beim Nahesehen mit zeitweiligen Ansätzen zu Diplopie.
Disparate Fusion im erweiterten Panum-Gebiet: Das Panum-Gebiet kann sich bis etwa 4 pdpt erweitern, in extremen Fällen sogar bis zu etwa 9 pdpt. Daher werden die schon beim normalen Panum-Sehen auftretenden Sehstörungen und Anstrengungsbeschwerden jetzt noch verstärkt, besonders beim Nahesehen. Im abweichenden Auge, bei alternierenden Führungsaugen auch in beiden Augen, bilden sich Hemmungen aus, und zwar in der Netzhautgrubenmitte und im Fusionszentrum. Diese nur im Binokularsehen vorliegenden Hemmungen schwächen die Fusionsreize ab, was das motorische Nachfusionieren erschwert. Die Vergenzbreiten werden eingeschränkt.
4) Junge disparate Korrespondenz. Die bisher genannten Sehstörungen verstärken sich weiter, insbesondere die Einstellungsverzögerung für die Stereowahrnehmung. Die Tiefensehschärfe verringert sich.
5) Alte disparate Korrespondenz. Die Fähigkeit zum motorischen Nachfusionieren geht verloren. Daher ist beim Binokularsehen der Visus des abweichenden Auges ständig verringert. Entweder besteht noch Stereosehen mit falscher Richtungswahrnehmung und verringerter Tiefensehschärfe, oder die räumliche Tiefenlokalisation aufgrund querdisparater Abbildung ist völlig verlernt worden. Liegt alte disparate Korrespondenz im erweiterten Panum-Gebiet vor, dann verfestigen sich die Hemmungen im abweichenden Auge so sehr, daß sie sich auch im Monokularsehen auswirken. Dann treten auch ein monokular verringerter Visus sowie ein- und beiderseitige Fixationsschwierigkeiten auf. Völlig dekompensierte Heterophorien mit alter disparater Korrespondenz sind mit beträchtlichen Funktionseinschränkungen des abweichenden Auges und damit des gesamten Sehorgans verbunden, aber sie führen zu keinen Beschwerden beim Sehen in die Ferne. Aufgrund der sich auf die Ferneinstellung beziehenden Hemmungen sind aber in diesen Fällen sehr starke Nahsehstörungen zu erwarten.
Die Korrektion der Fixationsdisparation erfolgt mit Hilfe von prismatischen Brillengläsern, deren Werte am günstigsten mit dem Polatest nach der Vollkorrektionsmethodik von H.-J. Haase bestimmt werden.
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