Metzler Philosophen-Lexikon: Rousseau, Jean-Jacques
Geb. 28. 6. 1712 in Genf;
gest. 2. 7. 1778 in Ermenonville
Selbstbewußte Bürger wie der Deutsche Joachim Heinrich Campe wallfahrteten ebenso wie Ludwig XVI., Marie Antoinette, Franklin, Robespierre oder Napoleon I. an das Grab R. s. In einem eigentümlichen Ineinanderübergehen von ethischer Person und literarisch-philosophischer Äußerung des Autors R. wurde er ihnen allen auf unterschiedliche Weise zum »Deuter des Lebens und Helfer der Weisheit« (Martin Rang), dessen Medaillons und Büsten man wie Heiligenbilder verehrte. Doch der Durchbruch zur europäischen Berühmtheit kam spät, und er beendete Jahrzehnte einer entbehrungsreichen, von vielerlei Umwegen und Niederlagen gekennzeichneten Suche R.s nach der eigenen Stimme im polyphonen Chor der Aufklärungszeit. In Genf wurde R. als jüngerer von zwei Söhnen eines Uhrmachers und einer Calvinistin 1712 geboren, doch seine Mutter überlebte die Geburt nur um wenige Tage. »Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück.« Früh unterwies ihn der um eine für seinen Stand sorgsame Erziehung bemühte Vater bereits im Lesen, das dem phantasievollen Jungen schon bald zur Leidenschaft wurde. »Nur meiner ersten Lektüre entsinne ich mich und ihres Eindrucks auf mich. Es ist die Zeit, von der an ich mein ununterbrochenes Selbstbewußtsein datiere.« Im Kern bildeten sich hier durch die Lektüre sentimentaler Romane sowie französischer Autoren und Übersetzungen antiker Klassiker und Historiker aus der vom Großvater geerbten Bibliothek die für seine literarische Produktion so bedeutsame überschwengliche Empfindsamkeit wie auch die Fähigkeit aus, unter vollkommenen und erfundenen Figuren einer Phantasiewelt zu leben. Plutarch wurde R.s Lieblingslektüre, seine Begeisterung für die Ideale antiken Patriotismus und Republikanismus gefördert, die auf väterlichen Einfluß ebenso zurückgeht und seine entstehenden politischen Ideen mitformt wie der später auch öffentlich bekundete Stolz, Bürger (»citoyen«) der freien Republik Genf zu sein. Als der Vater Genf verlassen mußte, um einem drohenden Gerichtsverfahren zu entgehen, wurde R. bei einem Pfarrer in der Nähe von Genf zur Erziehung in Pension gegeben, doch mußte er schon bald eine Lehre bei einem Genfer Kupferstecher antreten. Sein großer Lesehunger ließ ihn die Tyrannei des »schlechten Meisters« und das Gefühl sozialer Deklassierung vergessen, bis er sich – zunächst ohne festen Plan – auf den Weg ins katholische Savoyen begab, weil ihm die Tore seiner calvinistischen Vaterstadt durch Zufall verschlossen geblieben waren. Auf Vermittlung eines katholischen Geistlichen machte R. die Bekanntschaft von Madame de Warens, einer zum Katholizismus konvertierten Calvinistin; von ihr sogleich nach Turin geschickt, tritt er dort 1728 – freilich ohne innere Überzeugung – zum Katholizismus über. Es folgten vier unstete und abenteuerliche Wanderjahre, in deren Verlauf R. u. a. das Leben eines Dieners in verschiedenen Turiner Adelshäusern kennenlernte und erstmalig eine Fußreise nach Paris unternahm. Von dort kehrte er nach Chambery zurück, dem neuen Wohnsitz der verehrten Gönnerin, bei der er Aufnahme fand und die ihm in den entscheidenden Jahren seiner Jugend sowohl Mutter wie Geliebte wurde.
Diese Lebensperiode, an deren Aufenthalte in Les Charmettes der erwachsene R. ein friedlichbescheidenes Glück maß, diente trotz längerer Unterbrechungen und Versuche, u. a. als Katasteramtsschreiber und Musiklehrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen, im wesentlichen der Aneignung seiner Bildung durch intensive autodidaktische Studien. Sie galten nicht nur den großen antiken und modernen Autoren, sondern auch theologischem und philosophischem Schrifttum (u.a. Pierre Bayle, François Fénelon), dem er sich neben naturwissenschaftlichen Experimenten und dem Erwerb musikalischer Kenntnisse widmete. Die wachsende Entfremdung zu Madame de Warens machte schließlich die Trennung notwendig. R. machte sich mit wenig Geld, aber einigen Gedichten und Entwürfen von Stücken und Singspielen auf den Weg in die Metropole. Erstaunlich schnell faßte er im literarischen und gesellschaftlichen Paris Fuß (1742). Auf die trotz der Fürsprache Bernard de Fontenelles und René de Réaumurs erfolgende Ablehnung seiner der »Académie des Sciences« am 23. August 1742 dargelegten neuen Zahlennotenschrift reagierte R. mit der Ausarbeitung seiner Dissertation sur la musique moderne (1743; Abhandlung über die moderne Musik) und wendete sich der Komposition zu. Leidenschaftlich trat R. für die italienische Musik ein, die er in Venedig kennenlernte, wo er 1743/44 durch Zufall als Sekretär des neuernannten französischen Botschafters wirken konnte. Hier wurde er mit der Praxis der Diplomatie und mit vielen Einzelheiten der Staatsverwaltung bekannt. Aufgrund dieser Erfahrungen faßte er den Plan eines großangelegten Werks mit dem Arbeitstitel »Institutions politiques«. Teile davon gingen in dem späteren Encyclopédie-Artikel »Politische Ökonomie« und im Contrat Social auf. »Ich hatte gesehen, daß alles im letzten Grunde auf die Politik ankäme und daß, wie man es auch anstellte, jedes Volk stets nur das würde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen würde.« Nach einem Zerwürfnis mit dem unfähigen Botschafter, dessen Berichte nach Paris R. selbständig verfaßte, kehrte er über Genf wieder nach Paris zurück. Hier begegnete er 1745 der Wäscherin Therèse le Vasseur, die er nach über 20jährigem Zusammenleben 1768 heiratete und mit der er fünf Kinder hatte, die R. alle im Findelhaus aufziehen ließ. Die Stellung als Sekretär der Adelsfamilie Dupin-Francueil, in deren Haus ihm Freundschaft und Unterstützung gewährt und er mit seiner späteren Mäzenin Madame d’Epinay bekannt wurde, sicherte ihm eine bescheidene wirtschaftliche Existenz und bot ihm zugleich Einblicke in Wirtschafts- und Finanzfragen. In diesen Jahren machte R., dessen Vater ihm nach seinem Tod 1747 eine schnell verbrauchte Erbschaft hinterlassen hatte, »die Bekanntschaft mit allem, was es in Paris in der Literatur gibt.« So auch mit Pierre de Marivaux, der ihm bei der Überarbeitung seiner Komödie Narcisse (1753; Narziß oder der Liebhaber seiner selbst) half, die als einziges seiner sieben bis 1754 verfaßten Theaterstücke veröffentlicht und von der Comédie Française aufgeführt wurde. Er fand Eingang in den Kreis um den Baron d’Holbach und befreundete sich mit dem noch unbekannten Denis Diderot; dieser machte ihn mit Étienne de Condillac bekannt, der gerade sein sensualistisches philosophisches Programm ausarbeitete. Als einziger Musiktheoretiker im Kreis der befreundeten Enzyklopädisten wurde R. 1749 mit den Artikeln zur Musik beauftragt, die er später in überarbeiteter Form in seinem für das Studium der französischen Musik des 18. Jahrhunderts grundlegenden Dictionnaire de musique (1767) verwendete.
In das Jahr 1749 fiel aber auch seine eigentliche Geburtsstunde als Schriftsteller, als er auf dem Weg zu seinem in Vincennes arretierten Freund Diderot in der Oktobernummer des Mercure de France auf die Preisfrage der Akademie in Dijon stieß, »ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe«. Der erschütternden Begegnung mit dieser Frage hat er später den Charakter eines Erweckungserlebnisses zu geben versucht. »Wenn je etwas einer plötzlichen Erleuchtung gleichkam, so war es die Bewegung, die sich in mir bei dieser Lektüre vollzog; mit einemmal fühlte ich, wie mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird.« Was er in der inspirierten Vision einer Erweiterung seines Wissens und seiner Kenntnisse »gesehen und empfunden« hatte, drückte R. auf Anraten Diderots in jener Abhandlung aus, mit der er die Preisfrage 1750 auf paradoxe, d.h. von der üblichen fortschrittsoptimistischen Ansicht seiner Zeit abweichenden Form mit einem klaren Nein beantwortete. Diese Schrift (Discours sur les sciences et les arts) bezeichnet »den Punkt, an dem Rousseau zu sich selbst und der mit seinem Namen verbundenen Philosophie findet« (Christoph Kunze). Erstmals entwickelt R. in seiner weniger durch innere Logik und konsistente Argumentation als durch polemische Rhetorik und leidenschaftliches Pathos sich auszeichnenden Schrift die These einer nichtentfremdeten Frühzeit der menschlichen Gesellschaft; ihr Niedergang vollzieht sich zwangsläufig mit einem außerordentlichen Aufschwung der »Künste« (d.h. Gewerbe und Kunsthandwerk) und Wissenschaften; in den Augen R.s ist dieser Aufschwung mit Blick auf den sittlichen Zustand der Gegenwart moralisch wie politisch zu verurteilen. Die wachsende soziale Differenzierung, die sich u. a. in einer gesteigerten Arbeitsteiligkeit äußert, hat Konkurrenzneid, Ungleichheit und Feindschaft der Bürger untereinander zu Folge. Ihre ideelle und soziale Homogenität wird aufgelöst, und damit verliert die Tugend (»vertu«) als konstitutive Eigenschaft des Bürgers ihren »ursprünglichen« Wert als Garant der Gemeinschaft: »Die Staatsmänner der Alten redeten immerfort von Sitten und von Tugend; die unsrigen reden von nichts als vom Handel und vom Gelde.« R. gewann mit seiner Schrift überraschend den Preis und wurde dadurch über Nacht berühmt. Damit ging zugleich eine grundlegende »Reform« seines Lebens einher, die ihn bald in wachsende Entfremdung, und schließlich zum Bruch mit seinen Freunden führte. »Von diesem Zeitpunkt datiert mein Entschluß, meine Handlungen meinen Grundsätzen (d.h. Freiheit und Tugend) gemäß einzurichten und kühnen Schritts den herrschenden Vorurteilen meines Jahrhunderts entgegenzutreten.« Zunächst ergriff R. im Buffonistenstreit an der Seite des Barons von Grimm und anderer Enzyklopädisten u. a. mit seiner Lettre sur la musique française, die 1753 wie »eine Brandfackel« (Grimm) wirkte, Partei für die italienische Musik, wofür ihn Opernmitglieder »in effigie« erhängten. Gleichwohl wird sein meisterliches Singspiel Le devin du village (1752; Der Dorfwahrsager) nach der gefeierten Uraufführung vor dem Hof Ludwigs XV. in Fontainebleau ein bemerkenswerter Publikumserfolg.
Die Weiterführung seiner sozialkritischen Gedanken in jenen wichtigen Streitschriften, mit denen er 1753/54 auf einige der 67 Kritiken seiner beredten Zeitdiagnose antwortete, erfuhr ihre systematische Ausarbeitung in seinem Discours sur l origine et les fondements de l inégalité parmi les hommes (1755; Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen), mit der er sich neuerlich um den Preis der Akademie, jedoch erfolglos bewarb, und die mit großer Beachtung 1755 in Amsterdam erschien. »Rousseaus philosophischstes Werk« (Leo Strauss), das er selbst eine »geschichtliche Untersuchung der Moral« nannte und das einen der Ursprünge des modernen Kulturbewußtseins darstellt, lieferte eine grundsätzliche Zivilisations-, Geschichts- und Gesellschaftskritik. Sie verbindet einen anthropologischen Optimismus, der sich gegen Hobbes richtet, mit einer zutiefst pessimistischen Philosophie der Geschichte, die als allenfalls zu verlangsamender, gleichwohl irreversibler Verfallsprozeß gedeutet wird. »Die menschliche Natur schreitet nicht zurück«. Für deren Begriff aber entwirft R. in Abstraktion von allen sozialen und geschichtlichen Bedingungen das Bild der hypothetischen Gestalt des Naturmenschen, der als asoziales und sprachloses Wesen vor aller Entwicklung und Geschichte steht, dessen Instinktfreiheit und Vervollkommnungsfähigkeit (»perfectibilité«) aber die als negativ empfundene Entwicklung der Menschheit ermöglicht. Geschichte läßt sich damit nicht mehr als Selbstentfaltung einer sie schon immer umgreifenden natürlichen Bestimmung des Menschen deuten, sondern nur noch als widernatürliches Heraustreten aus dem Naturzustand, das keinesfalls notwendig, sondern nur durch äußere Zufälle wie Naturkatastrophen u. a. bedingt wurde. Im Namen einer nichtteleologischen Natur machte R. damit auf beunruhigend neue Weise »der Gesellschaft den Prozeß, ohne einen Schuldigen zu nennen« (Henning Ritter). Das gegenwärtige Übel der Ungleichheit des materiellen Besitzes und der Lebensbedingungen wird als Produkt einer von R. in ihren wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Konsequenzen durchdachten Dynamik der Gesellschaftsbildung erkennbar, deren »wesensverändernde Metamorphose des ganzen Menschseins« (Kurt Weigand) durch jenes Moment der Ungleichheit infrage gestellt ist, das im Ursprung beim Privatbesitz, bei der Arbeitsteilung und einer betrügerischen politischen Institution liegt, die »zur Besitzdifferenzierung die rechtliche Sicherung des Eigentums und die politische Unterwerfung der Besitzlosen hinzufügt« (Iring Fetscher).
Daß R. dabei am äußersten Grad die Ungleichheit im zügellosen Despotismus der zeitgenössischen Monarchien unaufhaltsam in einen »neuen Naturzustand« des Rechts der Stärkeren umkippen sah, liefert die kritische Folie zu jenen großen Werken, die in teils gleichzeitiger Arbeit auf dem Höhepunkt seines Schriftstellerdaseins bis 1761 entstanden. In dieser Zeit lebte R. zunächst als Gast der Madame d’Epinay und nach dem Bruch mit ihr und den Enzyklopädisten um Grimm und Diderot, den R.s moralische Theater- und Gegenwartskritik in seiner Lettre à M. d Alembert sur les spectacles (1758; Brief an d Alembert über das Schauspiel) öffentlich dokumentierte, auf Einladung des Herzogs von Luxemburg in dessen Petit Châteauˆ in der ländlichen Abgeschiedenheit von Montmorency. 1761 erschien in Paris sein sentimentaler Liebesroman La Nouvelle Héloïse, der ein überragender europäischer Erfolg in allen Leserschichten nicht zuletzt deshalb wurde, weil er Moral und leidenschaftliches Gefühl gegen Konventionen betonte und die lyrische Seite der Natur entdeckte. Die offene Darstellungsform dieser Lettres de deux amants, habitants d une petite ville aux pieds des Alpes (1761; Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuß der Alpen) bringt in vielfacher Brechung die theoretische Perspektive des unaufhebbaren Widerspruchs der natürlichen und gesellschaftlichen Bestimmung des Menschen zur Erfahrung der Liebenden. Das auf strikte Beachtung der Tugend beruhende Glück der Romanutopie einer Gemeinschaft der neuen Gleichheit erweist der Tod seiner Heldin, den sie als Erlösung vom Widerstreit zwischen Neigung und Pflicht begreift, als schönen Schein, was den Roman am Ende in einer unauflöslichen, den Leser zur Teilnahme zwingenden Ambiguität verharren läßt.
Noch im selben Jahr schloß der von Krankheiten geplagte R., der sich im Sommer seinem Ende nahe glaubt, die großen Manuskripte des Émile und des Contrat social ab (beide 1762). Sein Werk Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts liefert die rechts- und staatsphilosophische Konstruktion der Prinzipien einer legitimen politischen Ordnung, die den Bruch zwischen abstraktem Recht und der dadurch geregelten Wirklichkeit nicht entstehen läßt, um somit einen normativen Ordnungsbegriff für die praktische Kritik bestehender Institutionen bereitzustellen. »Man muß wissen, was sein soll, um das, was ist, recht beurteilen zu können.« R. suchte im Contrat social die Lösung für die »Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« Die Individuen entäußern sich danach in einem ursprünglichen konstitutiven Akt der Vergesellschaftung ihrer natürlichen Freiheit durch eine freiwillige Assoziation zugunsten des Gemeinwillens (»volonté générale«), in dessen auf die Selbsterhaltung des Ganzen und dadurch auf die Sicherheit des Einzelnen gerichteten Entscheidungen sie notwendig ihren eigenen Willen wiedererkennen. Sie erwerben jene »wahre Freiheit, die in der Bindung aller an das Gesetz besteht«, das sie sich selbst gegeben haben und vor dem sie alle jene höhere Form der Gleichheit gewinnen, zu deren Gunsten sie auf die natürliche Gleichheit verzichten müssen. Die ihrem Wesen nach strikt egalitäre und auf Volkssouveränität abzielende »dramatisierte Theorie des Eintritts in die Institution« (Jean Starobinski) bindet deren Fortbestand jedoch an ein überschaubares republikanisches Gemeinwesen von Kleinbesitzern, das seine relative Homogenität der Besitzverhältnisse und Interessen durch eine konservative Wirtschaftspolitik sichern muß. Die lebenslange Bindung des selbst aus dem Genfer Kleinbürgertum stammenden R. an die Ideologie des »Volks«, d.h. der moralisch integren kleinbürgerlichen Schichten offenbart hier der Versuch, »unter den Bedingungen einer idealisierten Kleinbürger-Gesellschaft ein Stück des antiken Polisideals zu konservieren« (I. Fetscher). R.s Entwurf liest sich aber gleichzeitig auch als ein »Abgesang« (Robert Spaemann) auf die politische Existenz des Bürgers, der in der totalen Identifikation mit dem Kollektiv die im Heraustreten aus dem Naturzustand verlorene Einheit mit sich selbst zurückgewinnt.
»Diese beiden Worte: Vaterland und Staatsbürger müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden«, heißt es denn auch im Émile ou de l éducation (Émile oder über die Erziehung) – jenem Buch, für dessen Lektüre Kant seinen ansonsten pedantisch eingehaltenen Abendspaziergang nur ein einziges Mal in vielen Jahren versäumt hat, um ergriffen zu erklären: »Rousseau hat mich zurechtgebracht«, denn »ich lerne die Menschen ehren«. Der Newton der sittlichen Welt, wie ihn Kant verstand, beschrieb im Émile keine »Methode für Väter und Söhne«, sondern eine allgemeine Erziehungslehre, die in einem philosophisch-anthropologischen Entwurf den menschheitsgeschichtlichen Übergang vom Natur- zum Kulturzustand auf die Geschichte eines Subjekts projizierte, das in der umfassenden Entfaltung seiner Natur am Ende zum vollkommenen Menschen erzogen wird. Das paradigmatisch entwikkelte Programm einer privaten, häuslichen »Erziehung der Natur« zielt nicht mehr auf die Eingliederung in eine als korrupt erkannte Polis, sondern auf die Verinnerlichung des Gemeinwillens als Gewissen ab. »Im Gewissen gewinnt der moderne Mensch seine Autarkie, seinen absoluten Schwerpunkt in sich zurück. Er wird auf der Höhe des zivilisatorischen Niveaus der Epoche wieder zum natürlichen Menschenˆ« (R. Spaemann). Thron und Altar aber erregte vor allem die Forderung eines dogmenfreien Christentums im Glaubensbekenntnis des Émile, so daß dieser zusammen mit dem Contrat social von der Zensur und dem Erzbischof in Paris, wenig später auch in Genf, dessen Bürger R. nach seinem Wiedereintritt in die calvinistische Kirche 1754 erneut geworden war, verboten und öffentlich verbrannt wurde.
Um sich der Verhaftung zu entziehen, verließ R. 1762 Frankreich; für den Fünfzigjährigen begann die ruhelose Zeit des Exils: zunächst in der Schweiz, wo er dreimal verjagt wurde, dann in England auf Einladung des Philosophen David Hume, mit dem sich R. nach 13 Monaten völlig überwarf, und schließlich in verschiedenen Gegenden Frankreichs, bis er mit seiner Frau 1770 wieder nach Paris zurückkehrte. Die Erfahrung der erlittenen Verfolgungen verdichtete sich für den mit allen Freunden zerstrittenen R. in den letzten Jahren seines einsamen, zurückgezogenen Lebens in Paris zur Zwangsvorstellung eines durch die Partei der Enzyklopädisten inszenierten Komplotts, durch den er seine Person zu »einem Ungeheuer« entstellt glaubte. Schreibend suchte er sich deshalb in seinem Anspruch zu rechtfertigen, in einer nur zum Schein existierenden öffentlichen Sittlichkeit für sich selbst Tugend und Wahrheit reklamieren zu können und daher zur Existenzform des in Übereinstimmung mit sich selbst, jedoch in Distanz zur Gesellschaft lebenden »solitaire« berechtigt zu sein. Aus diesem Kampf der Schrift gegen das »Werk der Finsternis« entstanden neben einigen apologetischen Traktaten und den Projekten einer Verfassung für Polen und Korsika seine großen autobiographischen Schriften, die erst aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden. Ihr Versuch der Verteidigung der Person eröffnete gleichzeitig neue Möglichkeiten der literarischen Erschließung von Erfahrungsräumen des modernen Bewußtseins. Für die Geschichte der europäischen Autobiographie sind R.s Confessions (1782/89; Bekenntnisse) von zentraler Bedeutung gerade deshalb, weil er in diesem rückhalt- und schonungslosen Werk der Selbstdarstellung selbst die peinlichsten Selbstentblößungen und die kühne Darstellung seiner erotischen Kindheitsund Jugenderfahrungen zum ausschließlichen Bekenntnis zu sich selbst und seiner unvergleichlichen Individualität nutzt, um mit der Fundierung in der autobiographischen Erfahrung zugleich die Überzeugungskraft seiner Geschichtsphilosophie zu stärken. Wie er die spätere öffentliche Selbstverteidigung gegen die Verleumdungskampagne in dem Gedankenexperiment der dialogisierten Verteidigungsrede Rousseau juge de Jean Jacques (posthum 1780–82), die R. vergeblich auf dem Altar von Notre Dame niederzulegen versuchte, wollen auch die unvollendeten Rêveries du promeneur solitaire (1782; Träumereien eines einsamen Spaziergängers), R.s wahres Wesen formulieren. In diesen Aufzeichnungen befreite sich R. jedoch im endgültigen Bruch mit der Gesellschaft von seinen Rechtfertigungs- und Verfolgungszwängen in der Hinwendung zu einfachen Verhältnissen der Selbst- und Fremderfahrung, die ihm im glückhaften Existenzgefühl der unmittelbaren Selbstgegebenheit und Enthobenheit eine Abgrenzung des Ich von innen heraus zu ermöglichen schienen. R. entdeckte für sich in seinem Spätwerk in der inneren Wahrhaftigkeit seiner Äußerungen auf den verschiedenen Ebenen seines philosophischen, literarischen oder autobiographischen Diskurses, die er durchaus in ihrer Spannung zur mitgeteilten Wahrheit erkannte, den rechtfertigenden und die Einheit seines Werkes garantierenden Grund seines Schreibens. Weniger in seiner politischen Theorie als in dem Individuum R. in der Position des authentischen Nonkonformisten gegen die polizierteˆ Gesellschaft sahen denn auch die treibenden Kräfte der Revolution von 1789 ihre eigenen Tugenden verkörpert. Sie wiesen ihm die »Rolle des moralischen Rhetors zu« (I. Fetscher) und bestätigten den Erfolg der Bemühungen R.s, der Nachwelt von sich »das vollendete Urbild des verfolgten Retters« (J. Starobinski) zu überliefern, auf dem Höhepunkt des Rousseaukults 1794 durch Überführung seines Sarkophags von Ermenonville in das Panthéon von Paris. Man gab ihm einen Ehrenplatz neben Voltaire, in dessen Kampf mit R. jedoch schon Nietzsche eines jener »unerledigten Probleme« sah: das Problem der Zivilisation, dem die Existenz R.s gerade dadurch exemplarischen Ausdruck verliehen hat, »daß er die Paradoxien des neuzeitlichen, nichtteleologischen Naturbegriffs erstmals in seinem Werk und sich selbst zur Darstellung gebracht hat« (R. Spaemann).
Maierhofer, Martina: Zur Genealogie des Imaginären: Montaigne, Pascal, Rousseau. Tübingen 2003. – Kersting, Wolfgang: Jean-Jacques Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«. Darmstadt 2002. – Sturm, Dieter: Jean-Jacques Rousseau. München 2001. – Starobinski, Jean: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1971; dt.: Eine Welt von Widerständen. München 1988. – Spaemann, Robert: Rousseau – Bürger ohne Vaterland. München 1980. – Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. Frankfurt am Main 31975. – Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main 1974. – Meier, Heinrich: Rousseaus Diskurs über die Ungleichheitˆ. Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes. In: Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Paderborn/München/Wien/Zürich 1984.
Matthias Schmitz
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