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Ende der Bronzezeit: Die Mär vom Seevölkersturm

Um 1200 v. Chr. zerfielen etliche Reiche des Mittelmeerraums. Schuld waren die Seevölker – so lautet die lange gehegte, aber auch umstrittene These. Doch wer waren die angeblichen Horden? Und brachten sie wirklich ganze Zivilisationen zu Fall?
Relief an einer Wand des Grabtempels von Ramses III. in Medinet Habu, Theben-West in Ägypten. Dargestellt sind Krieger mit gehörnten Helmen, Langschwertern und Rundschilden.
Helme mit Hörnern, Rundschilde und Langschwerter – diese Kämpfer in einem Relief des rund 3200 Jahre alten Totentempels von Ramses III. gehörten zur Allianz der so genannten Seevölker.

Ramses III. war einer der großen Könige und Heerführer Ägyptens. Das bezeugen die Inschriften in seinem Totentempel, den er in Medinet Habu nahe dem Tal der Könige errichten ließ. Die Hieroglyphentexte an den Tempelwänden, aber auch die Reliefbilder berichten über eine Bande von Kämpfern, die vor rund 3200 Jahren über den östlichen Mittelmeerraum herfiel und dabei Städte, Staaten und ganze Reiche dem Erdboden gleichmachte. »Kein Land hielt vor ihren Armen stand«, heißt es im Tatenbericht von Ramses III. Schließlich griffen die Invasoren, die heute als Seevölker bekannt sind, Ägypten an. Doch Ramses obsiegte, wo andere versagt hatten. Er schlug die Seevölker nieder.

Seit der Gelehrte Jean-François Champollion 1824 – vor genau 200 Jahren – die Hieroglyphen entzifferte und in der Folge Ramses' Tatenbericht wieder lesbar wurde, häufen sich die Belege, dass die Worte des Pharaos der Wahrheit entsprachen. Heute ist bekannt, dass zahlreiche Städte und Paläste im östlichen Mittelmeergebiet um 1200 v. Chr. zerstört wurden. Und nur zu oft scheinen die Seevölker dabei ihre Finger im Spiel gehabt zu haben. Mehrere Zivilisationen gingen unter und sollten aus den Trümmern ihrer Kulturen nicht mehr auferstehen. Es verwundert daher kaum, dass Fachleute seit Jahrzehnten diese fatale Phase am Ende der Bronzezeit, den Zusammenbruch der Mittelmeerwelt, intensiv erforschen. Großes Interesse gilt dabei ebenjenen rätselhaften Seevölkern: Wer waren diese als Fremdländer beschriebenen Invasoren, die laut Ramses wie ein Feuer über die Länder der späten Bronzezeit hinwegfegten?

Die Beweislage hat sich in jüngerer Zeit verbessert. Inzwischen präzisieren genetische Analysen und neue archäologische Funde, was sich in dieser dramatischen Umbruchphase tatsächlich ereignete und wer oder was den Untergang herbeiführte. Und offenbar muss vieles, was über die Seevölker und das Ende der Bronzezeitkulturen bislang als gesichert galt, zurechtgerückt werden. Manche Mittelmeerreiche endeten zwar, doch nicht immer in einer Katastrophe, sondern auch in einem Neuanfang.

Die Eliten tauschten Luxusgüter

Bevor die Seevölker einfielen, lebte es sich gut im östlichen Mittelmeerraum, zumindest als Angehöriger der gesellschaftlichen Elite. In jener Phase zwischen 1550 und 1200 v. Chr. regierten Herrscher in opulenten Palästen – vom Westen der Region im mykenischen Griechenland bis nach Babylon im Osten. Fürsten und Könige hatten ein gut funktionierendes Handelsnetz aufgebaut, um sich diverse Luxusgüter zu beschaffen: Elfenbein, Edelstein, Gold und feine Weine etwa.

Dann zerfiel das Gespinst elitärer Handelsbeziehungen und Herrschaften. Im mykenischen Griechenland, wo eine Hand voll kleiner Königreiche existierte – in Mykene, Tiryns, Pylos und Theben –, wurden die Paläste zerstört. Die Gesellschaft stand danach Kopf: »Das Kunsthandwerk hörte vollkommen auf«, sagt der Archäologe Guy Middleton von der Newcastle University. Auch die Schrifttradition der Mykener verschwand spurlos. Niemand schrieb mehr in Linear B.

Medinet Habu | Nahe dem Tal der Könige befindet sich der Grabtempel von Ramses III. In einer Inschrift heißt es dort, »die Fremdländer machten ein Bündnis auf ihren Inseln«. Daraus schuf der Ägyptologe Gaston Maspero (1846–1916) den Begriff Seevölker.

Das Chaos beschränkte sich nicht auf die mykenische Welt. Ebenso ging das mächtige, damals bereits 450 Jahre existierende Hethiterreich unter, das einen großen Teil Anatoliens beziehungsweise Kleinasiens kontrollierte. Einige Fachleute gehen sogar davon aus, dass die meisten Städte entlang der kleinasiatischen Küste und an der Ostküste des Mittelmeers zerstört wurden. Zu den Opfern zählte auch Ugarit, eine Bronzezeitmetropole im heutigen Syrien. Und genau dort fanden sich deutliche Hinweise darauf, was damals geschehen war.

Hilferuf aus Ugarit

Bei Ausgrabungen in der Stätte kamen mehrere Archive mit Keilschrifttafeln zum Vorschein. Bei einigen dieser Texte handelt es sich um Briefe, die der König von Ugarit, Ammurapi, kurz vor dem Untergang der Stadt verfasst hatte. In einem Schreiben, das die Vorderasiatischen Archäologinnen Sylvie Lackenbacher und Florence Malbran-Labat vom Centre national de la recherche scientifique 2016 übersetzten, sandte der verzweifelte Herrscher einen Hilferuf aus: »Die feindlichen Truppen sind in Ra'šu (einem der Häfen von Ugarit) stationiert.«

Angesichts solcher Nachrichten wird klar, warum viele Forscherinnen und Forscher annehmen, eine Seemacht habe Ugarit vernichtet. Als Schuldige kämen mit hoher Wahrscheinlichkeit just jene Seevölker in Frage, die an den Wänden von Ramses' Grabtempel in Medinet Habu genannt sind. Äußerst mächtige und starke Krieger seien sie gewesen, heißt es in den Texten. »Keinem anderen Feind Ägyptens wurde jemals solche Macht beigemessen ..., nie wurde ein Feind als Zerstörer von Reichen beschrieben«, erklärt die Archäologin Shirly Ben Dor Evian von der Universität Haifa 2018 im Fachblatt »Dacia«. Doch wer waren diese Seevölker?

Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wird es wohl nie geben, aber es liegen inzwischen genügend Indizien vor, um die Seevölker in ihren Konturen zu erfassen. Angefangen beim Tempel in Medinet Habu: In den Schlachtszenen sind Kämpfer der Seevölkerallianz abgebildet. Sie tragen gehörnte Helme, schwingen Langschwerter und sind mit Rundschilden gewappnet. Kein Heer und kein Krieger im östlichen Mittelmeerraum waren während der Bronzezeit derart gerüstet. Doch an anderer Stelle waren Männer mit Hörnerhelmen schon früher aufgetaucht – in Ägypten. Ungefähr ein Jahrhundert zuvor hatten sie das Land am Nil überfallen. Der damalige Pharao Ramses II. ließ sie in seinem Tempel von Abu Simbel darstellen und nannte sie Scherden oder Schardana.

Kamen die Seevölker aus dem Westen?

Aus linguistischen Gründen vermuteten Fachleute, dass die Schardana aus Sardinien stammen müssten. Zu ähnlich seien sich die Bezeichnungen für die mysteriösen Freibeuter und das Eiland westlich der Apenninenhalbinsel. Kam ein Teil der Seevölker demnach aus Sardinien oder Süditalien? Das sei nicht sicher, wendet der Bronzezeitexperte Reinhard Jung von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein. Laut dem Archäologen seien aus dieser Zeit nämlich keine sardischen Texte überliefert. Damit sei unklar, ob sich die damaligen Menschen auf Sardinien selbst Schardana nannten. Auch archäologische Belege sind rar. »In Süditalien gab es die für uns unglückliche religiöse Sitte, keine Rüstungen ins Grab zu legen«, erklärt Jung. Daher wisse niemand, ob die Krieger aus jener Region tatsächlich Helme mit Hörner trugen. Die Schwerter hingegen, die sich in der Gegend fanden, ähnelten den Waffen der Schardana auf den ägyptischen Monumenten.

Dass ein italisches Kontingent Teil des Seevölkerbunds war, legen weitere Funde nahe. In den letzten Jahrhunderten der Bronzezeit wurden viele Siedlungen im Süden Italiens zerstört; die Angreifer kamen möglicherweise aus dem Norden der Apenninenhalbinsel. Überfälle und Feldzüge könnten die Menschen gezwungen haben, aus ihrer Heimat zu fliehen. Jung hält es für plausibel, dass sie ihre Segel gen Länder setzten, die sie kannten – entweder um dort selbst auf Raubzug zu gehen oder um sich niederzulassen.

Archäologische Funde aus den vergangenen zwei Jahrzehnten erhärten diese Annahme: Der Süden der Apenninenhalbinsel stand zuvor schon mit dem östlichen Mittelmeerraum in Austausch. Die Menschen aus Südeuropa dürften daher mit dem Südosten ihres Kontinents vertraut gewesen sein. Beispielsweise tauchte gegen Ende der Bronzezeit eine bestimmte Tonware im mykenischen Griechenland auf – die so genannte handgemachte geglättete Keramik; ursprünglich kam sie aus Süditalien.

Schweine aus Italien wurden auch in Griechenland geschätzt

Eine Genanalyse von 2019 bekräftigte diesen Befund. Forscher um Meirav Meiri von der Universität Tel Aviv und Joseph Maran von der Universität Heidelberg veröffentlichten im »Journal of Archaeological Science: Reports« Knochen von Nutztieren aus dem mykenischen Palast von Tiryns auf der Peloponnes. Darunter befand sich ein Schweineknochen. Dessen Genprofil stellte sich als typisch für solche Schweine heraus, die in Italien gehalten worden waren.

Schlacht im Nildelta | Ägyptische Soldaten kämpfen gegen »Fremdländer«, die an den Federkronen und gehörnten Helmen zu erkennen sind. Viele von ihnen treiben leblos im Wasser. Das Relief, das die Schiffsschlacht an der Mündung des Nildeltas zeigt, befindet sich im Totentempel von Ramses III.

Aus all diesen Indizien ergibt sich eine mögliche Erklärung, wie und warum die Mittelmeerwelt der Spätbronzezeit unterging: Offenbar wurden Menschen aus ihrer süditalischen Heimat vertrieben und zogen nach Osten. Dort destabilisierten sie – mit Absicht oder nicht – die mykenischen Königreiche. Deren zentralistisch organisierte Palastwirtschaften gingen samt und sonders unter. Dadurch dürften wiederum viele Mykener ihre Heimat verloren haben. Und so stieg die Zahl der Vertriebenen. Schließlich formierte sich eine Allianz, die entlang der Küsten segelte. Auf der Suche nach neuem Siedlungsland zerstörte sie Städte und Staaten, bis ihr Vorstoß in Ägypten jäh endete.

Die Tempeltexte von Ramses III. scheinen das Szenario von Invasoren, die eine ganze Region mit Krieg und Zerstörung überzogen, zu stützen. So ist eine der genannten Gruppen des Seevölkerbunds als Peleset benannt. Einige Fachleute identifizieren diese als Philister, die in Philistäa lebten. Dabei handelt es sich heute um den Gazastreifen und Teile des Südens Israels. Seit Langem gehen Archäologen davon aus, dass die Philister einst von außerhalb der Region kamen und Philistäa vor etwa 3200 Jahren eroberten. Genauer gesagt, seien sie aus Griechenland gekommen. Das würden Tongefäße der Philister bezeugen, die der mykenischen Keramik ähneln. Neuere Gendaten untermauern diese These. Im Jahr 2019 veröffentlichte ein Team um den Archäogenetiker Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in »Science Advances« die Genprofile von zehn Individuen, darunter vier Kleinkinder, die vor etwa 3100 Jahren in Philistäa starben. Deren DNA konnten die Forscher mit Gendaten aus Orten in Südeuropa, etwa Griechenland und Sardinien, verknüpfen. Offenbar waren Menschen von dort in die Levante eingewandert.

Schwächte eine Megadürre die Mittelmeerkulturen?

Was aber löste diese Migrationswelle aus? Waren es allein Überfälle aus Norditalien? Ebenfalls 2019 legten französische und belgische Experten um David Kaniewski von der Université Toulouse III – Paul Sabatier eine Reihe von Klimadaten und 14C-Messungen für Syrien und Zypern vor. Wie die Arbeitsgruppe im Fachmagazin »Regional Environmental Change« darlegt, habe im Mittelmeerraum am Ende der Bronzezeit eine jahrhundertelange Megadürre geherrscht.

Die Folgen eines solchen Ereignisses wären verheerend gewesen: Nahrungsmittel seien dauerhaft knapp geworden und Gesellschaften in Aufruhr geraten. Zusammengefasst im Buch »›Sea Peoples‹ Up-to-Date« aus dem Jahr 2017, erklären Forschende, das alles habe unweigerlich die gesamte östliche Mittelmeerwelt auf den Pfad in den Untergang geführt.

Für einige Archäologen klingt dieses Szenario indes mehr nach Hollywood denn nach Tatsachengeschichte. Ihres Erachtens belegen Detailuntersuchungen, dass keine Welle der Zerstörung über das Mittelmeer hinwegschwappte und auch keine jahrhundertelange Dürre herrschte. Manche bezweifeln sogar, dass die Staaten der Spätbronzezeit einem einzigen Katastrophenereignis zum Opfer gefallen waren. Die Fachwelt habe die einstige Lage völlig überzogen gedeutet, ist der Archäologe Jesse Millek von der Universität Leiden überzeugt. Man müsse unbedingt einen nüchternen Blick auf die Sache werfen.

Zuvorderst sollten die Worte des Kronzeugen für den Seevölkersturm genau gelesen werden. Was man über den Raubzug der vereinten Inselbewohner im Tempel von Ramses III. erfährt, sei nämlich weniger eindeutig als lange vermutet. Allgemein sind altägyptische Texte nicht einfach zu deuten. Ben Dor Evian ist der Ansicht, der Pharao wollte eigentlich sagen, dass die Hethiter die Seevölker angeheuert hatten, nicht dass die anatolische Herrscherdynastie von den Freibeutern ausgelöscht worden war. Und der Ägyptologe Uroš Matić von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften legte 2022 im »Bulletin of the American Society of Overseas Research« dar, dass die Anführer der Seevölker auf Ägyptisch nicht als Generäle einer eindrucksvollen Armee benannt sind, sondern als Piratenführer tituliert wurden. Matić prüfte deren Bezeichnung als »aau«, die vom üblichen »weru« für militärische Anführer abwich.

Glaubt dem Pharao (fast) kein Wort!

Selbst solche Detailuntersuchungen können jedoch nicht alle Zweifel ausräumen. Denn es wäre kurzsichtig, die Worte eines Pharaos vollends für bare Münze zu nehmen. Das wäre gerade so, als ob in einer fernen Zukunft ein Historiker die Welt des 21. Jahrhunderts allein durch Berichte erschließen würde, die der russische Präsident Wladimir Putin gebilligt hatte, sagt Sturt Manning von der amerikanischen Cornell University in Ithaca. »Das würde zu einer merkwürdigen Sicht auf die Ereignisse führen«, so der Archäologe.

Zitadelle | Alle Güter aus dem Umland gingen an den griechischen Palast von Mykene, deren Herrscher und Beamte über deren Verwendung entschieden. Dann, vor rund 3200 Jahren, wurde die Burg zerstört.

Ungeachtet dessen übertrugen einige Fachleute die Tatenberichte von Ramses III. auf Regionen im Mittelmeerraum, die an den Tempelwänden gar nicht namentlich genannt sind. So sollen die Seevölker auch die mykenischen Königreiche und dutzende Städte im östlichen Mittelmeergebiet, darunter Ugarit im Nordwesten Syriens, zerstört haben. Und zwar so zerstört haben, dass an diesen Orten nahezu jedes Leben erloschen war. Doch in den Hieroglyphentexten sind nur wenige jener Stätten genannt, die die Seevölker verwüstet haben sollen.

Schwerer wiegt hingegen: Viele dieser Orte gingen gar nicht unter. In den vergangenen Jahren ist Jesse Millek die Grabungstagebücher der betreffenden Fundplätze durchgegangen. Bei den meisten, einschließlich der Orte in Philistäa, die von den Philistern am Ende der Bronzezeit überrannt und erobert worden sein sollen, konnte Millek in den Grabungsaufzeichnungen keine massiven Zerstörungshorizonte ausmachen. In Ekron beispielsweise fanden sich einzig die Überreste eines niedergebrannten Lagergebäudes. Millek hat daher Zweifel, ob die Seevölker tatsächlich eine ganze Region der Mittelmeerwelt ins Chaos gestürzt hatten.

Kein verheerender Migrationszug von West nach Ost

Was war dann geschehen? Wenn die Seevölker oder andere marodierende Gruppen keine Schneise der Vernichtung durch die spätbronzezeitlichen Hochkulturen gezogen haben, wer dann? Eine Erklärung lautet, dass in jedem Königreich und in jeder Stadt jeweils lokale Faktoren den Zusammenbruch herbeigeführt haben. Auf den ersten Blick erscheint dieses Szenario wenig plausibel. Denn eine Katastrophe, die flächendeckend und gleichzeitig auftritt, kann kein Zufall sein.

Doch so minuziös zugleich fanden die Ereignisse wohl nicht statt, sondern sie erstreckten sich über längere Zeiträume. »Die Zerstörungen im mykenischen Griechenland könnten sich innerhalb von 15 oder 20 Jahren ereignet haben«, erklärt Helène Whittaker von der Universität Göteborg. Für die gesamte Region betrachtet, umfassten die Geschehnisse möglicherweise einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren, sagt Manning. Das würde der These vom punktuellen Krisenereignis widersprechen.

Sicher ist zudem: In den 350 Jahren der Spätbronzezeit, von 1550 bis 1200 v. Chr., waren immer wieder Stätten zerstört worden, betont Millek. Es sei normal gewesen, dass mehrere Städte zu einem ähnlichen Zeitpunkt unter Angriffen litten. Ein Indiz für diese Annahme entdeckten Archäologen um Kimiyoshi Matsumura vom Japanese Institute of Anatolian Archaeology im zentralanatolischen Fundort Büklükale. Im März 2024 gaben die Forscher den Fund einer Keilschrifttafel bekannt, die sie in der hethitischen Stadt ausgegraben hatten. In dem Text heißt es: »Vier Städte, darunter die Hauptstadt Hattuša, befinden sich in einer Katastrophe.« Jenes Unglück traf das Hethiterreich allerdings rund 200 Jahre vor dem Zusammenbruch in der Spätbronzezeit. Zwischen 1380 und 1370 v. Chr. datiere der Text, so Matsumura, in die Regierungszeit des hethitischen Königs Tudḫaliya II.

Bleibt die These, dass eine weit reichende Dürre die bronzezeitlichen Zivilisationen dahingerafft hatte. Jüngst erhoben jedoch neue Klimastudien Zweifel an dieser Überlegung. In vorangegangenen Untersuchungen hatten Fachleute eine jahrhundertelange Trockenphase ausgemacht, die vor ungefähr 3200 Jahren im östlichen Mittelmeerraum begann. Doch diese Idee sei irreführend, erklärt Manning. Die Annahme beruhe zum Teil auf Pollenanalysen. Aus denen gehe hervor, dass sich damals die Vegetation verändert habe – womöglich, weil sich die Umwelt gewandelt hatte. Es gibt nur ein Problem: In vielen Fällen sei die Datendichte gering, so Manning. Das Probenmaterial gehe auf unterschiedliche Zeiten zurück, teils lägen Jahrzehnte dazwischen. Die Pollendaten sind daher nur niedrig aufgelöst, wie es in der Fachsprache heißt. Eine Gruppe um Calian Hazell von der Northumbria University in Newcastle hatte die bronzezeitlichen Klimadaten für Südosteuropa, die Levante und Anatolien neu untersucht und 2022 im Fachblatt »Palynology« veröffentlicht. »Erst wenn hoch aufgelöste Quellen vorliegen, idealerweise jährliche Daten, erkennt man, dass sich die Sache viel komplexer verhält«, sagt Manning.

Mehrere Krisen zugleich können einen Staat zu Fall bringen

Der Archäologe und seine Kollegen erfassten 2023 die klimatischen Bedingungen vor 3200 Jahren im größeren Umfeld von Hattuša. Dazu untersuchten sie alte Wacholderhölzer und werteten deren Baumringe aus, um die damaligen Niederschlagsmengen von Jahr zu Jahr zu bemessen. Und wie es scheint, erlebte Anatolien am Ende der Bronzezeit viele »feuchte« Jahre. Allerdings zeigte sich auch, dass zwischen 1198 und 1196 v. Chr. eine starke Dürre vorherrschte, die zeitlich mit dem Untergang des hethitischen Reichs zusammenfiel. Das allein hat den Hethitern aber wohl nicht ihr Ende beschert, sind Manning und sein Team überzeugt. Vielmehr traf die Dürre Hattuša, als sich das Königshaus bereits in einer politischen Krise befand. Offenbar war das Reich geschwächt und schlecht in der Lage, mit einer Nahrungsknappheit fertigzuwerden.

Keilschrifttafel | In Ugarit kamen hunderte Keilschrifttexte zum Vorschein, darunter diplomatische Korrespondenz. Diesen Brief richtete der Hethiterkönig Tudḫaliya IV. im späten 13. Jahrhundert v. Chr. an den Fürsten von Ugarit und prägte sein Siegel in die Tafel.

In manchen Königreichen gärte es aber wohl nicht nur oben, sondern auch unten. So könnte andernorts eine Revolte der Bevölkerung den Zusammenbruch herbeigeführt haben. Wie Guy Middleton erklärt, existierten nach dem Ende der mykenischen Paläste viele ländliche Gemeinden weiter – wo kein Palast war, dort auch kein Kollaps, so scheint es. Als einer der Ersten hatte Reinhard Jung von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vorgeschlagen, dass die eigene Bevölkerung die Paläste niederbrannte und nicht etwa eine Allianz der Seevölker. Der mögliche Grund: Die herrschende Elite hatte zu viel Druck auf die Menschen ausgeübt. »Es könnte sein, dass die meisten Leute froh waren, die Paläste loszuwerden«, vermutet Helène Whittaker.

Solche Thesen wirken zunächst wenig überzeugend. Weil es näherliegend erscheint, dass eine Gesellschaft, die monumentale Bauten errichten kann und über eine Schrift verfügt, besser ist als eine Gesellschaft ohne diese Fähigkeiten. Verschwindet eine solche Zivilisation, gilt das oft als Nachweis für eine unerwartete Katastrophe. Doch die Menschen könnten sich laut Millek auch dafür entschieden haben, keine Paläste mehr zu bauen und nichts mehr schriftlich aufzuzeichnen, weil sie eine egalitärere Gesellschaft wollten.

Armin Eich, Althistoriker an der Bergischen Universität Wuppertal, äußert in seinem Buch »Die Söhne des Mars« von 2015 eine ähnliche Annahme. Für ihn ist ausschlaggebend, dass »die für die Zerstörung verantwortlichen Aggressoren … nicht gewillt oder nicht stark genug (waren), die Rolle von Eroberern zu spielen«. Sie oder auch andere hatten zunächst keine neuen Staaten an Stelle der mykenischen Palastwirtschaften gegründet, die unwiederbringlich brachlagen. Eich vermutet deshalb, dass es sich bei den Angreifern »gar nicht überwiegend um Fremde handelte«, sondern um benachbarte Gruppen oder gesellschaftlich benachteiligte Menschen aus dem griechischen Kulturraum.

Sicher scheint also inzwischen zu sein: Nicht marodierende Seevölker wischten Staaten und Städte am Ende der Bronzezeit von der Landkarte, sondern wohl eher verschiedene lokale oder regionale Ereignisse. Ein Gemenge aus Aufständen, Dürren und wandernden Volksgruppen könnte die Mittelmeerwelt einst für immer verändert haben.

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