Metzler Philosophen-Lexikon: Russell, Bertrand
Geb. 18. 5. 1872 in Chepstow/Südwales;
gest. 2. 2. 1970 in Penrhyndendraeth/Wales
Kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts erlangte solchen Weltruhm und war doch so umstritten wie R., der Enkel des liberalen Reformpolitikers Lord John Russell. Während er in der Wissenschaftswelt durch seine bahnbrechenden Arbeiten über die logische Grundlegung der Mathematik zeitweilig ins Zentrum des Interesses rückte, wurde er der Weltöffentlichkeit vor allem aufgrund seiner unerschrockenen pazifistischen Haltung, seiner Forderung nach größerer sexueller Freiheit und nach anti- autoritärer Erziehung, seines Bekenntnisses zum Agnostizismus, Hedonismus und unorthodoxen Sozialismus bekannt. Die Tatsache, daß ihm der Nobelpreis verliehen und viele andere hohe Auszeichnungen zuteil wurden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zahl seiner Gegner parallel zu seinem politischen Engagement stieg. Wenn auch R. seine weltanschaulichen Überzeugungen deutlich von seinen philosophischen Wahrheitenˆ trennte, da seiner Meinung nach Gesellschaftstheorien im Unterschied zur strengen Philosophie wesentlich auf Werturteilen beruhen, so war doch bei ihm der »Drang nach Erkenntnis« aufs engste gekoppelt mit dem leidenschaftlichen Bemühen, an der Schaffung einer humaneren, friedlicheren Welt mitzuarbeiten.
Bertrand Arthur William R. wurde 1872 in Südwales als zweiter Sohn einer traditionsreichen englischen Adelsfamilie geboren. Nach dem Tod seiner Eltern kam der knapp Vierjährige in die Obhut seiner Großeltern, die ihn in einem liberalen, zugleich aber auch streng puritanischen Geist erziehen ließen. 1890 ging R. an das Trinity College in Cambridge, wo er vier Jahre lang Mathematik und Philosophie studierte. Zu den wichtigsten Bekannten aus dieser Zeit gehörte neben seinem Kommilitonen George E. Moore, dem späteren Begründer des Neurealismus, sein Lehrer Alfred North Whitehead, mit dem er zunehmend enger zusammenarbeitete und der schließlich auch der Mit-Autor seines Hauptwerks Principia mathematica (1910–1913) wurde. Nach einem kurzen Intermezzo als Attaché der britischen Botschaft in Paris schloß R. 1894 seinen ersten Ehebund – drei weitere sollten im Laufe seines langen Lebens folgen. Obwohl er sich bis Anfang der 20er Jahre in erster Linie mit philosophisch-mathematischen Problemen befaßte, schrieb er in dieser Zeit auch zahlreiche Abhandlungen über politisch-soziale Themen, wie z.B. über deutsche Sozialdemokratie, Anarchismus, Bolschewismus und die allgemeinen Principles of Social Reconstruction (1916; Grundlagen einer sozialen Umgestaltung); ja, er fand sogar die Zeit, mehrfach für das Parlament – wenn auch erfolglos – zu kandidieren. Sein öffentliches Bekenntnis für die sofortige Beendigung des Ersten Weltkriegs und seine uneingeschränkte Unterstützung der englischen Kriegsdienstverweigerer brachten ihm nicht nur den Haß der Patrioten, sondern auch den Verlust seiner Dozentur in Cambridge und 1918 sogar eine sechsmonatige Gefängnisstrafe ein. In den folgenden Jahrzehnten wandte sich R. mehr und mehr populärphilosophischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu; so entstanden unter anderem Werke wie The Analysis of Mind (1921; Die Analyse des Geistes), The Analysis of Matter (1927; Philosophie der Materie), ABC of Relativity (1928; ABC der Relativitätstheorie), Marriage and Morals (1929; Ehe und Moral), The Conquest of Happiness (1930; Eroberung des Glücks), Education and the Social Order (1932), Freedom and Organisation (1934; Freiheit und Organisation). Bezeichnenderweise erhielt R. 1950 nicht für sein mathematisch-philosophisches Grundlagenwerk, sondern für sein Buch Marriage and Morals den Nobelpreis für Literatur. In den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens widmete er sich fast ausschließlich dem Kampf für Frieden und weltweite Abrüstung: er organisierte Massenproteste, verfaßte Manifeste und gründete Friedens-Komitees, so z.B. die berühmt gewordene »Pugwash-Bewegung«. In diesem Zusammenhang ist auch das 1966 in Stockholm von R. initiierte »Vietnam-Tribunal« zu sehen, das die Kriegsführung der Amerikaner in Vietnam durchleuchtete und schärfstens verurteilte. Sein Leben sah der Philosoph im Rückblick als von »drei einfachen, doch übermächtigen Leidenschaften« bestimmt: »Das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der Menschheit.«
R.s Philosophie, die er selbst als »logischen Atomismus« charakterisierte, basiert auf der Annahme, daß nur Naturwissenschaften und Mathematik die Grundlage für sichere Erkenntnis bzw. unbezweifelbare Wahrheiten bieten können. So bestimmte er auch »das Geschäft der Philosophie« als »wesentlich logische Analysis, gefolgt von logischer Synthesis«. Seine intensiven mathematischen Studien in Cambridge ließen ihn zu der Überzeugung gelangen, daß es möglich sein müsse, die Mathematik vollständig aus der formalen Logik abzuleiten. Obwohl man heute allgemein seinen Versuch als mißlungen ansieht, fand sein dreibändiges, zusammen mit Whitehead verfaßtes Hauptwerk Principia mathematica, in dem er seine Überlegungen zur Logistik ausführlich darlegte, weltweite Anerkennung. Um ihren ehrgeizigen Plan durchführen zu können, sahen sich die beiden Philosophen gezwungen, eine Kunst- bzw. Symbolsprache zu konstruieren, die die Mehrdeutigkeiten der Alltagssprache nicht enthalten würde. Dabei konnten sie sich vor allem auf Arbeiten der deutschen Philosophen Gottfried W. Leibniz und Gottlob Frege sowie des italienischen Mathematikers Giuseppe Peano stützen. Neben der Konstruktion einer Symbolsprache war für die Realisierung des »logizistischen Programms« die Vermeidung logischer Widersprüche von größter Bedeutung. R. selbst hatte – was in Fachkreisen großes Aufsehen erregte – nachgewiesen, daß Frege sich trotz gegenteiliger Annahme in eine Antinomie verstrickte: Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, enthält sowohl sich selbst als auch sich selbst nicht. Um diese nach ihm benannte Antinomie zu vermeiden, entwickelte R. die »verzweigte Typentheorie«, die Aussagen, Aussageverknüpfungen und Aussage-Funktionen in eine bestimmte Stufenfolge stellt und darüber hinaus die Aussageverknüpfungen nochmals nach »Typen« unterscheidet. Auf diese Weise können Aussagen, die zu Antinomien führen würden, als »sinnlos« ausgeschlossen werden. R., der als einer der wichtigsten Wegbereiter der analytischen Philosophie bezeichnet werden muß, zeigte sich – wie anfänglich auch sein Freund Ludwig Wittgenstein – davon überzeugt, daß die Wirklichkeit bis in ihre kleinsten Elemente erkannt und benannt werden kann. Eine logische Idealsprache, so seine Überlegung, müßte in der Lage sein, ein mehr oder weniger genaues Abbild der Welt zu geben. Nach dieser Theorie entsprächen den Einzeldingen in der Welt, die sich zu »atomaren Tatsachen« zusammensetzen, genau zwei »atomare Aussagesätze«, nämlich ein wahrer und ein falscher. Prinzipiell erschien ihm Erkenntnis auf zwei Weisen möglich: entweder durch unmittelbare Bekanntschaft, dazu gehören die »Sinnesdaten«, wie Geräusche, Farben und Gerüche, oder – mittelbar – durch Beschreibung, darunter faßt R. zum Beispiel die Kenntnis der uns umgebenden Gegenstände und Menschen. Die Wirklichkeit aber offenbart sich uns nur dann, ja, wird uns nur dann verständlich, wenn wir die Kenntnis durch Beschreibung auf die elementare Kenntnis der Bekanntschaft zurückführen. Es ist ein Charakteristikum seiner Philosophie und insbesondere der Erkenntnistheorie, daß sie im Laufe der Zeit immer wieder von ihrem Verfasser variiert, ergänzt und – in Teilen – verworfen wurde.
Monk, Ray: B. Russell. The Ghost of Madness. 1921–1970. New York 2001. – Monk, Ray: B. Russell. The Spirit of Solitude. 1872–1921. New York 1996. – Moorehead, Caroline: B. Russell. A Life. London 1992. – Würtz, Dieter: Das Verhältnis von Beobachtungs- und theoretischer Sprache bei Bertrand Russell. Frankfurt am Main 1980. – Clark, Ronald W.: Bertrand Russell. Philosoph-Pazifist-Politiker. München 1975. – Ayer, Alfred J.: Bertrand Russell. München 1973.
Norbert J. Schürgers
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