Ornithologie: Wie ein Deutscher zum Rekordhalter im Entdecken neuer Arten wurde
Herr Rheindt, wissen Sie eigentlich, wie viele neue Vogelarten Sie schon entdeckt haben?
Ich habe nicht genau nachgezählt, aber über die Jahre sind es sicher um die 15 neue Arten gewesen. Und die Arbeit ist noch nicht beendet.
Gibt es irgendeinen anderen Menschen, der in unserer Zeit mehr Vogelarten neu entdeckt und wissenschaftlich beschrieben hat als Sie?
Eine gute Frage. In Asien sicher nicht, und in Afrika sind in den letzten Jahrzehnten nur wenige neue Arten beschrieben worden. In Südamerika machen Kollegen von der Louisiana State University schon seit den 1970er Jahren immer wieder großartige Entdeckungen. Das könnte sich in einer ähnlichen Größenordnung abspielen. Aber wer von uns vorne liegt, kann ich Ihnen nicht sagen. Solche Zahlenspiele sind letztlich auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir überall, wo es aussichtsreich ist, größtmögliche Anstrengungen unternehmen, um Arten – nicht nur Vögel übrigens – zu beschreiben, die bisher unter dem Radar existieren.
»Es ist natürlich schon besonders, dieselben Gebiete zu erkunden, in denen auch Wallace nach neuen Arten gesucht hat«
Fühlen Sie sich bei Ihren Expeditionen auch ein wenig wie die Erben von Alexander von Humboldt, Alfred Russell Wallace oder anderen großen Naturforschern und -entdeckern der Vergangenheit?
So weit will ich nicht gehen, das wäre anmaßend. Trotzdem ist es natürlich schon besonders, dieselben Gebiete zu erkunden, in denen auch Wallace nach neuen Arten gesucht hat. Auch er hatte jahrelang seine Basis in Singapur, um die Region zu erkunden. Ich schaue jedes Mal nach, wenn ich ein neues Gebiet bereise, ob Wallace dort war oder einer seiner niederländischen und deutschen Kollegen, die damals neuen Arten nachspürten. Waren sie in einem Gebiet noch nicht, könnte dort womöglich größeres Potenzial vorhanden sein, etwas Neues zu finden. Denn seitdem setzten sich nicht mehr so viele Leute den Strapazen aus, die mit der intensiven Suche nach einer neuen Art zusammenhängen.
Wenn Sie eine neue Vogelart entdeckt haben, braucht sie einen Namen. Wie finden Sie den passenden Namen?
Das liegt nicht immer ganz in unserer Hand. Wir arbeiten eng mit unseren lokalen Partnern zusammen, und dann kann es schon mal passieren, dass eine neue Art den Namen eines indonesischen Politikers oder seiner Ehefrau erhält. Viele Arten haben wir allerdings auch in der lokalen Sprache nach besonderen Eigenschaften oder dem Ort ihrer Entdeckung benannt. Diese Art der Namensgebung ist mir die liebste. Es erzeugt einen großen Stolz in der Bevölkerung, aber auch bei den einheimischen Wissenschaftlern.
Einen nach Ihnen benannten Vogel gibt es noch nicht?
Nein, man benennt eine Art eigentlich nicht nach sich selbst. Das wäre auch wirklich nicht zeitgemäß, da überall auf der Welt gerade diese Art der Namensgebung abgeschafft wird. Sie hatte oft einen kolonialistischen Hintergrund. Aber manchmal finde ich mich in den Namen ganz gut wieder. Zum Beispiel haben wir eine von mir entdeckte Drossel Turdus poliocephalus sukahujan genannt, was neben dem wissenschaftlichen Namen für Drosseln zusätzlich in der lokalen Sprache bedeutet: ›Sie liebt den Regen‹. Das erinnert daran, dass ich diesen Vogel nach tagelanger Suche zum ersten Mal gesehen hatte, als ich wegen tropischen Dauerregens schon aufgeben wollte. Auf dem Rückmarsch im strömenden Regen saß sie auf einmal auf einem Baumstamm vor mir.
Inzwischen sind sehr seltene oder gerade erst neu entdeckte Arten Reiseziele für viele Vogelbegeisterte oder Fotografen aus Europa oder den USA. Hilft diese Art von Ökotourismus?
Das ist eine zweischneidige Angelegenheit. Einerseits bekommen die lokalen Gemeinden dadurch für ihr Verhältnis ziemlich viel Geld, und es ist eine gute Sache, wenn die Menschen mit der Natur und nicht mit Naturzerstörung Geld verdienen. Auf einer nicht ganz so entlegenen Insel hat die Entdeckung einer neuen Art aber einen regelrechten Boom ausgelöst. Das ganze Dorf ist richtig gewachsen, neue Gebäude überall, eine neue Kirche oben auf dem Hügel, wo früher mal Wald war. Leute, die dort waren, haben mir erzählt, dass es jetzt immer schwieriger wird, die Vögel in der Nähe des Dorfs anzutreffen. Solche Entwicklungen sind eher bedenklich.
»Nur Arten, von denen wir wissen, dass sie überhaupt existieren, können wir auch schützen«
Warum ist es so wichtig, Vogelarten zu entdecken, ihnen einen Namen zu geben und sie wissenschaftlich zu beschreiben?
Nur Arten, von denen wir wissen, dass sie überhaupt existieren, können wir auch schützen. In diesem alten Naturschutzspruch steckt viel Wahrheit. Einige der von mir beschriebenen Vögel leben in einem so kleinen Rest von Lebensraum, dass sie schon in dem Moment vom Aussterben bedroht sind, in dem sie für die Menschheit das Licht der Erde erblicken: eben durch ihre ›Entdeckung‹, ihre wissenschaftliche Beschreibung, durch einen Namen. Erst dieser Schritt ermöglicht, die Art in eine Rote Liste aufzunehmen und Maßnahmen einzuleiten, sie zu schützen und zu erhalten. Ich sage nicht, dass das immer tatsächlich passiert, aber ohne eine quasi amtliche Existenzbescheinigung passiert ganz sicher nichts.
Sind die von Ihnen beschriebenen Arten eigentlich den in der Region lebenden Menschen längst bekannt – und damit eigentlich keine echten Entdeckungen?
Die romantische Vorstellung, dass wir Wissenschaftler etwas beschreiben, über das die Naturvölker schon immer Bescheid gewusst haben, verklärt die Dinge wahrscheinlich etwas. Was die Vögel betrifft, reflektiert es jedenfalls nicht meine Erfahrung. Auch weil unter den lokalen Gemeinschaften in den vergangenen Jahrhunderten schon viel traditionelles Wissen verloren gegangen ist. Wären wir viele Jahre früher dorthin gegangen, dann hätten wir vielleicht noch Jäger und Sammler angetroffen, die wirklich mit der Natur im Einklang lebten und die womöglich einen Namen für jede ihrer Vogelarten hatten. Doch heutzutage sind die allermeisten Dörfer landwirtschaftliche Gemeinschaften, in denen die Menschen ihre Vögel nicht mehr beim Namen kennen. Die beste Artenkenntnis haben heute die Menschen, die Vögel fangen. Die kennen die Tiere am besten, kennen alles im Wald, jeden Pieps und jeden Mucks und jeden Vogelgesang.
»Wir suchen an möglichst isolierten Orten«
Wie gehen Sie vor, wenn Sie Ihre Expeditionen vorbereiten? Verraten Sie uns Ihr Geheimrezept, um neue Vogelarten zu entdecken?
Wir betreiben Wissenschaft. Deshalb lassen sich die Methoden in unseren Arbeiten sogar nachlesen. Wir wissen, dass für die Bildung von Arten vor langer Zeit die Isolation einer Population von anderen Populationen entscheidend war. In geografischer Isolation findet kein Genfluss mit anderen Populationen statt, und so können sich im Lauf der Zeit durch die Anpassung an die besonderen Gegebenheiten eigene Arten entwickeln. Also suchen wir an möglichst isolierten Orten, etwa auf Inseln, die von möglichst tiefem Wasser umgeben sind. Denn dort bildeten sich während der Eiszeiten keine Landbrücken, die den Genaustausch zwischen Populationen ermöglicht hätten.
Einfach losziehen in entlegene Gegenden und schauen, was man so findet, ist also keine Erfolg versprechende Methode, neue Arten zu finden?
Bei 17 000 Inseln in Indonesien allein wäre das reine Verschwendung von Lebenszeit. Es lohnt sich, gründlich auszuwählen. Wo gibt es Lebensräume, die über lange Zeit von anderen isoliert sind? Inseln, Berge, Feuchtgebiete, Trockengebiete – jede Form von Isolation bringt Endemismus hervor, also Arten, die es anderswo nicht gibt.
Gibt es noch viel zu entdecken?
Ich denke, wir und andere werden noch einige neue Arten finden können. Aber anhand unserer Kriterien haben wir uns schon die Rosinen herausgepickt und die aussichtsreichsten Orte abgegrast: Die Hotspots gehen uns langsam aus, und wir müssen schon mehr als eine Extrameile einlegen, um erfolgreich zu sein. Es wird schwieriger und schwieriger., unter anderem wegen der dramatisch voranschreitenden Zerstörung der Natur überall auf der Erde. Trotzdem ist klar, dass sehr viele Arten noch auf ihre Entdeckung warten, wenn auch nicht unbedingt Vogelarten oder auffällige Säugetiere.
»Ich ermutige Wissenschaftler anderer Bereiche, dorthin zu gehen, wo wir Vögel gesucht haben«
Sondern?
Die weit verbreiteten Arten haben Wissenschaftler alle schon aufgespürt. Die meisten neuen Arten werden kleine, endemische Lebewesen sei, die irgendwo ausharren, wo Forscher noch nicht waren. Ich ermutige Wissenschaftler anderer Bereiche, dorthin zu gehen, wo wir Vögel gesucht haben. Gebiete, in denen wir auf der Basis unserer Isolationskriterien neue Vogelarten gefunden haben, müssen superinteressant sein für all die anderen Taxa – andere Wirbeltiere, Insekten, Pflanzen. Man kann wirklich sagen: Wenn es noch Gebiete gibt, in denen sich neue Arten einer so gut erforschten Gruppe wie Vögel finden lassen, dann müssen diese Flecken Erde herausragend gut sein, um Arten anderer Gruppen zu entdecken.
»Auf Java gibt es inzwischen mehr Vögel in Käfigen als in den Wäldern«
Sie sind Vizevorsitzender einer Expertengruppe der Internationalen Naturschutzunion IUCN, die helfen soll, das Aussterben vieler Vogelarten in Asien zu verhindern. Warum sind so viele der farbenprächtigen Singvögel Asiens bedroht?
Zum einen werden die letzten intakten Lebensräume durch Abholzung von Regenwäldern zerstört. Aber wir haben hier zusätzlich ein extrem bedrohliches Problem für die mehr als 1500 verschiedenen Singvogelarten der Region, die in unvorstellbaren Mengen gefangen und in Käfigen gehalten werden. Das Ausmaß ist kaum zu glauben: Auf Java, einer der vier größten Inseln der Region, gibt es inzwischen mehr Vögel in Käfigen als in den Wäldern. Vor allem in der Hauptstadt Jakarta leben Menschen, die Tausende von Dollar für einen einzigen seltenen Vogel bezahlen.
Vogelhaltung gibt es vielerorts als Tradition. Können dadurch wirklich Arten ausgerottet werden?
Leider erleben wir gerade genau das. Es geht wahnsinnig schnell bergab. In sieben oder acht Jahren sind uns hier schon Arten weggestorben, von denen das niemand für möglich gehalten hätte. Von einigen gibt es nur noch Tiere in Käfigen. Asien war ein Paradies und wird immer stärker zum Friedhof für viele Vogelarten. Es werden zahlreiche weitere Spezies in den nächsten paar Jahren aussterben. Und der illegale Fang für die Käfighaltung ist dabei ein großer Faktor. Das ist tatsächlich ein hausgemachtes Problem in der Artenkrise: Es geht nicht so sehr um den Export, der Markt ist hier und vor allem in der Metropole Jakarta.
Was können Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen dagegen unternehmen?
Singvögel sind Statussymbole, und die Nachfrage wird durch kulturelle Traditionen wie Gesangswettbewerbe mit gefangenen Vögeln befeuert. Wenn wir verhindern wollen, dass viele weitere Arten aussterben, müssen wir alle Hebel in Bewegung setzen, die wir haben. Dazu gehört ein besserer rechtlicher Schutz, aber vor allem Aufklärungsarbeit bei den Menschen, die Vögel halten. Diese Menschen lieben die Vögel, so paradox das klingen mag. Und denen, die Vögel fangen, müssen wir andere Möglichkeiten geben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Zurück zur Forschung: Welche Expeditionen stehen für Sie als Nächstes an?
Im nächsten Jahr haben wir zwei Expeditionen nach Papua-Neuguinea auf dem Plan. Dort widmen wir uns einer anderen Form der geografischen Isolierung durch Berge. Die Populationen von Gebirgsvögeln sind dort nicht durch Wasser voneinander getrennt, sondern durch weites Flachland. Dort könnte viel Neues zu entdecken sein.
Was braucht man als Entdecker in unserer Zeit?
Große Neugierde, Unternehmungslust und die Bereitschaft, seine Komfortzone zu verlassen. Es gab für mich mehr als eine Situation, in der ich mich gefragt habe, warum ich das alles auf mich nehme.
»Ich glaube, das liegt auch daran, dass der Planet sehr zahm geworden ist«
Wann zum Beispiel?
Als ich mich im Regenwald verlaufen hatte und nicht sicher sein konnte, dass ich den Weg raus finde, solange ich noch bei Kräften war. Oder als plötzlich Paramilitärs mit Maschinenpistolen hinter mir her waren und mich einen ganzen Tag durch die Felder schleppten, um mich ihrem Anführer zu übergeben. Die glauben einem natürlich nicht, dass man nur nach Vögeln guckt. Am Ende ist es immer gut gegangen.
Und Angst vor wilden Tieren gab es nie?
Nein. Ich habe viele wilde Tiere gesehen. Aber niemals so, dass ich gedacht hätte, dass ich jetzt aufgefressen werde. Ich glaube, das liegt auch daran, dass der Planet sehr zahm geworden ist.
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