Metzler Lexikon Philosophie: Glück
Seit der Antike hat man immer wieder das G. als das höchste Gut oder das höchste Ziel des menschlichen Lebens verstanden. Anders als dem weit verbreiteten alltäglichen Verständnis zufolge, ist mit dem philosophischen Begriff allerdings weder der günstige Zufall noch eine momentan angenehme Gemütsverfassung gemeint, die aus der Erfüllung von Wünschen resultiert. Generell beschreibt der Begriff des G.s in der Philosophie eine Art von Zufriedenheit, die aus der menschlichen Tätigkeit selbst erwächst und über längere Zeit anhält.
G. oder Glückseligkeit (eudaimonia) ist bei Aristoteles das höchste Ziel des menschlichen Lebens. Er versteht darunter die vernunftgemäße Tätigkeit der Seele nach den Maßstäben der Tugenden (Eth. Nic. 1098a14–16). Dieses G. besteht in der Tätigkeit des menschlichen Geistes bei der Betrachtung rein geistiger Gegenstände. Gleichwohl findet man Äußerungen in seinen ethischen Schriften, die besagen, dass die Glückseligkeit auch tugendhafte Handlungen einschließt. Es bleibt eine der umstrittensten Fragen der Aristotelesforschung heute, was Aristoteles über die allgemeine Bestimmung hinaus unter Glückseligkeit verstanden hat. In der antiken Diskussion bleibt umstritten, welchen Anteil die äußeren Güter (wie Macht, Reichtum, Gesundheit) an der Erlangung des G.s haben oder ob nur innere Güter (wie Erkenntnis, Seelenruhe) dazu beitragen. Ebenso wie das G. des Einzelnen mit dem allgemeinen G. zusammenhängt und ob das G. der einzige Zweck aller menschlichen Handlungen sein soll. Die einfachste Form einer Ethik auf der Grundlage des G. s bestimmt G. ganz unmittelbar als Maximierung von Lust (Hedonismus). Fraglich bleibt jedoch, ob die Erfüllung der Begierden das G. nach sich zieht, oder ob das G. nicht vielmehr dann eintritt, wenn sich der Mensch von allen Begierden und Leidenschaften frei gemacht hat. – In den verschiedenen Schulen der hellenistischen Philosophie bestand zwar Einigkeit darüber, dass die Ruhe der Seele (Ataraxie) Bedingung des G. s sei; Uneinigkeit herrschte jedoch über den Weg, auf dem die Ataraxie zu erlangen sei. Während die Epikuräer die Freude und den Genuss an den einfach erreichbaren Gütern sowie das Freisein von Schmerz zum Ziel gemacht hatten, war es das Ziel der Stoa, sich von den eigenen Wünschen zu lösen und den äußeren Gütern keinen Wert mehr beizumessen. Die antike Skepsis hingegen verortete die Glückserfahrung in der Beschränkungen der eigenen Erkenntnisansprüche. Für die Antike war die Frage nach dem G. und nach dem guten Leben mit der nach dem gerechten und sittlich richtigen Leben verbunden. Kant bricht radikal mit dieser Tradition. Für ihn ist der Begriff des G.s zu unbestimmt, um Fragen der Ethik zu beantworten. Denn alle Elemente, die zum Begriff des G.s oder der Glückseligkeit gehören, sind empirisch. Zugleich soll der Begriff der Glückseligkeit alle gegenwärtigen und zukünftigen Zustände umfassen. Er ist daher ungeeignet, weil er etwas Unmögliches verlangen würde: wir müssten gewissermaßen vorher wissen, welche Gegenstände unsere Wünsche erfüllen würden. Statt uns an der Glückseligkeit zu orientieren, muss das Sittengesetz alleiniger Bestimmungsgrund des Willens sein. Da für den Menschen als Sinnenwesen Glückseligkeit zum vollständigen Gut dazugehört, ist der Zusammenhang nur so zu denken, dass der Mensch, wenn er sich dem moralischen Gesetz gemäß verhält, auch Ursache hat zu hoffen, der Glückseligkeit würdig zu sein – ein Zusammenhang, der Gott als Postulat voraussetzt.
In Gegensatz zu Kant hat in der Moderne der klassische Utilitarismus das G. noch einmal zum Prinzip des moralischen Handelns gemacht. J. Bentham hat das Grundprinzip seiner Ethik, sein Nutzenprinzip (principal of utility), wie folgt formuliert: Das höchste Gut ist das größte G. der größten Zahl der Menschen. G. wird als die Maximierung des Genusses verstanden. Demnach ist eine Handlung gut, die das größte G. der größten Zahl der Menschen zur Folge hat (Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780). Mit dieser Form des Utilitarismus ergibt sich das Problem, dass es immer besser ist, ein zufriedener Narr als ein unzufriedener Sokrates zu sein. Deswegen hat J. St. Mill den Utilitarismus neu formuliert und eine Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren Genüssen eingeführt (Utilitarianism, 1863). Bentham und Mill, die Klassiker des Utilitarismus, gehen von der Idee aus, dass man jedes Mal, wenn man sich für eine Handlung entscheidet, neu überlegen soll, ob diese Handlung das größte G. der größten Zahl hervorbringt. Aber diese Idee scheint weder praktikabel noch realistisch. Sie ist nicht pratikabel, weil man dann in jeder Situation neu fragen müsste, ob diese Handlung das größte G. der größten Zahl hervorbringt. Demzufolge könnte man nicht spontan handeln. Sie ist unrealistisch, weil wir faktisch kaum nach dem G. aller Menschen entscheiden können. Wir entscheiden tatsächlich nach unserem eigenen oder dem G. nahestehender Personen, d.h. der Familie, der Freunde, oder der Gemeinde. – Der moderne Utilitarismus versucht den Grundgedanken des klassischen festzuhalten und zugleich dessen Schwierigkeiten zu beseitigen, indem er ein Zwei-Stufen-Modell einführt. Hier baut man erstens ein Regel-System von Handlungen auf, welches das größte G. der größten Zahl der Betroffenen garantieren soll. Wenn man sich für eine Handlung entscheidet, überprüft man nur, ob die einzelne Handlung unter einige Regeln fällt. Während dieser Regel-Utilitarismus einige Probleme des klassischen Utilitarimus ausgeräumt hat, bleibt bis heute unklar, wie sich Genuss und – utilitaristisch verstanden – auch Glück genau definieren lassen und welche Wesen innerhalb der Überlegung berücksichtigt werden sollen.
In den letzten Jahren ist eine neue Diskussion über die Frage nach dem guten Leben entbrannt. Dabei wird häufig der Ausdruck »geglücktes Leben« verwendet. Im alltäglichen Sinn versteht man ein Leben als geglückt, wenn es von Entspannung, Übereinstimmung und Gleichgewicht gekennzeichnet ist. In einem ähnlichen Sinn redet man auch von einem gelungenen Leben, d.h. einem Leben, worin die Person genau das Lebensziel erreicht, was sie erreichen wollte. In der Philosophie geht es mitunter nur um eine formale Bestimmung des geglückten Lebens. Hier wird versucht, die Bedingungen und Voraussetzungen des geglückten Lebens oder des guten Lebens herauszuarbeiten. Dieses Unternehmen ist nicht nur wegen der Wiederentdeckung einer der ersten Fragen der Philosophie von Interesse, sondern auch wegen der Schwierigkeit, das Thema des guten Lebens unter den Prämissen des modernen Freiheitsbegriffs zu behandeln. Eudaimonie.
Literatur:
- G. Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978
- M. Forschner: Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant. Darmstadt 1993
- A. Honneth: Kampf um Anerkennung. Frankfurt 1992. S. 274–287
- A. Kenny: Happiness. In: Moral Concepts. Oxford 1969. S. 43–53
- H. Krämer: Integrative Ethik. Frankfurt 1993
- D. Lyons: Forms and Limits of Utilitarism. Oxford 1965
- J. Mackie: Inventing Right and Wrong. London 1977. S. 125–149
- M. Seel: Glück. In: H. Hasted/E. Martens (Hg.): Ethik. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1994. S. 145–163
- R. Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. Stuttgart 1989
- E. Tugendhat: Antike und moderne Ethik. In: Probleme der Ethik. Stuttgart 1984. S. 33–57.
ML
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