Metzler Lexikon Philosophie: Mathematik
(griech. mathematike (techne)). Die vorgriech. M. (Sumer, Babylon, Ägypten) ist weitgehend eine Art von Rezeptsammlung. Die Griechen legen das Hauptgewicht auf den Beweis und begründen damit die M. als eine Wissenschaft mit folgendem Ideal: Einige wenige Definitionen und evidente Postulate und Axiome werden an die Spitze gestellt, und der Rest des Lehrgutes wird in Form von Theoremen daraus durch Definition, Konstruktion und logische Folgerung gewonnen. Dieses Ideal ist in früher und erstaunlich hoher Perfektion verwirklicht in Euklids Elementen und kann sich fast unverändert bis in unsere Zeit halten. Arithmetik und Geometrie gelten lange als die beiden konstitutiven Disziplinen der M., so dass Kants Philosophie der M. nur sie berücksichtigt und als die Wissenschaften von den reinen Anschauungen des inneren Sinnes (= Bewusstsein) und der äußeren Sinne charakterisiert. Die erst im 16. Jh. aufblühende Algebra kann zunächst noch als Teil der Arithmetik aufgefasst werden, da sie sich vorwiegend mit der Lösung von Gleichungen und mit der Umformung arithmetischer Ausdrücke befasst. Die Kombination von Arithmetik und Geometrie in der analytischen Geometrie (Descartes) führt zur Infinitesimalrechnung (Newton, Leibniz), die in enger Wechselwirkung mit der Physik einen enormen Aufschwung nimmt. Die Algebra entwickelt sich zur Theorie von Verknüpfungsstrukturen (v. a. Gruppen und Körpern), wie sich die moderne M. überhaupt zu einer Theorie von abstrakten Mannigfaltigkeiten und Strukturen entwickelt. Traditionelle mathematische Disziplinen (Arithmetik, Geometrie) stellen sich nunmehr dar als spezifische Kombinationen und Verflechtungen bestimmter Mengen, Verknüpfungen, Funktionen, Ordnungen und Nachbarschaftsbeziehungen. Algebra, Mengenlehre und Topologie sind heute die Grunddisziplinen der M., auf denen die anderen aufbauen. Hatte schon die stürmische Entwicklung der Infinitesimalrechnung zu begrifflichen Schwierigkeiten v.a. mit dem unendlich Kleinen geführt, die aber bewältigt werden konnten (Cauchy, Weierstraß), so hat die Mengenlehre zu den Antinomien und zur daraus resultierenden, immer noch nicht befriedigend gelösten Grundlagenproblematik geführt (Formalismus, Logizismus, Intuitionismus).
Literatur:
- O. Becker: Grundlagen der Mathematik. Freiburg/München 1954
- E. W. Beth: The Foundations of Mathematics. Amsterdam 1968
- R. Courant/H. Robbins: Was ist Mathematik?. Berlin/Heidelberg/New York 31973
- H. Dingler: Philosophie der Logik und Arithmetik. München 1931
- Ders.: Die Grundlagen der Geometrie. Stuttgart 1933
- D. Hilbert: Grundlagen der Geometrie. Leipzig und Berlin 71930
- D. Hilbert/P. Bernays: Grundlagen der Mathematik. 2 Bde. Berlin 1934, 1939
- E. Husserl: Philosophie der Arithmetik. Den Haag 21970
- St. Körner: Philosophie der Mathematik. München 1968
- A. Speiser: Die mathematische Denkweise. Basel 31952
- Chr. Thiel (Hg.): Erkenntnistheoretische Grundlagen der Mathematik. Hildesheim 1982
- Ders.: Philosophie und M. Darmstadt 1995
- F. Waismann: Einführung in das mathematische Denken. München 31970.
VP
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