Metzler Lexikon Philosophie: Neukantianismus
philosophische Schulrichtung, deren Wurzeln bis in die 50er Jahre des 19. Jh. zurückreichen und die ihre Vertreter nahezu ausschließlich in Deutschland gefunden hat. Notorisch wird der Titel erst zum Ende der 70er Jahre. Seine Blütezeit erlebt der N. in der Zeit zwischen 1870 und dem Ende des Ersten Weltkriegs.
Von N. ist sowohl in positiv-identifizierender wie in polemisch-abgrenzender Bedeutung die Rede. Einerseits suchte die akademische Philosophie des ausgehenden 19. Jh. angesichts der diskreditierten Stellung des deutschen Idealismus nach einem dritten Weg zwischen den Alternativen historistischer Skepsis und materialistischem Positivismus. Sie fand ihn in der Besinnung auf die kritische Methode Kants. J. B. Meyer (1829–1897), H. Cohen (1842–1918) und A. Riehl (1844–1924) zählten zu den ersten Philosophen, die das »Zurück zu Kant«, die vielzitierte Forderung O. Liebmanns (1840–1912), in ihren Werken umzusetzen suchten. Der Versuch der Rückgewinnung eines vermeintlich »urkundlichen« Kant war andererseits jedoch auch vielfacher Kritik ausgesetzt und wurde als »Kantomanie« (E. v. Hartmann) oder »Autoritätsphilosophie« (W. Wundt) diffamiert. Entsprechend galt der Titel N. zeitweise auch als »Parteiname« eines dogmatischen und jedenfalls unproduktiven Philosophierens. Diese Phase der umstrittenen Kant-Kommentierung wurde jedoch bereits in den 90er Jahren durch eigene systematische Fortarbeit am kritizistischen Programm abgelöst.
Innerhalb des N. sind v.a. zwei Hauptrichtungen voneinander zu unterscheiden, die gemeinhin als Marburger und als Südwestdeutsche Schule des N. bekannt sind. Als bedeutendste Vertreter der Marburger Richtung gelten der Schulgründer Cohen sowie P. Natorp (1854–1924) und E. Cassirer (1874–1945). Die südwestdeutsche Schule wurde v.a. durch W. Windelband (1848–1915) und H. Rickert (1863–1936) repräsentiert. Sie verfocht einen werttheoretischen Kritizismus und nahm mit ihrem Modell eines wissenschaftlichen Methodendualismus (idiographisch/nomothetisch) am Streit um die Autonomie der sich neu konstituierenden Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften teil.
Die beabsichtigte Restauration des Kritizismus bei den Vertretern des N. drückte sich v.a. in einer Restriktion der Philosophie auf Erkenntnistheorie aus. Sie war gegen die Übernahme eines naiven naturwissenschaftlichen Objektivismus gerichtet, der die subjektive Komponente im Erkenntnisvorgang glaubte ignorieren zu dürfen. Gleichzeitig wurden die positiven Wissenschaften paradigmatisch zur Ausgangsbasis der sog. »transzendentalen Methode« erklärt (Cohen). Die kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori, also Erfahrungsurteilen, wurde gemäß dem analytischen Programm der Prolegomena (vgl. bes. § 4) am »Faktum« der Wissenschaften ausgerichtet. Erfahrung wird hier mit wissenschaftlicher Erfahrung identifiziert und Erkenntnistheorie dadurch nahezu bedeutungsgleich mit Wissenschaftstheorie. – Mit der Erweiterung der kritischen Geltungsfrage über das Gebiet theoretisch-wissenschaftlicher Gegenstandskonstitution hinaus auf die transzendentalen Grundlagen vor- und außertheoretischer Wirklichkeitserkenntnis (Ethik, Recht, Kunst, Religion) legt der N. jedoch noch ein zweites Schwergewicht seiner Forschungen auf das Gebiet der Kulturphilosophie (besonders Cassirer). Insbesondere in dieser Hinsicht ist der N. auch für die philosophische Entwicklung des 20. Jh. von großer Bedeutung geblieben.
Literatur:
- W. Flach/H. Holzhey (Hg.): Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus. Hildesheim 1980
- H. Holzhey: Cohen und Natorp. Basel/Stuttgart 1986
- K. Chr. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Frankfurt 1986
- G. Lehmann: Geschichte der nachkantischen Philosophie. Berlin 1931
- H.-L. Ollig: Der Neukantianismus. Stuttgart 1979
- Th. E. Willey: Back to Kant. Detroit 1978.
KHL
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