Metzler Lexikon Philosophie: Praxis
(griech. Handeln). Sowohl poietisches Wissen oder Können (dies wird leider sehr oft mit »praktisches Können« wiedergegeben, was nur zur Verwirrung führt, da das poietische Wissen in der platonischaristotelischen Terminologie vom praktischen ja gerade unterschieden wird), wie praktisches Wissen (praktike episteme) sind Kräfte (dynameis), Ursachen der Veränderung »in einem anderen«. Darin unterscheiden sie sich von dem rein theoretischen Wissen. Aber es gibt auch einen Unterschied zwischen poietischem und praktischem Wissen selbst. Das Ziel des praktischen Wissens besteht darin, auf eine bestimmte Weise zu handeln oder zu leben. Das Ziel einer Techne ist es, ein Ding mit bestimmten Eigenschaften hervorzubringen (ergon), das vom Tun oder Machen unabhängig ist. Der Künstler oder Handwerker verwirklicht eine Idee, indem er in dem, »was der Veränderung fähig ist«, einen Prozess in Gang setzt und steuert, indem er einem äußeren Material eine Form auferlegt, die ihm zunächst als eine bloße Idee vorschwebte. Worauf es aber ankommt, ist das Produkt, nicht seine geistige Verfassung, der Zustand seines Willens oder seine Absicht beim Herstellen, sondern der Charakter dessen, was hervorgebracht wird. Die Produkte der technai, der herstellenden Künste, sind relativ frei oder unabhängig von der Persönlichkeit des Herstellers. Sie haben ihre Güte oder ihre Schlechtigkeit in sich selbst. Ein Künstler ist gut, wenn seine Werke gut sind: Der Wert seiner Werke liegt in ihnen selbst. Dies unterscheidet die techne von dem praktischen Wissen. In beiden sind die Prozesse des Denkens und Überlegens nur als Mittel für die Verwirklichung bestimmter Vorstellungen wichtig. Weder der Künstler noch der Handelnde denken einfach nur um des Verstehens willen. Ihr Nachdenken dient dem, was sie tun, sein oder machen wollen und ist dadurch bedingt. Aber während beim Handeln das Wichtigste der geistige Zustand des Handelnden ist, sein Wille, seine Absicht, seine Motive – denn sein Ziel ist es, auf eine bestimmte Weise zu handeln, »gut zu leben«, und nichts über das Handeln Hinausliegendes –, sind beim Herstellen der Wille, die Motive, Methode der Operation und das wirkliche Machen nur soweit von Bedeutung, als sie den Charakter des Produktes beeinflussen. Man kann den Ursprung dieser Unterscheidung von machen (hervorbringen, poiein) und handeln (prattein) bis auf den platonischen Charmides zurückverfolgen. Als Charmides dort (162 a7 ff) die Besonnenheit (Sophrosyne) mit der – von ihm offenbar nicht recht verstandenen – Formel »das Seinige tun« (ta heautou prattein) definiert, versucht Sokrates den Unterschied zwischen dem Machen (poiein) und dem Handeln (prattein) am Beispiel eines Handwerkers zu verdeutlichen (163 b 1): Ein Handwerker, der das Seinige tut, bringt nicht etwa nur Werke hervor, die ihm selbst nützen, sondern für alle brauchbare und nützliche Werke.
Und eben darin besteht sein »das Seinige Tun«, nämlich seine Aufgabe als Handwerker richtig und gut zu erfüllen. Das Objekt des Machens ist also ein gutes und nützliches Werk, wenn er ein guter Technit ist; das Objekt des »das Seinige Tuns«, der Besonnenheit, ist das »gute« Handeln selbst (163 e 4). Das Ziel des Handelns liegt hier nicht außerhalb des Handelns, wie das Objekt des Hervorbringens ein vom Künstler unabhängiges Werk ist, sondern ist eben die Art und Weise des Tuns: Folgerichtig wendet sich der Charmides der Frage nach dem Selbstbewusstsein des Handelnden zu. Im Staat bildet das Gegensatzpaar »das Seinige tun« (to heautou prattein) und die »Vielgeschäftigkeit« (polypragmosyne, 444 b 2) die beiden Pole, an denen sich die gute und gerechte und die schlechte und ungerechte Seele und Stadt orientieren: »das Seinige zu tun« bedeutet für alle drei Klassen, ihre jeweilige Aufgabe auf eine bestimmte Weise, nämlich besonnen, zu tun; dieses Ziel ist aber kein von ihnen unabhängiges oder ablösbares Werk.
Aristoteles unterscheidet drei Arten des Wissens (episteme): das praktische, das poietische und das theoretische Wissen; das theoretische Wissen wiederum unterteilt sich nach den verschiedenen Objekten in mathematisches, physikalisches und theologisches Wissen (Met. 1025 b 3 ff.). (1) Theoretische Episteme. Soweit die intelligente Tätigkeit des Menschen darauf gerichtet ist, die Natur der Dinge zu verstehen, einfach nur um des Verstehens willen, erhält sie ihre Verkörperung in den epistemai, deren Ziel es ist, die Wahrheit zu sehen (theorein talethes, Met. 997 a 14–15). Die geistige Tätigkeit des Menschen ist in diesem Falle die Betrachtung (theoria). (2) Poietische und praktische episteme. Sofern die intelligente Tätigkeit des Menschen primär darauf gerichtet ist, in einer bestimmten Weise zu handeln oder ein bestimmtes Werk hervorzubringen, erhält sie ihre Verkörperung im praktischen und hervorbringenden Wissen – der Kunst, sein Leben zu führen und den Handwerken und schönen Künsten. Das Ziel des Mensch hier ist es, in einer bestimmten Weise zu leben oder zu handeln, bestimmte Dinge zu machen, nicht dagegen zu verstehen, außer insoweit dieses Verstehen ein Mittel zum Handeln oder Hervorbringen ist. Diese episteme ist Gegenstand der Ethik. Denn die Ethik befasst sich mit der P., dem Handeln, das das richtige Streben verwirklichen soll. Also muss das Handeln sich auf etwas richten, was Veränderung zulässt. In der Eth. Nic. 1139 b14 ff. erklärt Aristoteles deshalb den Unterschied zwischen theoretischer und praktischer episteme genauer und zwar im Zusammenhang mit der Behandlung der dianoetischen Tugenden. Denn die Trefflichkeit des Charakters besteht darin, das Richtige zu tun; in diesem Falle zielt also das Denken und Erfassen des Richtigen auf ein Handeln. Aristoteles unterscheidet zunächst fünf Grundformen, durch welche die Seele bejahend und verneinend die Erkenntnis des Richtigen vollzieht: (1) techne, Können, (2) episteme oder theoretisches Wissen, (3) phronesis, sittliche Einsicht, (4) sophia, philosophische Weisheit und (5) nous, intuitiver Verstand. Die Unterscheidung zwischen der theoretischen episteme und dem praktischen Wissen liegt darin, dass sich die wissenschaftliche Erkenntnis auf Dinge richtet, die den Charakter der Notwendigkeit haben, d.h. ewig und unveränderlich sind, während sich das praktische Wissen auf Handlungen bezieht, d.h. auf einen Stoff, der Veränderungen zulässt. Hier muss man aber zwischen (a) poiesis und (b) P. unterscheiden. (a) Das Können, die techne, ist ein auf das Hervorbringen abzielendes, von richtigem Reflektieren geleitetes Verhalten. Ihm geht es um das Entstehen und seine Ausübung ist ein Ausschauhalten, wie etwas entstehen könne, was dasein und auch nicht dasein kann und dessen Seinsgrund im Schaffenden liegt und nicht in dem, was geschaffen wird. Denn poietisches Können bezieht sich weder auf das notwendige Seiende oder Werdende noch auf das, was sein Dasein oder Werden dem Wirken der Natur verdankt – denn dies hat den Grund seines Daseins in sich selbst. Da nun poietisches Können und Handeln (P.) zwei verschiedene Dinge sind, richtet sich die techne auf das Hervorbringen. Techne ist also ein auf das Hervorbringen abzielendes Verhalten, das von richtigem Planen geleitet wird. (b) Phronesis, sittliche Einsicht hat der, welcher die Fähigkeit zu richtiger Überlegung besitzt. Nun stellt aber niemand Überlegungen an über das, was keine Veränderung zulässt oder zu dessen Ausführung er keine Möglichkeit hat; also kann die sittliche Einsicht nicht wissenschaftliche Erkenntnis sein und auch nicht poietisches Können; wissenschaftliche Erkenntnis (Episteme) nicht, weil das Gebiet des Handelns veränderlich ist; techne nicht, weil Handeln und Hervorbringen der Gattung nach verschieden sind. So bleibt denn das Ergebnis, dass sittliche Einsicht (phronesis) mit richtigem Planen verbundene, zur Grundhaltung verfestigte Fähigkeit des Handelns ist, des Handelns im Bereiche dessen, was für den Menschen wertvoll oder nicht wertvoll ist. Denn das Hervorbringen hat ein Endziel (telos) außerhalb seiner selbst, beim Handeln aber kann dies nicht so sein, denn wertvolles Handeln (eupraxia) ist selbst Endziel.
Literatur:
- H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1960
- G. Bien: Das Theorie-Praxis-Problem bei Platon und Aristoteles. In: Philosophisches Jb. 76 (1968/69). S. 264–314
- T. Ebert: Praxis und Poiesis. In: Zs. für philosophische Forschung 30 (1976). S. 12–31.
MSU
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