Lexikon der Psychologie: Parapsychologie
Essay
Parapsychologie
Eberhard Bauer und Walter von Lucadou
Begriff
Der Begriff geht auf einen von dem Berliner Psychologen und Philosophen Max Dessoir (1867-1947) stammenden Vorschlag zurück, “die aus dem normalen Verlauf des Seelenlebens heraustretenden Erscheinungen parapsychische, die von ihnen handelnde Wissenschaft Parapsychologie zu bezeichnen. Dessoir wollte mit dieser provisorischen Bezeichnung eine Gruppe außergewöhnlicher Phänomene kennzeichnen, die in der Kulturgeschichte zwar immer wieder berichtet wird, deren Existenz aber seit jeher umstritten ist: es handelt sich um verbreitete Erscheinungen und Vorgänge wie Gedankenübertragung, “Zweites Gesicht”, Wahrträume, Ahnungen, Spuk- oder Geistererscheinungen, die zumeist als nicht-alltäglich und emotional besonders bedeutsam eingestuft werden. In der historischen Entwicklung der Parapsychologie lassen sich drei Phasen unterscheiden: 1) die Massenbewegung des Spiritismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die Elemente des Mesmerismus inkorporiert (z. B. Fluidum, Séancen und behauptete “Jenseitskontakte” durch besonders “begabte” Medien), 2) die Gründung der heute noch aktiven “Societies for Psychical Research” in London (1882) und in den USA (1885), die den Beginn einer systematischen und vorurteilslosen Erforschung “okkulter” Phänomene markiert, und 3) die Etablierung der Psi-Forschung an vereinzelten Universitäten Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Gegenstand
Den Gegenstandsbereich der heutigen Parapsychologie bildet eine Gruppe “anomal” anmutender Erlebnis- und Verhaltensweisen, die unter dem Oberbegriff Psi-Phänomene zusammengefaßt werden (nach dem 23. Buchstaben des griechischen Alphabets). Diese werden üblicherweise in zwei Gruppen untersucht: 1) als Außersinnliche Wahrnehmung (“extrasensory perception”, ESP) in den Formen “Telepathie” (= “Übertragung” von psychischen Inhalten von einer Person auf eine andere ohne Beteiligung bekannter Kommunikationskanäle), “Hellsehen” (= Erfassung von 'objektiven' Sachverhalten, die niemandem bekannt sind), “Präkognition” (= Erfassung zukünftiger Vorgänge, die rational nicht erschließbar sind und auch nicht als Folge des Vorauswissens auftreten dürfen); 2) als Psychokinese, worunter die “direkte” Beeinflussung physikalischer oder biologischer Systeme in Abhängigkeit von der Intention eines Beobachters ohne Beteiligung bekannter naturwissenschaftlicher Wechselwirkungen verstanden wird. Bei Außersinnlicher Wahrnehmung und Psychokinese handelt es sich um rein deskriptive Begriffe; zur Vermeidung der erkenntnistheoretischen Problematik von Negativdefinitionen werden Psi-Phänomene in Forschungspraxis operational definiert. Die Aufgabe der parapsychologischen Forschung besteht darin, Erklärungsmodelle für behauptete Psi-Phänomene zu finden, worunter auch konventionelle (“natürliche”) Erklärungen in Form von subjektiven Täuschungen oder Artefakten fallen können. Im Unterschied zu einem weitverbreiteten Mißverständnis hängt die Legitimität dieser Forschung also nicht davon ab, daß sich “Psi” als eigenständiges Konstrukt verifizieren läßt.
Forschungsstrategien
Die Parapsychologie verwendet folgende Forschungsmethoden (Krippner, 1977-1997):
1) Sammlung, Dokumentation und Klassifikation paranormaler Spontanberichte unter phänomenologischen, psychologischen und soziologischen Aspekten. Die soziale Relevanz dieser Forschungsrichtung geht aus Umfragen hervor, denenzufolge über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der USA über subjektive paranormale Erfahrungen im Sinne von “Gedankenübertragung” oder Hellsehen berichtet. Subjektive paranormale Erfahrungen können folgendermaßen klassifiziert werden: a) nach Psi-Modus (“gleichzeitige”, d.h. telepathische oder Hellsehphänomene und “präkognitive” Phänomene), b) nach Erlebnisformen (Ahnungen, Halluzinationen, “symbolische” vs. “realistische” Träume und Visionen, c) nach dem Bewußtseinszustand (Wachzustand oder Traum), d) nach vorhandenem oder fehlendem Bedeutungsbewußtsein, e) nach vorhandener oder fehlender psychologischer Motivation, f) nach inhaltlicher Thematik, g) nach Bezugspersonen. Alle diese subjektiven paranormalen Erfahrungen sind in ein komplexes Muster kognitiver, soziokultureller, emotionaler, motivationaler, neuropsychologischer und psychodynamischer Faktoren eingebettet. Durch den quantitativen Vergleich zeitlich und geographisch unterschiedlicher Fallsammlungen wird nach gemeinsamen bzw. divergierenden Patterns gefragt, die sich möglicherweise durch konventionelle Hypothesen erklären lassen.
2) In der Feldforschung geht es um die detaillierte Untersuchung solcher Situationen, in denen Psi-Effekte gehäuft aufzutreten scheinen. Paradigmatisch dafür sind die sog. “Spukfälle” (recurrent spontaneous psychokinesis-Phänomene), bei denen “unerklärte” physikalische Vorfälle (z. B. Klopfgeräusche) zumeist in Gegenwart eines pubertierenden Jugendlichen (“Spukauslöser”, Fokusperson) auftreten. Eine “objektive” Dokumentation dieses Geschehens, die immer das Verkennen “natürlicher” Ursachen und Betrugsmöglichkeiten berücksichtigen muß, wird mit der einzel- und gruppendiagnostischen Erfassung des Interaktionsgeschehens zwischen Fokusperson und seinem sozialen Umfeld (z. B. Familie) gekoppelt, die auf geeignete Interventionsmaßnahmen abzielt.
3) Kontrollierte Laborexperimente haben zum Ziel, operational definierte Außersinnliche Wahrnehmungs- und Psychokinese-Hypothesen mit unausgewählten Versuchspersonen zu testen. Gebräuchlich sind zwei Vorgehensweisen: Bei der “beweisorientierten” Überprüfung der Außersinnlichen Wahrnehmungs-Hypothese muß ein sensorisch abgeschirmter “Empfänger” eine zufällig erzeugte Abfolge von Symbolen, die ein räumlich entfernter “Sender” betrachtet, “erraten”. Eine statistisch signifikante Abweichung der Trefferanzahl von der Zufallserwartung bei genügend langen Versuchsserien wird als “Telepathie” definiert, “Hellsehen” ist dann gegeben, wenn kein Sender vorhanden ist, bei “Präkognition” erfolgt der Ratevorgang, bevor die Zielfolge generiert wurde. Bei allen drei Versuchsmodalitäten sind die Wahlalternativen zwischen den Zielsymbolen begrenzt (forced-choice-Methode). Zur Überprüfung der Psychokinese-Hypothese müssen Versuchspersonen durch bloßes “Wünschen” physikalische Zufallsereignisse in eine vorher festgelegte Richtung “beeinflussen". Zum heutigen Standard der Psychokinese-Forschung gehören die Schmidt- Maschinen, die auf dem spontanen radioaktiven Zerfall beruhen und mit verschiedenen Displays (optisch/akustisch) betrieben werden, sowie die Experimente zur “Beeinflussung” biologischer Systeme (distant mental interaction on living systems), bei denen die physiologische Reaktion eines sensorisch abgeschirmten Probanden gemessen wird (z. B. die elektrodermale Aktivität) (Radin, 1997). Der “prozeßorientierte” Zugang zielt auf die Untersuchung der psychologischen, situativen oder physikalischen (Rand-)Bedingungen ab, von denen die Psi-Effekte möglicherweise abhängen. Als Beispiel für einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsvariablen und Psi-Trefferleistungen ist der “Sheep-Goat-Effekt” zu erwähnen, der besagt, daß die durch einen Fragebogen gemessene “positive” oder “negative” Einstellung der Versuchsperson paranormalen Phänomenen gegenüber bzw. ihr Glaube an “Erfolg” oder “Mißerfolg” im Experiment das Ergebnis beeinflußen kann. Der prozeßorientierte Zugang verwendet zumeist “free-response”-Methoden, bei denen die Versuchsperson das ihr unbekannte Zielobjekt (Target) in freien Einfällen beschreibt. Zu den erfolgreichen Forschungsparadigmen in dieser Hinsicht gehören a) die experimentelle Beeinflussung von Trauminhalten unter Laborbedingungen; b) die Remote-Viewing (Fernwahrnehmungs-) Experimente; c) die Ganzfeld-Experimente, bei denen der “Empfänger” in den Zustand einer milden sensorischen Deprivation versetzt wird, während der “Sender” ein zufällig ausgewähltes komplexes Target (z. B. ein Bild) betrachtet (Radin, 1997).
Forschungsstand
Die Mehrzahl der professionellen “Parapsychologen”, die in der Regel Mitglieder der 1957 gegründeten “Parapsychological Association” sind, geht von folgendem Forschungsstand aus: es gibt auf phänomenologischer Ebene Psi-Anomalien, die sich bisher nicht mit konventionellen Hypothesen erklären lassen; “Psi-Effekte” sind zwar schwach, aber statistisch gesehen “robust”, wie insbesondere Metaanalysen von Außersinnlicher Wahrnehmungs- und Psychokinese-Experimenten belegen (Radin, 1997; Utts, 1991); sie scheinen eher von psychologischen Faktoren (etwa Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraversion/emotionale Stabilität oder Einstellungen) abzuhängen als von räumlichen oder zeitlichen Distanzen), ohne daß sie steuerbar oder trainierbar wären; veränderte Bewußtseinszustände (Meditation, Hypnose, Entspannung, Reizentzug) begünstigen zwar ihr Auftreten (“psi conducive-states”), aber spezifische Bedingungen sind noch nicht bekannt; manche Experimentatoren sind offenbar “erfolgreicher” als andere (Psi-Experimentator-Hypothese). In der heutigen Theorienbildung der Parapsychologie (Übersicht bei Lucadou, 1995) ist man von klassischen, an der Psychophysik orientierten Vorstellungen, die unter Außersinnliche Wahrnehmung eine “Übertragung” von Information, unter Psychokinese eine energetische “Beeinflussung” sehen, weitgehend abgekommen; experimentell überprüfbare Modellannahmen werden als observational theories zusammengefaßt, die Psi-Effekte als nicht-lokale Korrelationen zwischen quantenmechanischen Fluktuationen und einem psychisch disponierten “System” (Beobachter) auffassen. Diese Modelle versuchen, sowohl die Experimentatorabhängigkeit als auch die auffallende Elusivität (Flüchtigkeit) der Psi-Phänomene zu erklären. Außerdem wird dadurch verständlich, weshalb sich bei Psi-Experimenten der Effekt nicht beliebig statistisch akkumulieren läßt, was zu einer Einschränkung der Reproduzierbarkeit führt. Der Status der parapsychologischen Forschung ist in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten (Psi-Kontroverse); die Parapsychologie hat sich auf der einen Seite vom Verdacht der Pseudowissenschaft abzugrenzen, auf der anderen von einem dogmatischen Skeptizismus, der in allen Psi-Effekten nur Selbsttäuschungen, statistische bzw. experimentelle Artefakte oder Betrug und Manipulation seitens Experimentator und/oder Versuchsperson sieht. Obwohl es Ansätze zu einem konstruktiven Dialog zwischen Parapsychologen und ihren Kritikern gibt, ist es eher unwahrscheinlich, daß in absehbarer Zeit Psi-Effekte im Rahmen der akademischen Psychologie als legitimes Forschungsobjekt anerkannt werden; die Vertreter der wissenschaftlichen Parapsychologie unterliegen insofern einem ständigen Legitimationszwang und sehen sich mit der Rezeptionsproblematik einer “unorthodoxen” Wissenschaft konfrontiert. Wichtige universitäre Forschungseinrichtungen sind: Division for Personality Studies am Medical Center der Universität Charlottesville (Virginia), Princeton Engineering Anomalies Research Laboratory an der Universität Princeton (New Jersey), Arthur-Koestler-Lehrstuhl für Parapsychologie am Psychologischen Institut der Universität Edinburgh (Schottland). In Deutschland ist die parapsychologische Beratungs-, Informations- und Forschungarbeit an zwei Institutionen geknüpft, die alle in Freiburg i.Br. ihren Sitz haben: das 1950 gegründete Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V., das über eine umfangreiche Spezialbibliothek verfügt, sowie die im Rahmen der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie e.V. gegründete Parapsychologische Beratungstelle. Diese Einrichtungen sehen sich vor allem mit psychologischen und psychohygienischen Auswirkungen der “modernen” Okkultismus- und Esoterik-Welle konfrontiert.
Literatur
Krippner, S. (1977-1997). (Ed.). Advances in parapsychological research, vols. I-VIII. New York: Plenum Press 1977-1982; Jefferson, NC & London: McFarland 1984-1997. [Bisher 8 Bände]
Lucadou, W.v. (1995). Psyche und Chaos: Theorien der Parapsychologie. Frankfurt a. M.: Insel Verlag (auch als Insel-Taschenbuch erschienen unter dem Titel: Psi-Phänomene: Neue Ergebnisse der Psychokinese-Forschung. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel Verlag 1997, it 2109).
Radin, D. (1997). The conscious universe: The scientific truth of psychic phenomena. San Francisco: HarperEdge.
Utts, J. (1991). Replication and meta-analysis in parapsychology. Statistical Science, 6, 363-403.
White, R. A. (1990). Parapsychology: new sources of information, 1973-1989. Metuchen, N. J., & London: Scarecrow.
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