Neurolinguistik: Das Zweiwegemodell

Den Wissenschaftlern damals standen solche Methoden nicht zur Verfügung. Das einzige Erfolg versprechende Verfahren zu Zeiten Wernickes waren Läsionsstudien: Man untersuchte Personen mit klar umrissenen Störungen – etwa solche, die keine sinnvollen Sätze mehr bilden konnten – und bestimmte nach dem Tod der Patienten die Hirnverletzungen, die hierfür augenscheinlich verantwortlich gewesen waren. Das auf den ersten Blick annähernd uniforme Gehirn ließ sich so nach verschiedenen Aufgaben untergliedern.
Auf diese Weise war es einige Jahre zuvor Wernickes französischem Kollegen Paul Broca (1824-1880) gelungen, ein "motorisches Sprechzentrum" dingfest zu machen. Wer in diesem definierten Bereich des Frontallappens eine Verletzung hatte, litt unter erheblichen Schwierigkeiten beim Sprechen. Folglich mussten hier, so schlussfolgerte man schon damals, die "Bewegungsvorstellungen" angesiedelt sein, aus denen sich die Kommandos an die Artikulationsorgane speisen.
Wernicke hatte nun sämtliches Wissen seiner Zeit über neuronale Sprachverarbeitung zusammengetragen und dem motorischen Zentrum Brocas auf Grund eigener Studien ein weiteres hinzugefügt, in dem das Gehirn seiner Ansicht nach die entsprechenden "Klangbilder" speicherte. Damit hielt er die einzigen lokalisierbaren "Sprachzentren" im Gehirn für entdeckt: Das Broca-Zentrum war in die motorischen Aspekte der Sprache involviert und das später nach ihm selbst benannte Wernicke-Areal in die sensorischen.
Doch der entscheidende Clou in Wernickes "physiologischer Studie auf anatomischer Basis" war eine andere Erkenntnis: Die beiden Hirnareale, so vermutete er, können ihrer Aufgabe nur dann nachkommen, wenn sie fortwährend miteinander wechselwirken – eine Überzeugung, der sich bis heute die meisten Hirnforscher anschließen ...
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