Achtsamkeit: Ein Weg aus der gestressten Gesellschaft?
Schließlich meldete sich Anna Senter* zu einem Achtsamkeitsyoga an. Über Monate hatte der Stress im Job sie ausgelaugt. Ihre Chefin erwartete ständige Erreichbarkeit für ein wichtiges Projekt. Die Arbeitsbelastung war so hoch, dass Anna kaum noch abschalten konnte. Als dann die Schlafstörungen hinzukamen, war ihr klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Um etwas gegen die ständige Anspannung zu tun, meldete sich Anna zu einem Achtsamkeitskurs an.
Wie Anna Senter setzen viele Menschen heute auf Achtsamkeit (neudeutsch Mindfulness) als Mittel zur Stressreduktion. Zu lernen, Körper, Atem, Gedanken und Gefühle im Alltag bewusster wahrzunehmen, um fest im Hier und Jetzt verankert zu sein – das ist in den vergangenen Jahrzehnten immer beliebter geworden: Große Unternehmen wie Google oder Bosch bieten inzwischen Achtsamkeitstrainings für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an, Krankenkassen bezuschussen Kurse, und Achtsamkeitsapps zählen Millionen Nutzer. Auch die Verwendung des Begriffs Achtsamkeit in Zeitungen und wissenschaftlichen Artikeln hat seit den 1990er Jahren rasant zugenommen und zeugt von einem stark gestiegenen Interesse.
Bei näherer Betrachtung ist Anna Senters Entscheidung, ihrer Not mit mehr Achtsamkeit zu begegnen, gar nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn: Ein Achtsamkeitskurs kann ihre Arbeitssituation nicht verändern. Alternativ hätte Anna das Gespräch mit ihrer Chefin suchen, den Betriebsrat einschalten oder den Arbeitsplatz wechseln können. Ebenso wäre ein Training in Zeitmanagement denkbar gewesen, vielleicht auch ein Besuch im Schlaflabor. Angesichts der vielen Möglichkeiten stellt sich die Frage: Warum ist Achtsamkeit für so viele Zeitgenossen die plausibelste Wahl?
Ein diffuser Sammelbegriff
Zunächst einmal: »Achtsamkeit« als einheitliches Konzept existiert nicht. Achtsamkeit wird häufig als ein Bewusstseinszustand der Geistesgegenwart definiert. Sie ist aber auch eine körperliche Praxis und sogar ein Lebensstil. »Man kann achtsam spazieren gehen, achtsam essen und sich sogar achtsam kleiden«, erklärt die Emotionssoziologin Elgen Sauerborn von der Freien Universität Berlin. Im Jahr 2022 hat sie an der Universität Hamburg mit ihren Kollegen Nina Sökefeld und Sighard Neckel eine ethnografische Studie zum Thema durchgeführt. Die Ethnografie ist ein ganzes Forschungsprogramm, mit dem Forscher möglichst nah an die Lebensrealität der Beforschten herankommen wollen. Dafür werden verschiedene Methoden wie teilnehmende Beobachtungen, Interviews, Medienberichte oder Tagebucheinträge miteinander kombiniert. Beobachtet werden nicht nur die anderen. Auch die bewusste Reflexion der eigenen Erfahrungen ist ein fester Bestandteil der Methode.
Für ihre Studie belegten Elgen Sauerborn und ihre Kollegen neun unterschiedliche Achtsamkeitskurse über insgesamt 120 Stunden – mit Einverständnis der Trainer und anderen Kursbesucher als normale Teilnehmer. Als Ergänzung zu ihren Beobachtungen führten sie sechs ein- bis zweistündige Interviews mit Achtsamkeitstrainern und werteten populäre Magazine, Bücher, Newsletter und Social-Media-Beiträge aus, darunter Klassiker der Achtsamkeitsliteratur wie die Bücher des bekannten Achtsamkeitslehrers Jon Kabat-Zinn. Bei ihrer Auswertung stellten sie schnell fest: Unter dem Begriff Achtsamkeit finden sich unterschiedlichste Angebote mit teils sehr verschiedenen Erzählungen – von reiner Stressreduktion bis hin zum Versprechen einer kompletten Transformation des Lebens.
Doch eine Meditations-App ist etwas anderes als ein buddhistisches Schweige-Retreat. Der Soziologe Jacob Schmidt unterscheidet in seiner Dissertation deshalb drei Strömungen der Achtsamkeit: die distanziert-sezierende, die interessiert-sorgende und die funktionalistische.
Drei Arten von Achtsamkeit
Distanziert-sezierende Achtsamkeit: Sinneseindrücke werden nüchtern und distanziert registriert und dabei präzise wahrgenommen. Wenn etwa das Knie während einer Meditation schmerzt, wird diese Regung wahrgenommen, aber nicht bewertet oder zu verändern versucht. Das Ziel entsprechender Übungen, wie sie zum Beispiel in der Vipassana-Meditation praktiziert werden: die Welt erfahren, wie sie ist, und dem eigenen Erleben weder Glück noch Leid anhaften. Hierbei wird häufig – und lange – im Sitzen meditiert.
Interessiert-sorgende Achtsamkeit: Praktizierende »fühlen« sich sorgsam und interessiert in innere Empfindungen und Bedürfnisse hinein. Es geht darum, das Leben bewusster wahrzunehmen und es nicht zu verpassen. Hierzu zählt beispielsweise die Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat-Zinn. Es gibt Sitz- und Liegemeditationen; darüber hinaus wird besonders Achtsamkeit bei alltäglichen Routinen wie dem Essen oder dem Abwasch betont.
Funktionalistische Achtsamkeit: Sie lässt sich auch als Mainstream-Achtsamkeit bezeichnen und ist weitestgehend entkoppelt von den buddhistischen Wurzeln. Im Fokus stehen positive Gesundheitseffekte und Selbstoptimierung. Praktiziert wird sie vergleichsweise kurz, etwa über Achtsamkeits-Apps.
Quelle: Schmidt, J.: Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens. Bielefeld, transkript, 2020
Trotz dieser Unterschiede gibt es gute Gründe, Achtsamkeit in all ihren Ausprägungen als ein zusammenhängendes Phänomen zu betrachten. »In der öffentlichen Rezeption wird Achtsamkeit sehr pauschal verwendet, und genau das trägt dazu bei, dass sie oft als Allheilmittel gilt«, sagt Elgen Sauerborn. Wer etwa nach »Achtsamkeit« google, stoße auf ein Sammelsurium von Inhalten. Während Lifestyle-Magazine unter dem Label pauschal das gute Leben anpreisen, bestätigen wissenschaftliche Studien etwa die Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen bei chronischen Schmerzen. Entscheidend dabei ist: Wenn sich Menschen wie Anna Senter für eine gesundheitsfördernde Maßnahme zum achtsamen Stressabbau entscheiden, schwingen die Versprechen anderer Strömungen dabei mit.
Symptom statt Lösung
Um den Mindfulness-Boom zu verstehen, ist eine weitere Unterscheidung wichtig: Erfolg ist nicht gleich Wirksamkeit. Denn die besondere Beliebtheit einer Methode ist kein Beleg für gute Wirksamkeit. Elgen Sauerborn und ihre Kollegen meinen: Die hohe Nachfrage nach Achtsamkeit zeigt vor allem die Dringlichkeit, mit der Menschen einen Ausweg aus Krisen und persönlicher Erschöpfung suchen.
Auch für Jacob Schmidt ist die Popularität von Achtsamkeit eher ein Symptom als eine Lösung für gesellschaftliche Schieflagen. »Es ist nur logisch, dass sich Menschen auf die individuelle Ebene zurückziehen, wenn sie das Gefühl haben, politisch nichts ausrichten zu können«, erklärt er auf Nachfrage. Politische Ohnmachtserfahrungen und der Erfolg von individualistischen Techniken wie Achtsamkeit hängen für ihn zusammen.
Der Boom der Achtsamkeit steht in einer unverhältnismäßigen Beziehung zu ihrer Wirkung. Das bestätigen auch psychologische Studien. Eine der größten Metastudien zum Thema stammt von einem interdisziplinären Forschungsteam der Johns Hopkins University um den Mediziner Madhav Goyal. Im Jahr 2014 schaute sich das Team 47 Achtsamkeitsstudien mit insgesamt 3515 Teilnehmern an. Das Fazit: Meditationsprogramme helfen nicht besser als andere Maßnahmen wie Medikamente, Verhaltenstherapie oder Sport. Die Ergebnisse zeigten, dass Achtsamkeitsprogramme zu mäßigen Verbesserungen bei Angst und Schmerzen und zu geringen Verbesserungen bei Stress beitragen. Dass sich Meditationsprogramme positiv auf Stimmung, Aufmerksamkeit, Substanzkonsum, Essgewohnheiten, Schlaf und Gewicht auswirken, konnte nicht belegt werden.
Eine neuere empirische Studie von Forschern um den Psychiater Jesus Montero-Marin aus dem Jahr 2022 untersuchte die Wirkung von Achtsamkeitsübungen bei mehr als 8000 Schülerinnen und Schülern im Alter von 11 bis 14 Jahren. Die Hälfte der Kinder nahm an einem schulischen Mindfulness-Training (SBMT) teil, während die andere Hälfte in derselben Zeit ganz normal die Schulbank drückte. Das ernüchternde Ergebnis der groß angelegten Studie: Die Kinder konnten ihre psychische Gesundheit mittels Achtsamkeitsmeditation nicht verbessern. Sofern bereits ein Risiko für psychische Erkrankungen bestand, wirkte sich Achtsamkeit teilweise sogar nachteilig aus.
Die Wirkung allein kann demnach nicht die einzige Erklärung für den erstaunlichen Erfolg der Achtsamkeitsbewegung sein. Was steckt also noch dahinter? Die Antwort: Mindfulness entwickelte sich vom Nischenphänomen zum kulturellen Mainstream, weil sie einen gesellschaftlichen Nerv trifft und erfolgreich an bestehende soziale Logiken und Deutungsmuster anknüpft.
Eine Kultur der emotionalen Selbstoptimierung?
Während für Anna Senter der Achtsamkeitskurs eine plausible Antwort auf ihren beruflichen Stress ist, wäre ihr 80-jähriger Nachbar in seinen aktiven Zeiten wohl eher nicht darauf gekommen. Ältere Menschen sind in einer Zeit aufgewachsen, in der die gesellschaftliche Haltung gegenüber Therapie und Psychologie in Deutschland von Skepsis und Misstrauen bis hin zu Stigmatisierung geprägt war. In den 1950er und 1960er Jahren wurde Gefühlen wenig Beachtung geschenkt, und chronische Schmerzen galten als rein körperlich. Der Gang zum Psychotherapeuten war vielfach mit Scham besetzt. Noch vor einer Generation hätte sich jemand in Anna Senters Situation wohl eher ein Schlafmittel vom Arzt verschreiben lassen, um das Problem der nächtlichen Grübelschleifen und der zunehmenden Nervosität in den Griff zu bekommen. War das besser? Aus heutiger Sicht: wohl kaum.
Inzwischen wird Emotionen und ihrem Management mehr Bedeutung beigemessen. Nicht nur die Psychotherapie und Achtsamkeitskurse, auch andere Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung gelten als etabliert. Achtsamkeit fügt sich damit in eine breitere Kultur der emotionalen Selbstoptimierung ein, wie sie die Soziologin Eva Illouz von der Hebräischen Universität Jerusalem bereits 2006 in ihrem Buch »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« beschrieben hat. Menschen werden zunehmend dazu angehalten, ihre emotionalen Belastungen selbst zu regulieren. Demnach ist Achtsamkeit ein Spiegel aktueller Wert- und Normvorstellungen, was sie für Forscherinnen und Forscher wie Elgen Sauerborn zu einem spannenden Forschungsfeld macht: »Am Beispiel der Achtsamkeit lassen sich größere gesellschaftliche Entwicklungen wie die zunehmende Therapeutisierung der Gesellschaft gut zeigen«, sagt sie.
»Am Beispiel der Achtsamkeit lassen sich größere gesellschaftliche Entwicklungen wie die zunehmende Therapeutisierung der Gesellschaft gut zeigen«Elgen Sauerborn, Emotionssoziologin
Häufig wird dieser Trend zum emotionalen Selbstmanagement aus soziologischer Sicht jedoch stark kritisiert, da es sich dabei um individuelle Lösungsversuche für gesellschaftliche Probleme handle. Wie Anna Senter erleben heute viele Menschen psychische Belastungen – bis hin zum Burnout – durch stark verdichtete oder entgrenzte Arbeit. Doch statt die strukturellen Ursachen zu bekämpfen, propagiert die Gesellschaft individuelle Bewältigungsstrategien. Anders formuliert: Achtsamkeit kann zwar helfen, den eigenen Stresspegel zu senken. An den Arbeitsbedingungen, die diesen Stress verursachen, ändert dies jedoch nichts. Im Gegenteil: Soziale Ungleichheiten, prekäre Arbeitsverhältnisse und strukturelle Schieflagen geraten durch den Achtsamkeitsboom sogar aus dem Blickfeld.
Elgen Sauerborn und Jacob Schmidt halten pauschale Kritik am Achtsamkeitsboom für zu einseitig. Die qualitative Studie von Sauerborn und Kollegen zeigt: Moderne Achtsamkeit ist nicht nur Selbstoptimierung, sondern spricht auch Menschen an, die der Wettbewerbsgesellschaft kritisch gegenüberstehen; das Narrativ der Absichtslosigkeit und das Ideal der Authentizität spielten in den besuchten Achtsamkeitskursen eine zentrale Rolle. Darin spiegle sich eine »Sehnsucht nach einer einfacheren, weniger komplexen Welt« wider. »Es geht fast nirgends nur um Selbstoptimierung allein«, so Sauerborn.
Achtsamkeit als Gegnerin aus Stroh
Das zentrale Ergebnis ihrer Studie lautet: Achtsamkeit ist erfolgreich, weil sie genau die gesellschaftlichen Widersprüche aufgreife, die zahlreiche Menschen umtreiben. Sie vereint Spannungsfelder wie Zweckfreiheit und Leistungssteigerung, wissenschaftliche Fundierung und spirituelle Praxis, Authentizität und Emotionsmanagement. Als unscharfer Begriff biete Achtsamkeit für fast jedes Problem eine scheinbar passende Lösung.
Der Achtsamkeitsboom ist ein Brennglas, das größere soziale Probleme und verbreitetes Leid sichtbar macht. Ihre Popularität verweist weniger auf ihre Lösungskraft als auf die Notwendigkeit, strukturelle Bedingungen zu verändern. Aber Achtsamkeit ist auch nicht die Ursache gesellschaftlicher Probleme. »Sie ist eine Gegnerin aus Stroh«, schreibt Jacob Schmidt in seinem Buch. »Wenn Achtsamkeit weg ist, kommt das nächste Ding«, sagt er. Das bedeutet: Statt sich am Mindfulness-Boom abzuarbeiten, sollten kritische Zeitgenossen lieber ihre politische Selbstwirksamkeit steigern. Übertragen auf das Beispiel von Anna Senter hieße das: Hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihre Arbeitssituation aktiv zu verbessern, beispielsweise durch eine Mitarbeit im Betriebsrat, wäre der Achtsamkeitskurs vielleicht gar nicht nötig geworden.
* Name geändert
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