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Sibirien: Spuren der skythischen Geisterreiter entdeckt

Laut Herodot sollen die Skythen eine albtraumhafte Reiterparade um die Gräber ihrer Anführer inszeniert haben. Skelette aus Sibirien zeigen: Es könnte tatsächlich so gewesen sein.
Reste eines mit Erde überzogenen Pferdeschädels, der auf dem Erdboden liegt: ein Teil der Trense ist erkennbar, die großen, hellen Vorderzähne dominieren das Bild.
Skelett eines »Geisterpferds«? Noch erhaltenes Zaumzeug im Maul des Tieres legt nahe, dass es einst in voller Reitausstattung geopfert wurde.

In seinen »Historien« beschreibt der griechische Geschichtsschreiber Herodot eine Bestattungssitte, die auch aus dem Skript zu einem Horrorfilm stammen könnte. Demnach opfern die Skythen die 50 besten Diener und 50 besten Pferde ihres verstorbenen Anführers, stopfen sie aus und montieren sie mit Stöcken und Pfählen in lebensechter Pose zu einem ewigen Ritt rund um den »Kurgan« des toten Herrschers – Kurgane, das sind die unter Hügeln verborgenen Grablegen prähistorischer zentralasiatischer Völker.

»Nachdem sie auf diese Weise die Reiter um das Grab gestellt haben«, führt Herodot aus, »reiten sie davon.« Und überlassen, so darf man ergänzen, die Parade der Toten ihrer schleichenden Verwesung.

Bei Ausgrabungen in der sibirischen Republik Tuwa haben Archäologen nun 2800 Jahre alte menschliche und tierische Überreste gefunden, die nahelegen, dass das von Herodot geschilderte Spektakel tatsächlich so oder so ähnlich stattgefunden haben könnte. Das ist insofern bemerkenswert, als es an vielen anderen Darstellungen des griechischen Geschichtsschreibers Zweifel gibt. Vieles, worüber er schrieb, kannte er nur vom Hörensagen, insbesondere, was Menschen anbelangt, die wie die skythischen Reiternomaden weit entfernt von seiner Heimat lebten. Herodot schrieb seine »Historien« um 430 v. Chr. in Griechenland nieder.

Kurgan Tunnug 1 | Der Grabhügel zählt zu den größten und ältesten Grabhügeln in der eurasischen Steppe. Bislang hat das Team nur einen Teil davon frei gelegt.

Doch seine Schilderung des Bestattungsrituals könnte einen wahren Kern haben, überlegt nun ein Team um Gino Caspari vom Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena in der Fachzeitschrift »Antiquity«. Es hat bislang rund ein Drittel des Kurgans Tunnug 1 frei gelegt und fand dort in drei abgrenzbaren Bereichen die Skelette von mindestens 18 Pferden samt Zaumzeug. Darunter verstreut lagen die Knochen einer Frau oder auch weiterer Individuen. Wie viele es wirklich waren, ist noch unklar. Die Oberfläche der Gebeine lässt darauf schließen, dass sie längere Zeit Wind und Wetter ausgesetzt waren. Auch Holzreste sind vorhanden, sie könnten von einstigen Gestellen stammen. All das deute darauf hin, dass sie auf ein Arrangement gestoßen sind, das jenen »geisterhaften Kavalkaden« ähnelte, die Herodot beschrieb.

Grabbeigaben, die nicht im Grab liegen

Dass geopferte Pferde oder Menschen in den Kurganen hochgestellter Persönlichkeiten der frühen Eisenzeit zu finden sind, ist nicht neu. Der fundamentale Unterschied besteht nach Meinung der Ausgräber darin, dass bei dem Kurgan Tunnug 1 die Opfergaben nicht in der Grabkammer oder einer Nebenkammer abgelegt wurden. Stattdessen befanden sie sich außerhalb der Lehmschicht, mit der das Innenleben des Grabhügels abgedeckt wurde.

Ob sie allerdings sichtbar auf dem Hügel postiert waren, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sicher belegen. Dagegen spricht, dass die Pferde- und Menschenopfer unterhalb einer Steinschicht aufgefunden wurden, die einst den Kurgan überdeckte. Es scheint folglich nicht so zu sein, dass die Erbauer einfach »davonritten«, wie Herodot es schilderte. Stattdessen müssen sie zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Opferung am Kurgan weitergebaut haben.

Ohnehin dürfte man es hier mit einer Frühform dieser Bestattungssitte zu tun haben. Der von Casparis Team ausgegrabene Kurgan stammt aus einer Zeit rund 400 Jahre vor der Niederschrift der »Historien« und gehört in die Frühzeit jener Gruppen, die sich später im weitesten Sinne den Skythen zurechnen lassen. Damals, im 9. Jahrhundert v. Chr., am Übergang von Bronzezeit und Eisenzeit, begannen sich in Innerasien die Merkmale herauszubilden, die heute zur Identifikation der Skythen herangezogen werden. Auch dafür ist Tunnug 1 ein Beleg: Die Funde gehören zu den ältesten, an denen sich die »skythische Triade« aus charakteristischen Tierdarstellungen, Waffen und Zaumzeug dingfest machen lasse, heißt es in der Studie in »Antiquity«.

Die Allgegenwart von Zaumzeug und Reitzubehör in skythischen Fundkomplexen ist kein Zufall: Pferde waren das bestimmende Element dieser Gruppen. Die Zucht von Pferden, ob als Reit- oder Zugtier, dürfte zu den prägendsten Innovationen der damaligen Zeit gehört haben. Die Tiere verliehen den Menschen eine nie da gewesene Mobilität, was sich dann auch in der Bestattungspraxis niederschlug.

Auf dem Pferderücken in den Westen

Der Kurgan Tunnug 1 liegt in der zentralasiatischen Republik Tuwa. Als Herodot seine Historien verfasste, lebten die Menschen, die er als Skythen bezeichnete, hingegen in der Steppenregion nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer, also 3000 bis 4000 Kilometer weiter westlich davon. Dass sie ursprünglich einmal anderswo gelebt hatten, war auch dem Geschichtsschreiber bewusst: Sie seien aus ihrer Heimat im Fernen Osten westwärts vertrieben worden.

Die frühskythisch anmutenden Funde aus der Republik Tuwa unweit der mongolischen Grenze legen nahe, dass sich in dieser Gegend der ursprüngliche Lebensraum jener Gruppen befunden haben könnte. Auch die Genetik verbindet dieses Gebiet mit der westlichen Steppenregion. Allerdings ist das Bild, das sich aus DNA-Studien ergibt, komplexer, als Herodots Beschreibungen glauben machen. Ein eigenes »Volk der Skythen« mit genau einer Wurzel im Osten ist nicht fassbar. Stattdessen gab es vielfachen kulturellen und genetischen Austausch zwischen den diversen Bevölkerungsgruppen Eurasiens. Das Pferd als Reittier dürfte auch hier wieder eine entscheidende Rolle gespielt haben.

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