Ausgrabungen: Berlins fast vergessene Mitte
Berlin, so schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler in seiner 1910 erschienenen Streitschrift »Berlin – ein Stadtschicksal«, sei eine »seelenlose« Kolonialstadt. Gegründet von Kaufleuten, um den slawisch besiedelten Osten zu erschließen, ein Außenposten in Reichsrandlage, für den hochmittelalterlichen Fernhandel aus dem Boden gestampft. Das »aus einer wendischen Fischersiedlung zur mächtigen Millionenstadt und Reichshauptstadt emporgewachsene Berlin«, stellt er abschließend fest, sei durch sein Schicksal verdammt, »immerfort zu werden und niemals zu sein«.
Schefflers schöner Schlusssatz lieferte seinen beruflichen Nachkommen ein gern zitiertes, wenn auch nicht ganz zutreffendes Bonmot. Denn die in der Mitte des 13. Jahrhunderts an der Spree gegründeten Schwestersiedlungen Berlin und Cölln waren nie gewachsene Fischerdörfer, sondern von Anfang an Planstädte.
Die Wandlungsfähigkeit aber ist nach wie vor der Wesenskern von Deutschlands einziger Metropole von Weltrang. Innerhalb von 100 Jahren war Berlin die schmucke Kaiserstadt eines jungen Reichs, Zentrum der Moderne, Reichshauptstadt des Bösen, Frontstadt im Kalten Krieg, Partykapitale des wiedervereinigten Deutschlands und bevorzugter Start-up-Standort digitaler Nomaden. Lange Zeit galt hier fast ausschließlich das Recht des Neuen – auch und ganz besonders in der Architektur. Immer wieder mussten gewachsene Quartiere Neubauten oder schlicht dem Fortschritt weichen.
1888 etwa wurde ein ganzes Viertel schonungslos abgetragen, als das Rote Rathaus in neuem, elektrifiziertem Glanz erstrahlen sollte. Unmittelbar an dessen Rückseite, inmitten eines Wohnviertels, errichteten die Berliner Elektrizitätswerke (Bewag) die »Central-Station Spandauer Straße«. 1889 nahm diese als drittes Kraftwerk der Reichshauptstadt den Betrieb auf. Hier erzeugten bis 1919 riesige kohlebetriebene Dampfmaschinen elektrischen Strom, rauchten mitten im Wohngebiet unablässig die Schlote. »Um das Kraftwerk zu erbauen, wurde unter anderem das damals älteste bürgerliche Steingebäude Berlins, das Blankenfelde-Haus, abgerissen«, sagt Michael Malliaris.
Die Gründungszeit ist historisch kaum belegt
Heute beschert der anhaltende Bauboom dem Archäologen des Landesdenkmalamts einen einzigartigen Einblick in die frühe Jugend der Stadt. Seit Anfang 2019 leitet Malliaris die Ausgrabungen in Berlins historischer Mitte, wo sein Team zwischen Molkenmarkt und Klosterviertel einen kompletten Schnitt durch das einstige Kaufmannsstädtchen zieht. Ein Fünftel der ehemaligen Stadtfläche quert die Grabung. »Aus der Gründungszeit der Doppelstadt Berlin-Cölln gibt es nur wenige schriftliche Quellen«, sagt Malliaris. Entsprechend aufschlussreich versprechen die Funde im Boden zu sein.
Sich selbst bezeichnet Malliaris als »Rettungsgräber«. So viele archäologische Daten wie möglich müssen erfasst werden, ehe das Grabungsareal wieder zugeschüttet wird. Schon bald wird nämlich auf diesem rund 25 000 Quadratmeter großen Gelände in Nachbarschaft des Roten Rathauses wieder gebaut. Es ist beste Innenstadtlage. Ab 2024 soll hier urbaner Raum, der über Jahrzehnte an den Autoverkehr verschwendet worden ist, zurückerobert werden, dringend gebrauchte Wohnungen, Büros und Läden sollen entstehen. Die teils achtspurige Grunerstraße wird dazu verschmälert und ihr Verlauf geschwenkt. Gleichzeitig und unmittelbar neben den Straßenbauarbeiten erforschen die Archäologen 800 Jahre Stadtgeschichte. »Auf so einem großen Areal mit hauptsächlich bürgerlicher Bebauung waren wir in Berlin noch nicht tätig«, sagt Malliaris. Bis zum geplanten Baustart im Klosterviertel, wie das Quartier nach den Ruinen des benachbarten Grauen Klosters heißt, wird die Gesamtgrabungsfläche 40 000 Quadratmeter abdecken. Nach Dokumentation oder einer eventuellen Bergung verschwindet alles, mit Planen gesichert für zukünftige Archäologen, wieder in der Erde. Ein »Archiv im Boden« nennt es Malliaris.
Und so graben sich die Archäologinnen und Archäologen seines Teams durch Schichten Stein gewordenen Fortschrittsstrebens: Auch das Bewag-Werk hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einer neuen Bebauung weichen müssen. Unmittelbar an der Rückseite des Roten Rathauses fand Malliaris' Team jetzt erwartungsgemäß die mit Bombenschutt verfüllten Fundamente und Keller des Werks. Und darunter noch die Reste des 1380 errichteten Palais Blankenfelde, jenes steinernen Stammhauses einer der ältesten und für lange Zeit bedeutendsten Berliner Familien, das selbst einst dem Bewag-Werk gewichen war.
Mauerkrone unter Mittelstreifen
Ursprünglich veranstalteten die Archäologen wöchentliche Führungen über ihre Arbeitsstätte, unter strengen Hygieneauflagen noch bis in den Herbst 2020. Nun müssen sich Interessierte mit einer virtuellen Tour begnügen. Immerhin führt diese auch zu jenen Entdeckungen, die wie das Bewag-Werk und das Blankenfelde-Haus bereits unter die Erdoberfläche verschwunden sind.
»Die Mauerkrone des Blankenfelde-Hauses liegt jetzt unter dem Mittelstreifen der neuen Grunerstraße«, sagt Michael Malliaris. Seine Hoffnung ist es, dieses Zeugnis der Berliner Frühzeit in eines der so genannten archäologischen Fenster aufnehmen zu können. »Vielleicht können wir eine Möglichkeit finden, die Mauerkrone unter Glas für Fußgänger sichtbar zu machen.«
Durch so genannte archäologische Fenster sollen Bewohnerinnen wie Besucher Berlins Einblick in die Vergangenheit der Stadt erhalten. Geplant sind sie an mehreren archäologisch und historisch bemerkenswerten Orten in der Innenstadt. Im Keller des Humboldt-Forums im rekonstruierten Stadtschloss werden beispielsweise Stege an den Backsteinmauern des originalen Stadtschlosses entlangführen. Auch Teile und Gerätschaften des Bewag-Kraftwerks könnten so ausgestellt werden, wünscht sich der Archäologe.
Andernorts stießen die Forscherinnen und Forscher auf noch ältere Zeugnisse der Stadtgeschichte. Ende des 12. Jahrhunderts hatten sich Fernkaufleute auf dem Gebiet der heutigen Hauptstadt niedergelassen, um hier ihre Geschäfte abzuwickeln. Mit dem auf der Spreeinsel gelegenen Cölln und dem am östlichen Flussufer liegenden Berlin entstanden bald darauf zwei Schwesterstädte, die miteinander durch den Mühlendamm verbunden waren. An dessen Enden: zwei Märkte.
In Cölln war dies der Fischmarkt, in Berlin der Molkenmarkt. Hier, auf dem ältesten Marktplatz der Stadt, gruben sich bis vor wenigen Wochen Malliaris und sein Team zu den Ursprüngen der Stadt. Unter anderem stießen sie auf einen Abschnitt der ersten Stadtmauer, die gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstand. Sie war allerdings nicht die älteste Befestigung an dieser Stelle, wie die Archäologen erkannten: Offenbar hatten Menschen bereits rund fünf Jahrzehnte zuvor einen Erdwall aufgeschüttet und durch einen Graben gesichert. Das dürfte schon vor der ersten urkundlichen Erwähnung von Cölln (1237) und Berlin (1244) geschehen sein. Auch Gebäude der ersten Berliner fanden sich, etwa unter dem Boden eines Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert: Hier stießen die Ausgräber auf den Keller eines etwa fünf Meter langen Hauses aus dem 13. Jahrhundert, also aus der Zeit der Stadtgründung.
Zeugnisse jüdischen Lebens in der Jüdenstraße?
Zum Vorschein kam ebenfalls das Mauerwerk zweier Häuser aus dem 17. und dem 15. Jahrhundert. Eine mittelalterliche Mauer war in den Bau der Königlichen Kunstschule integriert worden, die sich von 1878 bis 1920 unweit des so genannten Hohen Hauses befand. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts residierten hier die Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg.
Die ältesten dieser Gebäude könnten jeweils zu diesem markgräflichen Komplex gehört und der Repräsentation weltlicher Machtansprüche gedient haben. Die kirchliche Macht hatte sich auf Einladung der Askanier, jenes sächsischen Adelsgeschlechts, unter dessen Herrschaft sich Berlin in eine Residenzstadt zu entwickeln begann, quasi um die Ecke niedergelassen. Hier, an der Ruine des Grauen Klosters, werden die Archäologen noch graben. Das ebenfalls Mitte des 13. Jahrhunderts von Franziskanern gegründete Kloster diente nach der Reformation lange Zeit als Gymnasium. Nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg blieben die Reste der Klosterkirche als Mahnmal stehen. Nun soll auch dieses Karree neu gestaltet und vorher wissenschaftlich untersucht werden.
Zuvor aber müssen die Archäologen die Arbeit auf ihrer aktuellen Grabungsfläche abschließen, dem ebenfalls an der Grunerstraße liegenden Parkplatz im Bereich des ehemaligen Großen Jüdenhofs an der Jüdenstraße. Malliaris verbindet einige Hoffnungen mit diesem Abschnitt seiner Rettungsgrabung. Dem Straßennamen zufolge ließen sich hier in unmittelbarer Nähe des Molkenmarkts jüdische Familien nieder – möglicherweise auch schon kurz nach der Stadtgründung. Ihre Erben lebten hier bis zur ersten Vertreibung der Juden aus der Mark Brandenburg und damit aus Berlin, die 1510 infolge eines so genannten Hostienschänderprozesses geschah. Bereits 2011 fanden östlich der Jüdenstraße Ausgrabungen statt. Manche Archäologen meinten, das Fehlen von Schweineknochen in den mittelalterlichen Abfallgruben des Viertels sei ein Hinweis auf seine einstigen Bewohner mosaischen Glaubens. Malliaris freilich hofft auf eindeutigere Spuren: »Reste der Synagoge oder der Mikwe, des rituellen Bades, wären natürlich sensationell.« Sichere Kandidaten für weitere archäologische Fenster wären sie allemal.
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