Griechische Geschichte: Der gemeinsame Feind eint
Als sich Isokrates 346 v. Chr. in einem offenen Brief an Philipp II. von Makedonien wendet, ist er fast 90 Jahre alt. Der Redenschreiber und Rhetoriklehrer blickt zu diesem Zeitpunkt auf eine lange und erfolgreiche Karriere zurück. Der Athener zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten der griechischen Welt, bildete in seiner Schule zahlreiche Politiker, Feldherren, Redner und Historiker aus, die selbst schon zu Rang und Namen gekommen sind.
Und nun schreibt er einen Brief an den König von Makedonien. Mit der Schrift handelt Isokrates gegen die Meinung seiner meisten Mitbürger. Hatte Philipp II. doch bereits große Gebiete nördlich Griechenlands erobert und stellt nun die größte Bedrohung für die Freiheit Athens dar. Aber Isokrates geht es mit seinem Schreiben um nichts weniger, als sein Lebensziel zu erreichen: nämlich die ständigen Kriege zwischen den griechischen Stadtstaaten zu beenden. Selbst wenn der Preis dafür ein noch größerer Krieg ist.
Reden für die Demokratie
Isokrates ist ein Kind der Perikles-Ära. Damals stand Athen in voller Blüte, und nichts schien den ruhmreichen Fortbestand des Stadtstaats zu gefährden. Bis im Jahr 431 v. Chr. aus Athens Konflikt mit Sparta ein Krieg entstand, der fast 30 Jahre lang die gesamte griechische Welt erfasste. 404 v. Chr. kapitulierten die Athener, ihre Demokratie wurde von einer Oligarchie abgelöst. In der Folge verlor Isokrates' Vater, ein Flötenfabrikant, sein gesamtes Vermögen.
Der Peloponnesische Krieg, in dem Griechen gegen Griechen kämpften, stürzt die Familie ins Unglück. Das Ereignis prägt Isokrates: Früh setzt sich bei ihm die Erkenntnis durch, dass die Griechen zusammenstehen müssen, um ihre Freiheit zu bewahren.
Als junger Mann wird Isokrates Logograf – er schreibt Gerichtsreden für andere. Damit verdient er genug Geld, um eine Rhetorikschule zu gründen, die bald mit Platons Akademie in Konkurrenz tritt und in der griechischen Welt hohes Ansehen genießt. Zu jener Zeit ist Athen längst wieder unabhängig. Die attische Demokratie wieder etabliert. Das heißt, alle männlichen Athener sind Mitglieder der Volksversammlung und besetzen die Gerichte. Das größte Gewicht bei politischen Entscheidungen liegt beim Volk.
Isokrates schreibt seine Reden auch für die Politik, selbst hält er aber keine. Er ist schüchtern, seine Stimme schwach. Doch seinen Namen muss er nicht mehr verstecken. Seine Schriften sind der Gesprächsstoff an den Höfen der Könige und bei den Trinkgelagen der Bürger. Dabei ist das wichtigste Anliegen in seinen Büchern das Ende der Bruderkriege, wie es der Peloponnesische Krieg einer war.
»Athen werde nur dann Frieden wahren, wenn die größten griechischen Poleis den Entschluss fassten, nach Beilegung ihrer Feindseligkeiten untereinander, den Kriegsschauplatz nach Asien zu verlegen«Isokrates, Philippos 9
Lange ist Isokrates davon überzeugt, dass seine Heimatstadt Athen die Griechen versöhnen kann. Als die Athener dann in den 380er Jahren den Zweiten Attischen Seebund gründen und ihre alten Bundesgenossen in der Ägäis um sich versammeln, scheint das Ziel erreicht. Doch bald stellt sich heraus: Die Athener verfolgen imperialistische Ambitionen, die den neuen Bund vergiften. Und Sparta? Die alte Kriegerstadt steckt 371 v. Chr. eine herbe Niederlage gegen Theben ein. Die Thebaner wiederum, die sich von Mittelgriechenland aus zur Hegemonialmacht erheben wollen, erweisen sich letztlich als zu schwach, um Spartas Stelle einzunehmen.
Tyrannen als Friedensbringer?
Isokrates ist desillusioniert. Die griechischen Städte, so ist er nun überzeugt, können nicht für Frieden sorgen. Was ihnen nicht gelingt, kann vielleicht ein Alleinherrscher richten. Er setzt seine Hoffnung zunächst in die Tyrannen Dionysios von Syrakus (Sizilien) und Jason von Pherai (Thessalien). Doch Jason wird ermordet, und Dionysios stirbt wenig später.
Unterdessen wächst die Macht Makedoniens. Philipp II. bezwingt 357 v. Chr. Athen im Kampf um die nordgriechische Stadt Amphipolis. Viele Athener hassen ihn deshalb. Der attische Redner Demosthenes etwa beschwört seine Mitbürger, keinesfalls mit dem Makedonenkönig zu kooperieren. Isokrates hingegen sieht in Philipp II. keinen Feind, sondern in erster Linie einen mächtigen Herrscher, der die griechische Welt befrieden könnte.
In dieser Zeit verfasst Isokrates seinen Brief »Philippos«. Das Schreiben ist 155 Absätze lang und schnörkellos formuliert, wie Isokrates es selbst mehrmals betont. Sein Hauptanliegen ist die Eintracht unter den Griechen und wie sie erreicht werden kann – nämlich durch einen Krieg gegen Persien.
»Ich will dir den Rat erteilen«, schreibt Isokrates, »die Führung in einer Vereinigung aller Griechen zu übernehmen und den Feldzug gegen die Barbaren zu leiten. Überredung ist gegenüber den Griechen vorteilhaft, Zwang auszuüben ist im Hinblick auf die Perser von Nutzen« (Philippos 16; Übersetzung von Brodersen, K., Ley-Hutton, Chr. (Hg.) Isokrates. Sämtliche Werke I. Hiersemann 1993).
Isokrates schlägt dem Makedonenkönig allerdings nicht nur vor, gegen das Perserreich einen Krieg zu führen, sondern es auch zu erobern und zu kolonisieren. Warum es der athenische Gelehrte auf die Perser abgesehen hat? Fast 150 Jahre zuvor hatten diese die griechischen Städte in Kleinasien (die heutige westtürkische Küste) erobert und auch auf Griechenland und Athen ausgegriffen. Nun endlich sollten die damaligen Zerstörungen mit einem eigenen Angriffskrieg gesühnt werden. Rache zu nehmen, ist für Isokrates Kriegsgrund genug. Doch ein Krieg würde noch einen Zweck erfüllen: »Athen werde nur dann Frieden wahren, wenn die größten griechischen Poleis den Entschluss fassten, nach Beilegung ihrer Feindseligkeiten untereinander, den Kriegsschauplatz nach Asien zu verlegen«, lauten Isokrates' Worte (Philippos 9). Der gemeinsame Feind würde die Hellenen in Frieden einen.
Zudem sollen so die vielen Söldner und Entwurzelten der griechischen Kriege in Persien eine neue Bestimmung finden – in ihnen sieht Isokrates den Grund für soziale Spannungen in den griechischen Stadtstaaten. Die Söldner sollen den alten Feind niederwerfen, seine Reichtümer erbeuten und in neuen Pflanzstädten sesshaft werden. Persien sei ein schwacher Gegner, ist Isokrates überzeugt. Nun bräuchten die Griechen einen mächtigen Anführer, der einstige Gegner hinter sich vereint und ihnen mit einem gewaltigen Feldzug ein gemeinsames Ziel gibt.
Bitte übe Nachsicht!
Der Zeitpunkt für einen Feldzug nach Asien wäre genau richtig: »Wir bekriegen uns selbst wegen unbedeutender Bagatellen, obwohl wir ohne jede Gefahr die Macht und den Reichtum der Perser besitzen könnten« (Isokrates, Philippos 126). Doch nicht Athen könne eine Allianz gegen das Perserreich anführen. Das betont Isokrates. In seiner Heimatstadt kümmere man sich nicht um seine Mahnungen, sondern glaube nur jenen, die auf den Rednerbühnen ihr Unwesen treiben – ein Seitenhieb gegen den Redner Demosthenes und seine Verbündeten, deren dezidiert antimakedonische Haltung allerdings im Einklang mit der Meinung der athenischen Öffentlichkeit steht.
»Wir bekriegen uns selbst wegen unbedeutender Bagatellen, obwohl wir ohne jede Gefahr die Macht und den Reichtum der Perser besitzen könnten«Isokrates, Philippos 126
Isokrates beteuert, dass von Philipp sicher nicht verlangt werde, auf eigene Interessen zu verzichten. Doch der Makedone solle mit den Hellenen respektvoll und nachsichtig umgehen. Griechische Städte wie Argos, Sparta, Theben und Athen hätten sich nämlich verdienstvoll gegenüber Philipp verhalten, aber auch Fehler in ihrer Bündnispolitik begangen, was schließlich in ihre derzeit verhängnisvolle Lage mündete.
Frieden in Griechenland bedeutet für Isokrates auch nicht, dass die Makedonen dort herrschen. Athen, Sparta und die anderen Städte sollen unabhängig bleiben. So stellt es sich Isokrates vor. »Gegenüber den Griechen musst du dich als guter Freund zeigen, über die Makedonen musst du als König regieren, über die Barbaren aber musst du in möglichst großer Zahl herrschen« (Isokrates, Philippos 112). Isokrates bittet Philipp um Nachsicht gegenüber den Griechen. Er soll sie unter seinem Banner versammeln, nicht ins Joch spannen. Dieses Schicksal hätten die Perser verdient. Für Isokrates ist somit das Ungeheuerliche legitim: Frieden durch den Tod und das Unglück anderer herzustellen.
Mit seinem Brief will der Redner die Welt retten, die er kennt. Doch eine griechische Welt, die auf die Gnade des makedonischen Königs angewiesen ist, befindet sich am Scheideweg. Isokrates ahnt vielleicht, dass die griechischen Stadtstaaten – und damit die attische Demokratie und die Aristokratie, die das griechische Leben über Jahrhunderte bestimmten – an ihr Ende gekommen sind. Die nächste Epoche der hellenistischen Könige wirft bereits ihre Schatten voraus. Isokrates sehnt mit seinem Brief zwar nicht die Monarchie für Athen herbei, aber er kann nicht vorhersehen, ob der Makedone den Hellenen die Freiheit und Selbstbestimmung wirklich weiter zugestehen würde, wie Isokrates hofft.
Alexanders Sieg über Persien
Wenige Jahre, nachdem Isokrates seinen Brief verfasst hatte, verändert sich die griechische Welt radikal. Das System der Stadtstaaten ist am Ende. 338 v. Chr. haben sich Demosthenes und die Seinen durchgesetzt. Athen und Theben verbünden sich gegen Philipp. Der Makedonenkönig besiegt die Städte in der Schlacht von Chaironeia, bei der sein Sohn Alexander zum ersten Mal auf dem Schlachtfeld steht. Im Alter von 18 Jahren kommandiert er die Kavallerie.
Isokrates stirbt bald nach der Schlacht. Philipp II. wird zwei Jahre später ermordet. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Makedonenkönig bereits Vorbereitungen für einen neuen Feldzug abgeschlossen: Er plante tatsächlich, gegen das Perserreich zu ziehen. Eine Heeresabteilung hatte den Hellespont (Dardanellen) schon überquert. Vielleicht hatte Philipp sich den Plan des Isokrates zu eigen gemacht. Jedenfalls zitiert er den Redner in einem Brief an die Athener, aus dem hervorgeht, dass er dessen Plädoyer ernst nahm.
An Stelle von Philipp führt nun sein Sohn Alexander, der bald darauf »der Große« genannt wird, die Makedonen nach Persien. Die griechischen Städte hält er weitgehend aus seinem Krieg heraus. Sie büßen unter dem Makedonen ihre Unabhängigkeit ein und gewinnen sie nie wieder zurück. Die athenische Demokratie wird von einer Monarchie abgelöst.
Der große Krieg gegen Persien findet statt, so wie Isokrates es wollte. Doch obwohl der Sieg über die Perser so vollständig wird, wie es wohl nicht einmal Isokrates zu träumen gewagt hätte, und obwohl zahlreiche Pflanzstädte, von denen viele den Namen Alexandria tragen, der griechischen Welt viele ihrer sozialen Probleme nehmen, wofür Isokrates ebenfalls plädierte, zeigt sich: Alexander hat etwas anderes im Sinn als der athenische Rhetor. Er will der König der Welt sein – mit Makedonen, Griechen und Asiaten, die ungeachtet ihrer Herkunft nur Untertanen sind. Den Rat des Isokrates scheinen jedoch heute noch Staatenlenker zu beherzigen. Sie versuchen, innenpolitische Probleme zu marginalisieren oder gar zu überwinden, indem sie Krieg gegen einen alten, gemeinsamen Feind führen.
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