Forschungsgeschichte: Der Mann mit dem Schlitten
Francis Leopold McClintock gilt als einer der Begründer der modernen Polarforschung. Doch nicht wegen des von ihm entwickelten Systems der Expedition per Schlitten ist der Admiral bekannt geworden. Weltruhm erlangte er, weil er eines der größten Rätsel in der Geschichte der Arktis löste.
"In letzter Zeit haben wir Proviant und Ausrüstung für unsere Suchmannschaften vorbereitet. […] Drei verschiedene Marschrouten und Trupps aus jeweils vier Mann. […] Meine Route wird mich zum Great Fish River führen. […] Hobson soll die Westküste von Boothia erkunden. […] Young wird die Küste des Prince of Wales-Landes absuchen. […] So müssen wir nahezu sicher auf Spuren, Überreste oder wichtige Botschaften stoßen, die uns von jenen berichten, deren mysteriöses Schicksal zu entdecken der Grund all unserer Mühen ist."
Ungeklärtes Schicksal
Doch obwohl Dutzende Schiffe in das gefährliche Gewirr aus Inseln und Packeis vor der Nordküste des amerikanischen Festlandes geschickt wurden, ist Franklins Schicksal im Jahr 1858 noch immer ungeklärt.
Francis McClintock hat selbst schon an mehreren Suchaktionen nach Franklin teilgenommen, er kennt die Region, in der die "Erebus" und "Terror" verschollen sind, und er weiß genau, wo seine Vorgänger die unglückseligen Crew gesucht haben – und wo nicht. Mit diesem Wissen ist er der richtige Mann für eine letzte, umfassende Suche. In das Gebiet südlich der Beechey-Insel will er vorstoßen, weiter nach Süden als alle bisherigen Suchmannschaften. Und einmal mehr will er sich auf sein selbst entwickeltes System für Schlittenexpeditionen verlassen, das ihm schon bei seinen bisherigen Arktisreisen gute Dienste geleistet hatte.
Hilfreiche Schlitten
So selbstverständlich es heute erscheint, die Regionen des ewigen Eises per Schlitten zu erkunden, in den Tagen McClintocks gehörte die Nutzung von Schlitten bei schiffsgestützten Polarexpeditionen noch zu den Ausnahmen. Expeditionen wie die des unseligen Franklin drangen per Schiff in die eisigen Regionen des Polarmeeres vor, überwinterten im Eis, wenn die Schiffe einfroren, und hofften, in der wärmeren Jahreszeit wieder freizukommen und die Reise fortsetzen zu können.
Auch seine letzte Suche nach Kapitän Franklin geht McClintock so methodisch an wie die früheren Erkundungen. Nachdem sein Schiff im Winter zuvor mit dem Packeis noch weit nach Osten gedriftet war, gelingt dem Team nunmehr die Überwinterung im Suchgebiet. McClintock nutzt die Zeit zu Vorbereitungen:
Ein Notizzettel als Totenschein
Da er nun weiß, wo er zu suchen hat, ändert McClintock die oben skizzierten Routen der Schlittenmannschaften, als die Teams im April 1859 mit der eigentlichen Suche beginnen. Während er selbst zunächst an der Ostküste der King-William-Insel nach Süden vordringt, sucht Leutnant Wiliam Hobson die Westküste von Norden her kommend ab. Und hier, wo niemand bislang die Franklin-Mannschaft vermutete, findet Hobson das bis heute wichtigste Zeugnis der gescheiterten Forschungsreise: zwei schriftliche Nachrichten, unter einem Steinhaufen verborgen.
Die zweite Nachricht, geschrieben an den Rand des Blattes, lässt die dramatische Lage der Männer im Eis erahnen. Datiert auf den 25. April 1848, berichtet Kapitän F. R. M. Crozier: "Terror und Erebus am 22. April 1848 fünf Meilen Nordnordwest von hier aufgegeben, im Eis gefangen seit dem 12. September 1846.
Als er im Herbst 1859 nach London heimkehrt, hat McClintock das Rätsel der Franklin-Expedition gelöst und wird mit Ehrungen überhäuft. Geadelt und vielfach ausgezeichnet, steigt er in den folgenden Jahren bis zum Admiralsrang auf – und zu einer Institution in Sachen Polarforschung. Zwar kehrt er selbst nur noch einmal kurz ins ewige Eis zurück, doch seine Methode der Schlittentour wird zum Vorbild für zahlreiche Forschungsfahrten, die in den folgenden Jahren die Eiswüsten von Arktis und Antarktis erkunden. Selbst Englands bekanntester und – neben Franklin – wohl unglückseligster Polarreisender, Robert Falcon Scott, holt den greisen Admiral in den Beraterstab für seine erste Antarktisexpedition 1901. Scotts Tod im verlorenen Wettlauf mit Amundsen um den Südpol hat McClintock allerdings nicht mehr erlebt. Er stirbt am 17. November 1907 in London.
Als Kapitän Francis McClintock im September 1858 diese Zeilen niederschreibt, ist das Objekt seiner Suche schon zum Mythos geworden: die Franklin-Expedition, 1845 unter dem Kommando von Sir John Franklin aufgebrochen, die legendäre Nordwestpassage zu entdecken, und seither im Eis des Arktischen Ozeans verschollen. Das Schicksal der rund 130 Mann, die mit ihren Schiffen "Erebus" und "Terror" irgendwo in der Eiswüste um die Halbinsel Boothia verschwunden sind, treibt die britische Öffentlichkeit in der Zeit vor dem Krimkrieg um wie kaum ein anderes Ereignis jener Tage.
Ungeklärtes Schicksal
Doch obwohl Dutzende Schiffe in das gefährliche Gewirr aus Inseln und Packeis vor der Nordküste des amerikanischen Festlandes geschickt wurden, ist Franklins Schicksal im Jahr 1858 noch immer ungeklärt.
"So müssen wir nahezu sicher auf Spuren, Überreste oder wichtige Botschaften stoßen, die uns von jenen berichten, deren mysteriöses Schicksal zu entdecken der Grund all unserer Mühen ist"
(Francis McClintock)
Drei Gräber auf der unwirtlichen Beechey-Insel sind die bis dahin einzigen Spuren der Verschollenen, dazu ein paar Habseligkeiten, mühsam abgehandelt von umherziehenden Inuit, und Gerüchte vom Sterben im Eis, von Kannibalismus gar – zu wenig, um die Neugier der von unzähligen Zeitungsberichten aufgewühlten Öffentlichkeit zu stillen. (Francis McClintock)
Doch nicht zur Befriedigung öffentlicher Sensationslust bereitet Kapitän McClintock im September 1858 den Vorstoß seiner Crew ins Gebiet der King-William-Insel, 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, vor. Der erfahrene Seemann und Experte für arktische Schlittentouren leitet eine Privatexpedition, finanziert von der Witwe des 1854 offiziell für tot erklärten Franklin. Lady Franklin will das Andenken ihres Mannes retten, der bis zu jenem verhängnisvollen Aufbruch im Jahr 1845 als der führende Arktisforscher seiner Zeit galt. Und sie will seinen Namen reinwaschen von jenem ungeheuerlichen Verdacht, der über der Franklin-Expedition schwebt, seit mit einigen den Inuit abgekauften Habseligkeiten der Verschollenen auch Berichte England erreichten über verhungernde weiße Männer, die in ihrer Verzweiflung das Fleisch ihrer toten Kameraden verzehrten.
Francis McClintock hat selbst schon an mehreren Suchaktionen nach Franklin teilgenommen, er kennt die Region, in der die "Erebus" und "Terror" verschollen sind, und er weiß genau, wo seine Vorgänger die unglückseligen Crew gesucht haben – und wo nicht. Mit diesem Wissen ist er der richtige Mann für eine letzte, umfassende Suche. In das Gebiet südlich der Beechey-Insel will er vorstoßen, weiter nach Süden als alle bisherigen Suchmannschaften. Und einmal mehr will er sich auf sein selbst entwickeltes System für Schlittenexpeditionen verlassen, das ihm schon bei seinen bisherigen Arktisreisen gute Dienste geleistet hatte.
Hilfreiche Schlitten
So selbstverständlich es heute erscheint, die Regionen des ewigen Eises per Schlitten zu erkunden, in den Tagen McClintocks gehörte die Nutzung von Schlitten bei schiffsgestützten Polarexpeditionen noch zu den Ausnahmen. Expeditionen wie die des unseligen Franklin drangen per Schiff in die eisigen Regionen des Polarmeeres vor, überwinterten im Eis, wenn die Schiffe einfroren, und hofften, in der wärmeren Jahreszeit wieder freizukommen und die Reise fortsetzen zu können.
Erst mit der Suche nach Franklin wurde der Schlitten zum selbstverständlichen Bestandteil der arktischen Seereise, und es war McClintock, der hier Maßstäbe setzte. Sein System basierte auf der großen Mannschaftsstärke zeitgenössischer Schiffe. Aufgeteilt in Teams von vier bis acht Mann, zogen die Seeleute selbst die Schlitten mit ihrem Proviant und der Ausrüstung, die in zuvor angelegten Versorgungsdepots immer wieder ergänzt werden konnten. Mitunter begleiteten weitere Versorgungsteams die eigentliche Hauptmannschaft ein Stück des Weges, was den Radius der Teams deutlich erweiterte. Wie erfolgreich diese Methode war, zeigt die Tatsache, dass McClintocks Männer bei einer früheren Suche nach Franklin einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Langstreckenrekord für Schlittenexpeditionen aufstellen konnten – mehr als 1900 Kilometer.
Auch seine letzte Suche nach Kapitän Franklin geht McClintock so methodisch an wie die früheren Erkundungen. Nachdem sein Schiff im Winter zuvor mit dem Packeis noch weit nach Osten gedriftet war, gelingt dem Team nunmehr die Überwinterung im Suchgebiet. McClintock nutzt die Zeit zu Vorbereitungen:
"All well"
(Graham Gore)
Versorgungsdepots werden angelegt, Erkundungstrupps ausgeschickt, Inuit befragt. Eine alte Frau erzählt McClintock dabei von einem Schiff, dass an der Westküste der King-William-Insel vom Eis zerdrückt worden ist. Über die Herkunft des Schiffes besteht kein Zweifel mehr, als die Frau McClintock ein paar Gegenstände zum Kauf anbietet: Es sind Habseligkeiten der Franklin-Crew. (Graham Gore)
Ein Notizzettel als Totenschein
Da er nun weiß, wo er zu suchen hat, ändert McClintock die oben skizzierten Routen der Schlittenmannschaften, als die Teams im April 1859 mit der eigentlichen Suche beginnen. Während er selbst zunächst an der Ostküste der King-William-Insel nach Süden vordringt, sucht Leutnant Wiliam Hobson die Westküste von Norden her kommend ab. Und hier, wo niemand bislang die Franklin-Mannschaft vermutete, findet Hobson das bis heute wichtigste Zeugnis der gescheiterten Forschungsreise: zwei schriftliche Nachrichten, unter einem Steinhaufen verborgen.
Beide Nachrichten sind auf das gleiche Blatt geschrieben, ein herkömmliches Formblatt der Marine. Mit Datum vom 28. Mai 1847 berichtet Leutnant Graham Gore über die erste Phase der Expedition: Man habe noch im Jahr 1845 den Wellington Channel bis zum 77. Breitengrad erkundet und sei dann zum Überwintern nach Beechey Island zurückgekehrt. Am 12. September 1846 sei das Schiff vom Eis eingeschlossen worden. "All well", so das optimistisch klingende Ende der ersten Botschaft.
Die zweite Nachricht, geschrieben an den Rand des Blattes, lässt die dramatische Lage der Männer im Eis erahnen. Datiert auf den 25. April 1848, berichtet Kapitän F. R. M. Crozier: "Terror und Erebus am 22. April 1848 fünf Meilen Nordnordwest von hier aufgegeben, im Eis gefangen seit dem 12. September 1846.
"Terror und Erebus am 22. April 1848 fünf Meilen Nordnordwest von hier aufgegeben, im Eis gefangen seit dem 12. September 1846
(F. R. M. Crozier)
Offiziere und Mannschaften, insgesamt 105 Seelen, gingen hier an Land. John Franklin starb am 11. Juni 1847, der Gesamtverlust der Expedition beträgt 9 Offiziere und 15 Mannschaften." Morgen, so schließt das Dokument, wolle man zum Great Fish River aufbrechen. – Offenbar plante die Crew den verzweifelten Versuch, eine mehr als 200 Kilometer entfernte Siedlung zu Fuß zu erreichen. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt wohl schon katastrophalen Versorgungslage ein aussichtloses Unterfangen. (F. R. M. Crozier)
Es bleibt McClintock selbst vorbehalten, die Spuren dieses Todesmarsches zu finden. Nachdem er die Mündung des Great Fish River, heute besser bekannt als Back River, erreicht hat, wendet er sich nach Nordwesten entlang jener Route, der Franklins Männer nach Süden gefolgt sein mussten. Hier findet er Skelettteile, Kleidung und Ausrüstungsgegenstände, die keinen Zweifel über das Schicksal der letzten Überlebenden der Franklin-Expedition lassen. "Die alte [Inuit-]Frau hatte die düstere Wahrheit ausgesprochen, als sie sagte: 'Sie [die Franklin-Männer] fielen einfach um und starben, während sie gingen.'", notiert der Kapitän. Dass auch die Gerüchte über Kannibalismus den Tatsachen entsprechen, werden allerdings erst spätere Expeditionen zweifelsfrei belegen.
Als er im Herbst 1859 nach London heimkehrt, hat McClintock das Rätsel der Franklin-Expedition gelöst und wird mit Ehrungen überhäuft. Geadelt und vielfach ausgezeichnet, steigt er in den folgenden Jahren bis zum Admiralsrang auf – und zu einer Institution in Sachen Polarforschung. Zwar kehrt er selbst nur noch einmal kurz ins ewige Eis zurück, doch seine Methode der Schlittentour wird zum Vorbild für zahlreiche Forschungsfahrten, die in den folgenden Jahren die Eiswüsten von Arktis und Antarktis erkunden. Selbst Englands bekanntester und – neben Franklin – wohl unglückseligster Polarreisender, Robert Falcon Scott, holt den greisen Admiral in den Beraterstab für seine erste Antarktisexpedition 1901. Scotts Tod im verlorenen Wettlauf mit Amundsen um den Südpol hat McClintock allerdings nicht mehr erlebt. Er stirbt am 17. November 1907 in London.
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