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HIV-Forschung: Die endgültige Immunabwehr

X-mal hat man versucht, HIV mit einem Impfstoff zu besiegen. Ein gentherapeutischer Ansatz soll die bis jetzt aussichtslose Ausgangssituation ändern.
Ein Antikörper nähert sich einem HIV-Oberflächen-Molekül

Im Jahr 2010 glaubten plötzlich viele HIV-Forscher, das tödliche HI-Virus doch einmal besiegen zu können: Sie hatten zwei hochwirksame Antikörper entdeckt, die den Erreger offenbar effizient in Schach halten. Die Immunmoleküle "VRC01" und "VRC02" – isoliert aus einem afrikanischen HIV-Infizierten, der zehn Jahre lang keinerlei Anzeichen der Immunschwäche-Krankheit AIDS aufwies –, blockierten HIV im Laborversuch vollständig. Zudem wirkten sie mit großer Bandbreite gegen 90 Prozent der 190 weltweit grassierenden Stämme. [1]

Das HI-Virus | Mit den "Spikes", die wie Dornen aus seiner Membran herausragen, dockt sich das Virus an seine Zielzellen an. Im Vergleich zu anderen Viren sind die Proteinkomplexe auf der Oberfläche von HIV ziemlich dünn verteilt – um der Immunabwehr wenige Angriffspunkte zu bieten, meinen die Forscher.

Nach derart potenten Antikörpern hatten Wissenschaftler lange gesucht. Dabei waren schon in den 1990er Jahren die ersten "breit neutralisierenden Antikörper" (aus dem Englischen "Broad Neutralizing Antibody", bNAb) entdeckt worden. Diese waren zwar im Vergleich zu den neuen VRC-Antikörpern noch schwache Prototypen, aber ihre Fähigkeit, in geringer Menge viele verschiedene Virusvarianten zu blockieren, hatte die Forscher damals neugierig und hoffnungsfroh auf noch potentere Exemplare gemacht.

Doch bis jetzt erwies es sich als schwierig, die hochwirksamen Moleküle im Blut der Infizierten aus dem Sammelsurium der anderen, weniger wirksamen Antikörper zu isolieren [2]. Die Gruppe von John Mascola vom Vaccine Research Center (VRC) am NIH in Bethesda suchte mit einer neuen Vorgehensweise nicht mehr "blind" im gesamten Antikörper-Repertoire, sondern fischte sich geeignete bNAbs mit Ködern – den replizierten Bindungsstellen der bekannten bNAb-Prototypen, an denen die gesuchten Immunmoleküle hängenbleiben. So gelang ihnen unter anderem auch die Isolation der neuen Antikörper-Hoffnungsträger VRC01 und VRC02 aus dem afrikanischen Patienten.

Auf der Suche nach Waffen ...

Immerhin 10 bis 25 Prozent aller HIV-Infizierten entwickeln tatsächlich bNAbs. Warum also bekommen die Wunderwaffen eine HIV-Infektion so gut wie nie in den Griff? Forscher schätzen: Unter anderem, weil die ersehnten Moleküle im Patienten immer erst spät im Lauf der Infektion auftreten – frühestens ein Jahr nach der Ansteckung, zu einem Zeitpunkt, wo das Virus sich schon irreversibel im Erbgut seiner Opfer, den CD4-T-Zellen, eingenistet hat.

Zwar würden, erläutert HIV-Experte Joachim Denner vom Robert-Koch-Institut vom Immunsystem "von Anfang an zahlreiche Antikörper produziert werden, die an die Oberflächenproteine gp120 und gp41 des Virus binden". Allerdings umsonst, denn das hält den Erreger nicht davon ab, die CD4-Zellen zu infizieren.

Nur wenige Immunproteine – die so genannten neutralisierenden Antikörper – hemmen das Virus tatsächlich. Oft allerdings nur sehr kurz, weil der Erreger ihre Andockorte rasch nach einer Mutation verändern kann. An ein paar wenigen Stellen sind solche Gegenmaßnahmen des Virus allerdings ganz unmöglich: Bestimmte Partien der Oberflächenproteine etwa, mit denen HIV an die CD4-Zellen andockt, müssen exakt in den CD4-Rezeptor passen, damit der Erreger sich einen Weg ins Innere bahnen kann. Einfach angreifbar sind aber auch diese Schwachstellen des Virus’ nicht: "Diese Proteinabschnitte sind die meiste Zeit für das Immunsystem nicht zugänglich" erklärt Denner. "Sie stellen entweder eine kurzlebige Faltung des Proteins dar oder sind durch sperrige Zucker-Moleküle geschützt". Erst unmittelbar vor dem Eindringen in die CD4-Zellen werden sie freigelegt.

... und einer Achillesferse

An einer dieser gut behüteten Stellen greift VRC01 an, den Mascola 2010 aus dem afrikanischen Spender isolierte: Indem er genau die Form des CD4-Rezeptors nachahmt, wenn dieser von dem Virus angegriffen wird, kann der Antikörper auf die so genannte "CD4-Bindungsstelle" von gp120 zugreifen. Und trifft dabei HIV an seinem wunden Punkt.

Ein Antikörper nähert sich dem Oberflächen-Protein gp120 | Zahlreiche Antikörper (blau) können die Oberflächen-Proteine von HIV angreifen (in weiß: gp120). Das Virus weiß sich aber zu schützen – indem es die Kontaktstellen durch Mutationen schnell verändert oder sie mit Zuckermolekülen sperrt (graue Verzweigungen).

Dass bNAbs solche essenziellen Proteinteile an der Oberfläche von HIV erkennen, erklärt auch, warum sie die meisten Virusarten neutralisieren können, die weltweit im Umlauf sind: Alle Stämme sind darauf angewiesen, an die CD4-Zellen anzudocken, und haben die entsprechenden Kontaktflächen gemeinsam.

Bei einer potenziellen Impfung gegen HIV, wo man einen möglichst breiten Schutz gegen den höchst variablen Erreger erreichen will, wären also bNAbs optimale Protagonisten: Wenn man deren Produktion im Körper ankurbeln könnte, würde man einen Großteil aller Virusstämme erfassen und damit möglicherweise die HIV-Pandemie tatsächlich stoppen können. Leider sind bisher aber alle Versuche gescheitert, mit nachgeahmten Viren oder Bruchstücken – so genannten "Immunogenen", wie sie in Impfstoffen verwendet werden – bNAbs hervorzubringen. Auch bei der zuletzt abgeschlossenen RV144-Studie in Thailand fanden die Forscher so gut wie keine Spur der ersehnten Antikörper im Blut der Geimpften.

Heikle Immunogene

"Die größte Herausforderung besteht darin, die Erkenntnisse über die Antikörper in die Entwicklung effizienter Immunogene umzusetzen", sagt Dennis Burton, Leiter des "International AIDS Vaccine Initiative Neutralizing Antibody Consortium" und einer der Pioniere der Suche nach bNAb gegen HIV. In der Praxis bedeutet dies, die einmal charakterisierte Bindungsstelle des Antikörpers an der Virus-Oberfläche möglichst exakt zu replizieren – ein Prozess, der "Reverse Engineering" genannt wird. Die so nachgebauten Immunogene sollen dann bei einer Impfung den Körper dazu bringen, dieselben Antikörper zu bilden. Doch ist das Imitat nicht hundertprozentig mit dem Original identisch, werden andere Antikörper produziert, die dann ihr Ziel verfehlen. "Die Entwicklung präziser Immunogene ist im Moment unser größtes Problem", erklärt Burton. "Dafür muss man die Bindungsstelle genau genug kennen. Und das ist meistens noch nicht der Fall".

Und möglicherweise wartet noch eine weitere Hürde auf die Forscher: Als sie die bNAbs genauer unter die Lupe nahmen, stießen sie auf zahlreiche punktuelle Strukturveränderungen, die offensichtlich auf eine langjährige Reifung der Immunmoleküle hindeuten. "Durch minimale Variationen passen die Antikörper allmählich ihre Form an das Virus an, um ihre Haftung zu erhöhen – und somit auch ihre Wirkung" erklärt Mascola. Der Prozess der "Affinitätsreifung" ist zwar schon länger bekannt, doch bei bNAbs scheint er äußerst ausgeprägt zu sein: Wo herkömmliche Antikörper gegen HIV in der Regel 15 dieser Anpassungen aufweisen, trug VRC01 gleich dreimal mehr. Laut den Forschern ein Grund, warum die hoch wirksamen Antikörper erst spät im Lauf der HIV-Infektion erscheinen: Der allmähliche Ausreifungsprozess braucht Zeit. Ob man nach einer Impfung mit dem passenden Immunogen gleich die ausgefeilten Versionen der Antikörper bekommen würde, oder die "Affinitätsreifung" noch künstlich ankurbeln müsste, weiß aber bis jetzt keiner.

Angriff des Antikörpers VRC01 | Indem er die Form des CD4-Rezeptors nachahmt, bahnt sich der breit neutralisierende Antikörper VRC01 (grün und blau) einen Weg durch die sperrigen Zuckermoleküle (grau), und kann die "CD4-Bindungsstelle" (rot) des gp120 Proteins (silber) angreifen.

Das Immunsystem umgehen

Wenn man also das Immunsystem bis jetzt nicht dazu anregen kann, die erwünschten Antikörper selber zu bilden, warum ihm nicht einfach die fertigen Immunwaffen zur Verfügung stellen? Wenn in ausreichende Menge verabreicht, könnten sie im Rahmen einer "passiven Immunisierung" zumindest temporär vor dem Erreger schützen. Bei HIV-Infizierten – das haben Studien gezeigt – verminderten bNAbs-Infusionen die Viruslast deutlich. Das Problem ist aber: Der schützende Effekt verschwindet, sobald die kurzlebigen Antikörpermoleküle aufgebraucht sind.

Um einen anhaltenden Schutz zu gewährleisten beschritten Nobelpreisträger David Baltimore und sein Team vom California Technology Institute (Caltech) in Pasadena nun neue Wege. Sie übergingen den natürlichen Prozess der Antikörper-Generierung durch das Immunsystem und schleusten mittels Gentherapie direkt die Gene für die bNAbs in die Muskeln von Mäusen ein – eine Methode, die die Forscher "Vektor-induzierte Prophylaxe" (aus dem Englischen "Vector Induced Immunoprophylaxe", VIP) nennen. Die gentherapierten Mäuse begannen damit, Antikörper herzustellen und sie in die Blutbahn auszuschütten, wodurch sie gegen eine Infektion mit HIV geschützt wurden. "VIP hat den selben Effekt wie eine Impfung, ohne dass das Immunsystem zu irgendeinem Zeitpunkt beteiligt wird" sagt Alejandro Balazs, der die Studie unter Anleitung von Baltimore durchführte. Bei dem Ansatz wird allerdings das Erbgut der Tiere – oder, wenn die Methode auf Menschen übertragbar wäre, des Patienten – unwiederbringlich verändert, und dies allein zum Zweck einer HIV-Prävention. Ist das gerechtfertigt?

"Gentherapie sollte man vernünftigerweise nur da einsetzen, wo andere Möglichkeiten fehlen", räumt Baltimore selber ein. "Doch wenn es keine Alternative mehr gibt – und das ist, wo wir in der Suche nach einem AIDS-Impfstoff stehen – sollte man neue Wege überdenken." Baltimore ist kein Neuling auf dem Feld. 1970 entdeckte der damals 32-Jährige Virologe das Enzym "Reverse-Transkriptase" – heute ein wichtiges Ziel bei der AIDS-Antiretroviralen Therapie –, was ihm fünf Jahre später den Nobelpreis in Medizin und Physiologie einbrachte. Später widmete er seine Forschungen der Immunologie, ohne die Viren ganz außen vor zu lassen: Heute setzt er sie in der Gentherapie ein, in der Suche nach neuen Alternativen zum Schutz gegen HIV. Das Prinzip der VIP ist allerdings nicht neu: 2009 hatten schon Forscher vom Children’s Hospital in Philadelphia die Methode bei Affen angewendet, und so die meisten Tiere vor SIV – der Affen-Variante von HIV – geschützt. [4]

Die Gruppe von Baltimore, deren Mäuse mit einem menschlichen Immunsystem ausgestattet waren – und dadurch empfindlich gegen das menschliche HIV wurden – brachte aber eine wesentliche Neuerung mit: Die Forscher optimierten die viralen Konstrukte, mit den sie die Gene in die Mäuse-Muskeln einschleusten, und konnten damit die Menge an produzierten Antikörpern – und somit deren Konzentration im Blut – drastisch erhöhen. "Diese Konzentration ist entscheidend", erklärt Joachim Denner. "HIV produziert im Organismus zahlreiche defekte Virus-Partikel, die zwar nicht funktionsfähig sind, an denen aber Antikörper trotzdem binden". Wenn nicht ausreichend vertreten, können die wertvollen Schutzmoleküle also schnell aufgebraucht sein und ins Hintertreffen geraten. Und dennoch: Im Versuch von Balazs hielten sie Viren-Dosen stand, die hundertmal höher waren, als die, die ausreichend war, um die meisten Kontroll-Mäusen zu infizieren. "Dosen, die um ein Vielfaches übersteigen, womit ein Mensch konfrontiert sein könnte" kommentiert Balazs.

Ein Adeno-assoziertes Virus als Gen-Transporter | Balazs und Baltimore packten die Antikörper-Gene in modifizierte Adeno-assozierte Viren (AAV), die sie dann in die Muskelzellen von Mäusen einschleusten.

"Menschen sind keine Mäuse"

Dass Antikörper-Konzentrationen erreicht werden, die das Virus im Mausmodell anscheinend locker in Schach halten können, lässt die Forscher hoffen, die Methode auf den Menschen übertragen zu können. "Wir wissen, dass die Antikörper unglaublich potent sind. Wenn wir auch im Menschen genug davon generieren können, haben wir gute Chancen, auch dort einen vollständigen Schutz zu erreichen" sagt Balazs und gibt weiter zu, dass ihr Erfolg weniger an der Methode selbst als an den hoch wirksamen, verwendeten bNAbs liegen könnte. Doch in der Zukunft könne die VIP eben ermöglichen, die immer wieder neu entdeckten und wirksameren bNAb-Exemplare dauerhaft in den Körper zu übertragen – auch in Kombinationen, um das Virus gleichzeitig an mehreren Stellen anzugreifen. Vor Kurzem wurden im Labor von Dennis Burton siebzehn neue Antikörper isoliert, einige davon sollen mindestens zehnmal potenter sein als VRC01 – bis jetzt das wirksamste bNAb überhaupt [5]. "Die Antikörper stehen heute schon zur Verfügung" sagt Burton. "Mit der VIP-Methode könnten wir sofort davon profitieren."

Doch zuvor müssten noch potentielle Gefahren ausgeräumt werden. Joachim Denner weist darauf hin, dass zumindest einer der bNAbs sich als autoreaktiv erwies: Dieser erkenne auch das eigene Körpermolekül Cardiolipin – ein Phospholipid, das in den Mitochondrien, im Inneren der Zellen produziert wird. "Dass solche Antikörper womöglich Autoimmunantworten auslösen, ist nicht auszuschließen" so Denner. Zumindest könnte es erklären, warum bNAbs nur selten vorkommen und schwer zu induzieren sind: Antikörper, die das Potenzial haben, eigenes Gewebe anzugreifen, werden im Prinzip gar nicht erst vom Immunsystem produziert – eine Art Schutzmechanismus des Körpers, der uns eben vor Immunkrankheiten bewahrt.

Eine andere Hürde, mit der man rechnen müsse, sei umgekehrt der Angriff des Immunsystems auf die produzierten Antikörper: Auch im Affenmodel hatten die Forscher damit zu kämpfen, dass die künstlich hervorgerufenen Moleküle als fremd erkannt und außer Gefecht gesetzt wurden. Ob das auch beim Menschen eintritt, könne man erst in Rahmen von Studien feststellen, so Denner. Diese will Baltimore in den nächsten paar Jahren starten. Bis dahin bereitet er sich auf eventuelle Rückschläge vor. "Die meisten Studien in dem Feld haben gezeigt, dass sich Menschen eben nicht wie Mäuse verhalten" betont er. "Wir müssen darauf gefasst sein, noch öfter an den Labortisch zurückzukehren, um neue Probleme zu lösen." In fast dreißig Jahren der Suche nach einem HIV-Impfstoff haben sich Forscher Beharrlichkeit aneignen müssen.

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