Arktisexpedition: Driften für die Forschung
"Am Sonntag stieg die Temperatur über minus 30 Grad Celsius – und draußen fühlte es sich fast schon warm an", schreibt Yngve Kristoffersen im November 2014 in seinem Blog. Der pensionierte Geologieprofessor befindet sich auf eine Eisscholle, tausende Kilometer entfernt von jeder Siedlung. Hier feierte er Weihnachten und seinen 73. Geburtstag. Bei ihm ist nur ein Mitstreiter: Audun Tholfsen, ein polarer Abenteurer und erfahrener Überlebenskünstler, der auch etwas vom wissenschaftlichen Handwerk versteht. Ende August ließen sich die zwei Norweger vom deutschen Forschungseisbrecher "Polarstern" rund 300 Kilometer entfernt vom Nordpol aussetzen – und driften seitdem auf einer Eisscholle über den arktischen Ozean. Die Temperaturen sind nur ein Problem: Fünf Monate lang ist es stockdunkel, kein Flugzeug kann in dieser Zeit landen.
Die Reise der zwei Forscher ist dabei mehr als ein persönliches Abenteuer. "Kristoffersen will zeigen, dass sich auch von einer kleineren mobilen Basis aus im polaren Winter wissenschaftliche Daten sammeln lassen", sagt Antje Boetius vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven. Dafür baute der Forscher ein Hovercraft arktistauglich um: Die "Sabvabaa" (inuit für "gleitet rasch darüber") ist kaum größer als ein Kleinbus, bietet aber behagliche Wärme, selbst wenn die gefühlte Temperatur draußen unter minus 50 Grad Celsius fällt. In Zeiten schwindenden arktischen Meereises wird der Betrieb einer größeren Station auf dem Eis zu einem immer größeren Wagnis – was mobile Stationen wie die "Sabvabaa" vielleicht ändern könnten.
Kein Durchkommen für Eisbrecher
Seit über einem Jahrhundert versuchen Polarforscher, mehr über das arktische Becken zwischen Nordamerika, Asien und Europa herauszufinden: Mehr als 5000 Kilometer breit, sind Teile davon heute noch immer ganzjährig von Packeis bedeckt – und damit schwer zu untersuchen. "Das Problem ist, dass kaum ein Eisbrecher ausreichend stark motorisiert ist, um außerhalb des Spätsommers durch das Packeis zu fahren", sagt der ehemalige AWI-Direktor Jörn Thiede. Denn nur in der wärmsten Jahreszeit ist das Eis teilweise dünn genug: "Und selbst im Sommer gibt es Bereiche, wo kein Eisbrecher durchkommt." Um das Eis ganzjährig zu untersuchen, bleibt den Forschern bis heute nur, längere Zeit darauf zu driften und dabei irgendwie Wind und Wetter zu trotzen.
Kristoffersens großes Vorbild ist sein Landsmann Fridtjof Nansen, der die Reise auf dem driftenden Packeis im 19. Jahrhundert erstmals experimentell erprobte. Seit 1937 betrieb dann die Sowjetunion permanent größere Driftstationen im Nordpolarmeer. Die letzte derartige Station ließ Russland aber 2013 evakuieren; heute ist das Eis so instabil geworden, dass der Bau großer Stationen sich kaum noch lohnt.
Von der vergleichsweise leichten "Sabvabaa" wollen die zwei Norweger die Rätsel der Arktis ernsthaft erforschen – dafür ließen sie sich am Rand des Lomonossow-Rückens absetzen. Ähnlich hoch und breiter als die Alpen, liegt diese Gebirgskette dennoch mehr als einen Kilometer tief unter der Wasser. Schon 1948 von russischen Forschern entdeckt, streiten Geologen bis heute über ihren Ursprung. Offenbar handelt es sich beim Lomonossow-Rücken nicht um die Grenze aktiver tektonischer Platten. Und doch ist der Gebirgszug so groß, dass nur enorme geologische Prozesse ihn geformt haben können. Dafür sammeln die zwei Norweger gerade so viele Daten, wie es die begrenzten Mittel der "Sabvabaa" zulassen: Sie bohren Löcher durch ihre kaum einen Meter dicke Eisscholle, um an Kabeln leichte Forschungsgeräte ins Wasser abzulassen. Die Forscher können mit einer Sonarboje die Wassertiefe messen. Dazu nehmen sie kleinere Bodenproben vom Meeresgrund und schicken mit einer so genannten Luftkanone Schallwellen in die Tiefe. Aus dem vom Gestein zurückgeworfenen Echo können Geologen dessen Aufbau rudimentär sichtbar machen.
Zwischen Grundlagenforschung und wirtschaftlichen Interessen
Mit weiteren Messgeräten haben es die Wissenschaftler auf ihre arktische Umgebung selbst abgesehen: Neben der Dicke ihrer eigenen Eisscholle und dem Wetter untersuchen sie den Salzgehalt und die Wasserströmung in der Tiefe, die den Verlust arktischen Meereises antreiben. Denn die Wettermuster in der Arktis ließen sich bis heute nicht vorhersagen, erläutert Antje Boetius vom AWI. Dazu hat bis heute kein Polarforscher verstanden, warum sich das Eis recht schnell zurückzieht. So sank etwa das sommerliche Eisvolumen der Arktis seit 1970 um rund 40 Prozent – und damit deutlich schneller als von Klimamodellen vorhergesagt. Das Eis verhält sich auch immer wieder widersprüchlich: Erst kürzlich präsentierte ein britisches Forscherteam Daten des Satelliten Cryosat, nach denen das arktische Eisvolumen im Oktober 2014 überraschend zwölf Prozent über dem fünfjährigen Mittelwert lag. Gerade der von den Eisdriftern untersuchte Lomonossow-Rücken dürfte einen immensen Einfluss auf die Strömungen und damit auf die Eisdrift haben, da er wie ein Riegel mitten in dem nördlichen Ozeanbecken liegt.
Polarforscher betonen, dass ihre Arbeit zunächst reine Grundlagenforschung ist – doch sie stehen mit ihrer Arbeit mitten im weltpolitischen Fokus: In den Randmeeren Russlands, Norwegens, Grönlands, Kanadas und Alaskas lagern Erdöl und Erdgas. Wem welches Vorkommen zusteht, regelt das Seerecht: Die ausschließliche Wirtschaftszone eines Staats endet 200 Seemeilen vor dem Festlandsockel. Dieser liegt aber meist tief im Wasser – und bei einigen Bereichen wie dem Lomonossow-Rücken ist bis heute unklar, zu welchem Kontinent er überhaupt gehört. Wäre er Teil Sibiriens, würde sich die Wirtschaftszone Russlands schlagartig vergrößern. Gehörte er dagegen zum gegenüberliegenden Grönland, könnte Dänemark Ansprüche erheben.
Wie interessiert andere an der scheinbaren Einöde sind, merken die zwei Norweger im Oktober. Seit Wochen haben sie sonst niemanden gesehen. Dann bricht plötzlich fünf Kilometer entfernt ein unbekanntes U-Boot durch das Eis. Es bleibt nicht lange: Als sich Kristoffersen mit seinem Mitstreiter für einen Besuch auf 100 Meter genähert haben, sinkt das Boot wieder ab. Eine Kontaktaufnahme sei gescheitert, notiert der Polarforscher in seinen Blog.
Schwieriges Leben auf dem Eis
Die Arbeit auf dem Eis ist indes kräftezehrender als gedacht. Die zwei Männer verstauen über Wochen Ausrüstung und Treibstofftanks im Eis. Ein mit Eisquadern errichteter Hangar soll das Hovercraft vor allzu kräftigem Wind schützen, was sich schon Wochen später als Fehler herausstellt. Während eines Sturms bietet das Bauwerk dem Wind viel Widerstand und ist gleichzeitig zu schwer. Dadurch kippt die ganze Eisscholle, und das Lager steht plötzlich 45 Zentimeter unter Wasser. Später schiebt sich eine zweite Scholle über den Rand der eigenen zu einem meterhohen Berg auf: Ein Teil des Materiallagers wird dabei verschüttet und zerstört. Dazu tun sich immer wieder meterbreite Risse auf und trennen Vorräte von ihren Besitzern. Bis Ende Februar verlegen Kristoffersen und Tholfsen mehrfach ihr gesamtes Lager.
Dafür müssen sie ihr behagliches Fahrzeug jeden Tag der monatelangen Polarnacht verlassen. Selbst in der perfekt isolierten Kleidung von Polarforschern lässt sich das bei minus 40 Grad Celsius kaum über Stunden aushalten. Auch das Licht fehlt: Zwar essen beide ausgezeichnet – an Weihnachten wirft die norwegische Luftwaffe neben benötigter Ausrüstung sogar einige Spezialitäten für die Feiertage ab. Trotzdem schreibt Yngve Kristoffersen Ende Januar in seinem Forscherblog: "Die komplette Dunkelheit hemmt uns bei der täglichen Arbeit. Wir fühlen uns ständig müde."
Die wissenschaftliche Expedition geht aber besser voran als erhofft: Mit einem über den Meeresgrund geschleiften Kameraschlitten entdecken die Forscher zwei gut 50 Zentimeter lange Fische – die größten bekannten Tiere, die jemals so weit nördlich entdeckt wurden. Auch das Hauptziel der Mission erscheint bereits erreicht: Obwohl sich die Route einer driftenden Eisscholle nicht planen lässt, trug es die "Sabvabaa" bis heute fünfmal über den Lomonossow-Rücken.
Driftende Plattformen könnten also in Zukunft für die Forschung wieder wichtiger werden. Daher plant auch das Alfred-Wegener-Institut in wenigen Jahren eine ähnliche Expedition – wenn auch ein kleines Hovercraft aus deutscher Sicht zu riskant erscheint: Die deutschen Polarforscher wollen daher gleich ein ganzes Forschungsschiff zeitweise im Eis einfrieren lassen.
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