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Neurodegenerative Erkrankungen: Entstehen Alzheimer & Co durch Herpesviren?

Alzheimer und multiple Sklerose könnten in Wirklichkeit Infektionskrankheiten sein. Indizien deuten darauf hin, dass neurodegenerative Erkrankungen auf Herpesviren zurückgehen.
3-D-Visualisierung von Nervenzellen
Herpesviren wie das Epstein-Barr-Virus oder Varizella Zoster nutzen Nervenzellen als Versteck, aus dem sie immer wieder plötzlich hervorbrechen können. Fachleute bringen diese Besonderheit mit neurodegenerativen Erkrankungen in Verbindung.

Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, multiple Sklerose oder Parkinson schleichen sich langsam an. Über Jahre hinweg sabotieren sie das Nervensystem, erst lange nach Krankheitsbeginn setzen die ersten Symptome ein. Bei Alzheimer und Parkinson geht man davon aus, dass der Krankheitsbeginn 10 bis 15 Jahre vor den ersten Symptomen liegt. Bei multipler Sklerose liegt der Startpunkt noch früher. Doch was dieser Startpunkt ist, war lange rätselhaft. Nun aber legen immer mehr Studien den Verdacht nahe, dass dem Ausbruch einer neurodegenerativen Erkrankung eine Infektion mit Herpesviren vorausgeht.

Um diesem Zusammenhang auf die Spur zu kommen, verfolgten Fachleute zum Beispiel in einer großen Längsschnittstudie den Gesundheitsstatus von zehn Millionen jungen Erwachsenen über einen Zeitraum von 20 Jahren. In Zusammenarbeit mit dem US-Militär testeten sie die Studienteilnehmer vorab auf die zwei Herpesviren Epstein-Barr-Virus (EBV) und Zytomegalievirus und zeichneten in den Jahren danach auf, welche Betroffenen multiple Sklerose (MS) entwickelten. Dabei ist das EBV ein zumeist harmloses Herpesvirus. Im Lauf ihres Lebens infizieren sich mehr als 90 Prozent der Menschen mit dem Virus, meist ohne Symptome zu entwickeln.

Doch die Studie zeigte eine heimtückische Langzeitfolge: Vor fast jeder MS-Erkrankung trat eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus auf. Lediglich eine Person von zehn Millionen blieb über alle Proben hinweg EBV-negativ und erkrankte dennoch an MS. Mit einer Epstein-Barr-Virus-Infektion ging ein 32-fach erhöhtes Risiko einher, an multipler Sklerose zu erkranken, während andere Viren, wie das zum Vergleich herangezogene Zytomegalievirus, keinen Einfluss hatten.

Das gefährliche Versteckspiel der Herpesviren

Auch bei Alzheimer scheint es eine Verbindung zu Herpesviren zu geben. In den zurückliegenden Jahren wurden mehrere Impfstoffe gegen das Varizella-Zoster-Virus zugelassen, das Windpocken und Gürtelrose auslöst. Als diese Impfung eingeführt wurde, beobachteten Fachleute, dass die Zahl von Alzheimererkrankungen zurückging. Ein neuer, verbesserter Impfstoff zeigt sogar noch geringere Erkrankungszahlen als der erste Impfstoff. Sie machen zwar nicht völlig immun gegen das Virus, verhindern jedoch dessen Reaktivierung, die vielfach bei Stress auftreten kann.

Diese Latenz, wie man das jahrelange Versteckspiel im Körper nennt, und die spätere Reaktivierung sind für Herpesviren typisch – und diese Besonderheit scheint für neurodegenerative Erkrankungen eine wichtige Rolle zu spielen. »Herpesviren haben auf beispiellose Weise gelernt, unsere Zellen auszunutzen, unserem Immunsystem zu entgehen, latent zu bleiben und bei Stress wieder aktiv zu werden«, erklärt Lars Dölken, der an der Medizinischen Hochschule Hannover das Institut für Virologie leitet. Der Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsbiologie beschäftigt sich schon seit knapp 20 Jahren mit Herpesviren.

Herpesviren existieren seit mindestens 200 Millionen Jahren. Damals lagen Rom und New York auf einem Superkontinent namens Pangäa; den modernen Menschen gab es noch nicht. Womöglich gehen die Ursprünge der Herpesviren sogar noch weiter zurück. Herpesviren hatten deswegen lange Zeit, um sich evolutionär an ihre Wirte anzupassen.

»Herpesviren sind so außergewöhnlich, weil sie schon lange bei uns sind und sich daher mit uns zusammen entwickeln konnten. Anders als das Coronavirus Sars-CoV-2 hatten sie also ausreichend Zeit zu lernen, die Transkriptionsmaschinerie der Wirtszelle zu nutzen«, erläutert Dölken. Das bedeutet, sie kapern die Enzyme der Wirtszelle, um ihre DNA in RNA umzuschreiben. Für diesen Schritt müssen sie keine eigenen Proteine mitbringen, die dem Immunsystem als Warnsignal dienen könnten.

Überraschende Parallelen zu Long Covid

Wenn man sich etwa beim Küssen mit Herpes simplex ansteckt, dann treffen die Viruspartikel auf die Fortsätze unserer sensiblen Nerven. Das sind die Nerven, die auch reagieren, wenn man sich auf die Zunge beißt. Die Viruspartikel wandern dann über die röhrenförmigen Mikrotubuli in unseren Axonen zu den Zellkernen und machen es sich im Trigeminalganglion bequem, in dem sich alle sensiblen Nerven des Gesichts treffen. Auf dem Weg dorthin legt das Herpesvirus bereits einige seiner Proteine wie Teile der Virushülle ab, so dass es meist gar keine merkliche Immunreaktion auslöst. Es deponiert seine DNA einfach nur im Zellkern der Nervenzelle: Das Virus geht in Latenz.

»Herpesviren sind so außergewöhnlich, weil sie schon lange bei uns sind und sich daher mit uns zusammen entwickeln konnten«Lars Dölken, Medizinische Hochschule Hannover

Doch das Erbgut reicht aus, um später bei Stress mit Hilfe des Körpers aktiv zu werden. Diese immer wieder auftretenden Reaktivierungen könnten mehr Schaden anrichten als die Infektion selbst. »Für die Reaktivierung nutzt das Virus wieder die Transkriptionsmaschinerie der Wirtszelle. Wenn man also verstehen will, wie Herpesviren erwachen, muss man daher verstehen, wie sie die zelluläre Transkriptionsmaschinerie steuern«, erklärt Dölken.

Bhupesh Prusty von der Universität Riga forscht an Herpesviren wie dem Humanen Herpesvirus 6, kurz HHV-6. Der Virologe konnte dabei bemerkenswerte Verbindungen zwischen Long Covid, neurodegenerativen Erkrankungen und Herpesviren aufdecken. So zeigte er während der Pandemie, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 zur Reaktivierung von Herpesviren beitragen kann. Diese lassen dann die Mitochondrien absterben, die Kraftwerke der Zelle. Als Prusty Zellen mit dem Blut von an ME/CFS erkrankten Long-Covid-Patienten behandelte, beobachtete er den gleichen Ablauf.

Außerdem identifizierte er eine weitere Parallele: Immunreaktionen, bei denen der Körper seine eigenen Zellen angreift. »Zwischen Betroffenen von ME/CFS und multipler Sklerose gibt es einige Überschneidungen in Bezug auf die Autoimmunität, also gegen den eigenen Körper gerichtete Immunzellen und Entzündungen«, weiß Prusty. Der Verlauf von neurodegenerativen Erkrankungen könne sich über Jahre ziehen – eine Zeit, in der Herpesviren selbst die Blut-Hirn-Schranke schwächen und eine Autoimmunität auslösen können.

Es ist kompliziert

Während solche Indizien aus der Grundlagenforschung einen Zusammenhang nahelegen, sind die Prozesse im Körper selbst schwieriger zu entschlüsseln. Daran arbeitet in München der Psychiater Oliver Goldhardt. Die Ambulanz für kognitive Störungen am Klinikum rechts der Isar ist ein »Eingangsportal« für Betroffene von neurodegenerativen Erkrankungen. Goldhardt untersucht dort in einer Studie den Einfluss von Herpesviren auf den Krankheitsverlauf bei Alzheimerpatienten; die Ergebnisse sind noch vertraulich.

Doch er hat eine Hypothese über den möglichen Zusammenhang aufgestellt. »Bei Alzheimer sprechen wir von pathologischen Eiweißablagerungen«, erklärt er. Das sind die Beta-Amyloide außerhalb der Zelle sowie das Tau-Protein in den Nervenzellen selbst. »Interessant im Zusammenhang mit Herpes ist, dass Herpesviren der Keim für die Entstehung solcher Eiweißablagerungen sein können.«

Allerdings weiß man laut Goldhardt nur wenig darüber, wie die beiden Proteine, Tau und Beta-Amyloid, zusammenhängen – und auch ihre Beziehung zu Herpesviren ist nicht eindeutig: »Auf der anderen Seite kann lösliches Beta-Amyloid antiviral wirken und das Virus am Eintritt in die Zelle hindern. Da haben wir ein Henne-Ei-Problem.« Und schließlich könnte das durch die Alzheimererkrankung geschwächte Hirn einfach anfälliger für Herpesviren sein.

Bei multipler Sklerose sind die Zusammenhänge ebenfalls nicht so eindeutig, wie die Längsschnittstudie des US-Militärs nahezulegen scheint. Für den Neurologen Manuel Friese ist die Korrelation von Epstein-Barr-Virus und multipler Sklerose nicht zu bestreiten, die Kausalität aber schon. Er leitet das Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, wo er sowohl in der Forschung tätig ist als auch als Neurologe mit Patientinnen und Patienten arbeitet. »Die Ansteckung mit dem Epstein-Barr-Virus ist so weit verbreitet, dass irgendwann jede Person infiziert sein wird«, sagt Friese. »EBV gab es vermutlich schon, als der moderne Mensch aus Afrika auswanderte. Da ist es seltsam, dass EBV so plötzlich mit multipler Sklerose assoziiert wird. Hatten die Menschen früher schon MS oder geht das Immunsystem durch unseren veränderten Lebensstil anders mit Herpesviren um?«

Die Rolle des Lebensstils

In den Industrieländern tritt die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus viel später auf als in afrikanischen Ländern, wo sie bei Säuglingen asymptomatisch bleibt. Dabei hat EBV auch positive Effekte: Infizierte B-Zellen haben ein besseres Immungedächtnis als EBV-naive B-Zellen. Diese Wechselwirkungen zwischen Virus, Immunsystem und der restlichen Umwelt machen die Frage nach den genauen Zusammenhängen außerordentlich komplex. »Mikrobiom, Virom und Mykom – also die uns besiedelnden Bakterien, Viren und Pilze – werden auch durch unseren Lebensstil beeinflusst, und wenn Individuen erkranken, verändern diese dadurch auch ihr Verhalten und damit wiederum ihre Besiedelung«, erklärt Friese.

»Hatten die Menschen früher schon MS oder geht das Immunsystem durch unseren veränderten Lebensstil anders mit Herpesviren um?«Manuel Friese, Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf

Da ist man wieder bei der Henne und dem Ei: Was ist Ursache, was Wirkung? Der Forscher vermutet, dass wir neurodegenerative und autoimmune Erkrankungen bekommen, weil wir in einer industriellen Umwelt leben, »für die wir evolutionär nicht selektiert wurden«. Körpereigene Prozesse, die im frühen Erwachsenenalter günstig sind – und womöglich für das Überleben wichtig waren –, erweisen sich nun im späteren Erwachsenenalter als ungünstig.

Trotz der Unsicherheiten sind Fachleute zunehmend davon überzeugt, dass Herpesviren mit neurodegenerativen Erkrankungen zusammenhängen. Etliche Forschungsprojekte liefern Indizien dafür. Doch für eine Therapie, die Schlimmeres verhindert, reicht das, was man bisher weiß, nicht aus. Es gibt derzeit keine Belege, dass eine Impfung oder antivirale Medikamente gegen Alzheimerdemenz wirken.

Sich gegen Gürtelrose impfen zu lassen – die STIKO empfiehlt den Totimpfstoff Shingrix für alle Personen ab 60 Jahren –, ist trotzdem sinnvoll. »Aber nicht wegen der Demenz, sondern weil die Erkrankung richtig unangenehm sein kann«, erklärt Oliver Goldhardt. Neben den schmerzhaften, ausschlagartigen und mit Flüssigkeit gefüllten Zoster-Bläschen kann Gürtelrose zudem chronische Schmerzen, Lähmungen im Gesicht, Hörverlust oder gar eine Hirnhautentzündung verursachen. Klar ist für den Psychiater jedoch ebenso: »Infektionskrankheiten sind ein Risikofaktor für die Degeneration von Nervenzellen.« Das betreffe keineswegs nur Herpesviren. »Covid-19 kann ja auch das Gefäßsystem des Gehirns beeinträchtigen, und damit steigt wie auch bei Diabetes das Risiko für die Entwicklung einer Demenz«, sagt Goldhardt.

Der Blick auf die ebenso faszinierenden wie heimtückischen Herpesviren darf aber nicht davon ablenken, dass andere Faktoren ebenfalls Alzheimer, MS und Co beeinflussen. Auch Zucker, Alkohol und Rauchen erhöhen das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen. Doch ein Appell zu einem gesunden Lebensstil oder einer Zuckersteuer hören sich nicht so bequem an wie eine Wunderspritze gegen die bösen Viren.

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  • Quellen

Bjornevik, K. et al.: Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science 375, 2022

Taquet, M. et al.: The recombinant shingles vaccine is associated with lower risk of dementia. Nature Medicine 30, 2024

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