Führungsstile: »Die klassische Forschung erzeugt Illusionen«
In der Psychologie herrscht ein breiter Konsens über die Bedeutung von Führungsstilen. Der Führungsforscher Thomas Fischer von der Universität Genf befürchtet jedoch, sein Fachgebiet könnte einer Illusion erliegen. Der Grund: Führung werde schlecht gemessen.
Herr Fischer, wie wird Führung normalerweise erfasst?
Typisch in der Forschung ist die Messung per Fragebogen. Zu jedem Führungsstil gibt es ungefähr 10 bis 15 Aussagen, die so genannten Items, die den betreffenden Stil beschreiben sollen. Den Fragebogen kann die Führungskraft selbst beantworten, indem sie angibt, wie oft sie sich wie beschrieben verhält, zum Beispiel »nie«, »manchmal«, »oft« oder »immer«. In der Regel kreuzt sie dafür ein Kästchen auf einer Skala von 1 bis 5 oder von 1 bis 7 an. In der Praxis ist es aber üblicher, dass die Führungskraft in einem solchen Fragebogen von ihren Mitarbeitenden beurteilt wird. Sie sollen beispielsweise angeben, wie sehr die folgende Aussage zutrifft: »Meine Führungskraft entscheidet fair und ausgewogen.«
Das klingt wie eine persönliche Meinung. Gibt es noch eine andere Methode?
Eine Alternative ist, das Verhalten von Fachleuten beobachten zu lassen, mit der so genannten Interaktionscodierung. Diese Methode wird in der Praxis vor allem im Assessment Center eingesetzt. Psychologinnen und Psychologen protokollieren dann zum Beispiel, wie oft die Person nickt, lächelt oder jemanden unterbricht. Das Ergebnis ist in der Regel objektiver als das eines Fragebogens – sofern es sich wirklich nur am konkreten Verhalten orientiert. Wird vom Verhalten abstrahiert, dann sinkt die Objektivität.
Eine Beobachtung ist zeitlich sehr begrenzt. Wie aussagekräftig kann das sein?
Genau das bemängeln die Kritiker an der Interaktionscodierung: Die Methode kann das Verhalten lediglich im beobachteten Kontext erfassen, nicht aber das Führungsverhalten im Allgemeinen. Dazu kommt, dass sie deutlich aufwändiger ist und mehr kostet. Fragebögen sind deshalb immer noch die verbreitetste Methode.
Und was spricht gegen Fragebögen?
Bei einer Verhaltensbeobachtung weiß man, was gemessen wird – bei Fragebögen nicht, weil sie abstrakt formuliert sind. Man weiß nicht genau, worauf das Urteil fußt. Der hohe Abstraktionsgrad zieht außerdem noch ein großes Problem nach sich: Schon in den Namen der Führungsstile wie »ethisch« oder »destruktiv« steckt eine Wertung. Wir meinen, sie würden Verhaltensmuster beschreiben, aber sie bewerten mehr, als sie beschreiben. So ist es auch bei den einzelnen Items. Nehmen wir die Frage nach fairen Entscheidungen. Angenommen, eine Mitarbeiterin ist in einer Woche dreimal viel zu spät zur Arbeit gekommen, mit der Begründung, dass ihr Partner schwer krank ist. Ist es fair, sie zu rügen, weil andere zuvor auch fürs Zuspätkommen gerügt wurden? Was »fair« ist und was nicht, ist eine Frage der Bewertung.
»Der Zusammenhang zwischen Führungsstil und Zufriedenheit kann auf Unterschiede im Verhalten der Führungskraft zurückgehen, aber auch auf eine Bewertungstendenz des Mitarbeiters, die ganz andere Ursachen haben kann«
Warum ist das problematisch?
Die Vermischung von Beschreibung und Bewertung ist ein Problem für die ganze Führungsforschung. Das Kernanliegen lautet: Welche Führung fördert die Leistung, die Zufriedenheit und die Gesundheit am Arbeitsplatz? Ein typischer Befund lautet: Wer seine Führungskraft negativ bewertet, ist mit seinem Job insgesamt weniger zufrieden. Doch dabei ist unklar, ob die Führungskraft überhaupt ein negatives Verhalten gezeigt hat. Der Zusammenhang zwischen Führungsstil und Zufriedenheit kann auf Unterschiede im Verhalten der Führungskraft zurückgehen, aber ebenso auf eine Bewertungstendenz des Mitarbeiters, die ganz andere Ursachen haben kann. Wir nennen das »kausale Unbestimmtheit«.
Vielleicht ist der Mitarbeiter nur mit seiner eigenen Leistung unzufrieden und gibt der Führungskraft dafür die Schuld?
Ganz genau. Zusammen mit meinen Kollegen Jörg Dietz und John Antonakis habe ich Versuchspersonen Videos von einer Person gezeigt und deren Führungsstil beurteilen lassen. Danach haben wir den Probanden Geld gegeben und sie gefragt, ob sie es für sich behalten oder einer Stiftung spenden würden, für die diese Person arbeitet, oder ob sie für diese Person noch eine Aufgabe bearbeiten würden. Beides taten sie eher, wenn sie den Führungsstil für ethisch oder authentisch hielten. Aus den Urteilen über den Führungsstil ließ sich also die Bereitschaft zur Spende und Mitarbeit vorhersagen. Dieser Zusammenhang konnte aber nichts mit der Person im Video und ihrem Verhalten zu tun haben, weil es immer dasselbe war. Die Versuchspersonen haben es nur unterschiedlich bewertet. Worauf ließen sich die Unterschiede in der Bewertung zurückführen?
Die Urteile können mit Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängen, vor allem mit der Tendenz zu positiven oder negativen Affekten. In der Praxis kann auch eine schlechte Firmenkultur oder die Leistung des Teams die gemeinsame Ursache sein. Als wir unsere Versuchspersonen über vermeintliche Erfolge oder Misserfolge der Führungskraft im Video informierten, wurden »erfolgreiche« Führungskräfte als ethischer und authentischer beurteilt. Das zeigt: Wenn Führung auf diese Weise gemessen wird, ist es ein fataler Fehler, die Zufriedenheit der Mitarbeiter darauf zurückzuführen. Die Kausalität kann genauso in die andere Richtung gehen.
Bedeutet das, dass sich Führungskräfte verhalten können, wie sie wollen, weil es keine Rolle spielt?
Nein, ganz und gar nicht. Es ist nicht egal, wie sich Führungskräfte verhalten. Unser Experiment zeigt lediglich, dass die klassische Forschung mit Fragebögen kausale Illusionen erzeugt. Die Zusammenhänge, die man auf diese Weise findet, erlauben keinen Rückschluss darauf, ob ein Verhalten einen Effekt hat. Aber das schmälert in keiner Weise die Bedeutung der Führungskraft. Führung spielt sehr wohl eine Rolle – bisher wird sie nur nicht gut erfasst.
»›Ethisch‹ ist eine Wertung und lässt sich nicht gut an einem konkreten beobachtbaren Verhalten festmachen«
Wie kann man Führung besser messen?
Das Messinstrument muss erfassen, ob ein bestimmtes Verhalten tatsächlich vorliegt, frei von der moralischen Bewertung, die in einem Label wie »ethisch« oder »authentisch« steckt. Das ist gar nicht so einfach. Mein Kollege George Banks hat 2023 berichtet, dass Führung in der Forschung nur zu drei Prozent über das Verhalten gemessen wird. Zu denen, die das gut machen, zählen zum Beispiel einige Kolleginnen aus dem deutschsprachigen Raum, wie Simone Kauffeld von der Technischen Universität Braunschweig.
Instrumente zur Messung von Führung
- Fragebögen zu neuen Führungsstilen:Ethical Leadership Scale, Authentic Leadership Questionnaire, Servant Leadership Questionnaire
- Instrument zur Verhaltensbeobachtung: Act4Leadership
- Fragebogen zur Selbstreflexion: Leader Behavior Description Questionnaire (LBDQ) – hier kostenfrei anfragen
Lässt sich das konkrete Verhalten denn im Nachhinein den bekannten Stilen zuordnen?
Ein solches Mapping auf abstrakte Kategorien findet statt und gelingt bei einigen traditionellen Stilen wie »aufgabenorientiert«, »beziehungsorientiert« und »veränderungsorientiert«. Aber bei den neuen moralischen Stilen funktioniert das nicht gut. »Ethisch« ist eine Wertung und lässt sich nicht gut an einem konkreten beobachtbaren Verhalten festmachen.
Gibt es denn überhaupt etwas, wozu die traditionellen Fragebögen gut sind?
Auf jeden Fall. Sie können helfen, Führungskräfte bei der Selbstreflexion zu unterstützen. Wie sehe ich mich? Wie sehen mich meine Mitarbeiter? Wo liegen die Unterschiede? Dafür sind diese Instrumente sehr nützlich. Sie spiegeln uns, wie wir über Führung denken, und das kann hilfreich sein. Denn auf dieser Ebene wollen wir auch etwas verändern.
»Führung wird zu oft nur ›top down‹ verstanden: Die Führungskraft führt, der Mitarbeiter wird geführt. Der Einfluss ist jedoch wechselseitig«
Wenn ich wissen will, was ich für eine Chefin bin: Kann mir das ein Fragebogen also doch beantworten?
Es ist zumindest leichter, die Frage auf dieser abstrakten Ebene anzugehen. Zuerst beurteilen Sie sich selbst, dann schauen Sie, wie Sie von anderen beurteilt werden. Eine Alternative wären so genannte Situational Judgement Tests, die in der Personalauswahl beliebt sind, um soziale Kompetenzen zu erfassen: Darin werden fiktive Situationen vorgegeben und Sie sollen sagen, wie Sie sich verhalten würden. Oder es wird eine solche Situation hergestellt und das Verhalten beobachtet, so wie es bei der Eignungsdiagnostik in einem Assessment Center üblich ist. Es gibt auch Versuche, Verhaltensbeobachtung zu automatisieren. Mein Kollege George Banks arbeitet daran: Er trainiert ein Computerprogramm darauf, Sprache zu erkennen. In einem Projekt, an dem ich auch beteiligt bin, versuchen wir auf diese Weise, destruktive Führung zu messen. Ein Prototyp existiert bereits. Damit soll es möglich werden, die Kommunikation in einem Video-Call auszuwerten und sofort im Anschluss zurückzumelden. Man weiß aus der Forschung zu Verhaltensänderungen: je unmittelbarer das Feedback, desto besser.
Sie haben einmal geschrieben: Man bekommt leicht den Eindruck, als gäbe es keine Alternativen zu Führung – dabei müsste man einfach die Scheuklappen fallen lassen. Was sind denn die Alternativen?
Nicht alles, was zur Leistung und Zufriedenheit am Arbeitsplatz beiträgt, hängt vom direkten Vorgesetzten ab. Gute Arbeitsbedingungen, Unterstützung und Anerkennung kann ich auch von der Personalabteilung oder von meinem Team bekommen. Führung wird zu oft nur »top down« verstanden: Die Führungskraft führt, der Mitarbeiter wird geführt. Der Einfluss ist jedoch wechselseitig. In Wirklichkeit sind die Rollen auch gar nicht so festgelegt. Eine Führungskraft kann die Führung sogar vorübergehend abgeben, etwa wenn ein Mitarbeiter für eine Entscheidung fachlich qualifizierter ist. In vielen multifunktionalen Teams ist das längst Realität: Jeder hat seinen Kompetenzbereich, und die Führung wechselt je nach Thema. Die Praxis ist da schon weiter als weite Teile der Forschung.
Themenwoche »Führung«
Wer will eigentlich Chef oder Chefin werden? Warum haben manche Menschen Angst davor, Karriere zu machen? Und weshalb geben andere ihren Posten wieder auf? Diese und weitere Fragen beantwortet die Themenwoche »Führung« anhand von aktueller Forschung. Dazu erklären Fachleute, wie man erfolgreich führt – und warum das vermeintlich gesicherte Wissen über Führungsstile auch nur eine Illusion sein könnte.
- Führungsmotivation: To boss or not to boss
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- Selbstsabotage: Aus Angst vor dem Erfolg
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