Paläoanthropologie: Menschenvorfahren schritten Seit' an Seit'
Anderthalb Millionen Jahre alte Fußabdrücke belegen, dass einst verschiedene Arten menschlicher Vorläufer gleichzeitig auf zwei Beinen in Ostafrika unterwegs waren. Nach Ansicht der beteiligten Fachleute liegt somit der erste unmittelbare Beleg für die Koexistenz zweier Hominenspezies vor.
2021 stieß ein Grabungsteam um die Paläontologin Louise Leakey an der Fundstätte Koobi Fora am Turkanasee in Kenia auf fossile Abdrücke verschiedener Tiere. Die Fährten stammen aus einer Schicht, dessen Alter auf 1,5 Millionen Jahre geschätzt wurde. Bei der Freilegung im Juli 2022 kamen auch menschenartige Fußspuren zu Tage, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um den Humanbiologen Kevin Hatala von der Chatham University in Pittsburgh (USA) nun genauer untersuchten.
Neben zahlreichen Spuren vor allem von Großvögeln fällt eine längere Fährte mit 13 hintereinanderliegenden Fußabdrücken auf, die davon zeugen, dass hier ein Individuum entlang ging. Unmittelbar daneben gibt es noch drei weitere Abdrücke, die offensichtlich ebenfalls von einem Homininen stammen. Unter diesem Begriff fassen Systematiker alle Arten der Gattung Homo sowie deren ausgestorbene Vorfahren zusammen.
Mittels moderner 3-D-Techniken analysierten die Forscher die Fußspuren und verglichen sie mit anderen fossilen Abdrücken wie vom berühmten Fundort Laetoli in Tansania. Laut den in der Zeitschrift »Science« veröffentlichten Ergebnissen unterscheiden sich die Spuren so stark, dass mindestens zwei verschiedene Spezies hier unterwegs waren: Während die drei isolierten Abdrücke in Anatomie und Fortbewegung denen des modernen Menschen ähneln, stammt die längere Fährte wohl von einem Vormenschen. Wie die Wissenschaftler vermuten, handelt es sich bei Letzteren um die Art Paranthropus boisei, die auf Grund ihres kräftig gebauten Schädels auch als »Nussknacker-Mensch« bekannt ist und vor 2,3 bis vor 1,3 Millionen Jahren in Ostafrika lebte. Die anderen Spuren hat dagegen offensichtlich ein Vertreter des Homo erectus hinterlassen, der vor etwa zwei Millionen Jahren die Weltbühne betrat und ebenfalls in der Gegend des Fundorts vorkam.
Auf Grund von Fossilfunden gehen Paläontologen schon seit Längerem davon aus, dass verschiedene Homininenspezies gleichzeitig am selben Ort existierten. Paranthropus boisei starb einige Jahrtausende, nachdem ein Vertreter seine Fährte in Koobi Fora gelegt hatte, wieder aus. Homo erectus lebte dagegen noch mindestens eine Million Jahre länger, hatte sich zuvor schon über Afrika hinaus weltweit ausgebreitet und gilt als Ahn des Homo sapiens. Beide liefen bereits aufrecht, wobei Forscher darüber streiten, ob sich die zweibeinige Fortbewegung mehrfach unabhängig voneinander entwickelte (siehe »Spektrum« Juni 2023, S. 32). Da sie sich unterschiedlich ernährten – P. bosei lebte laut Zahnanalysen hauptsächlich von Gräsern, während H. erectus vermutlich sowohl Fleisch- als auch Pflanzenkost zu sich nahm –, konkurrierten die Arten kaum miteinander. Aber offensichtlich haben sich ihre Wege vor 1,5 Millionen Jahren am Ufer eines Sees gekreuzt.
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