Hunger und Malaria: Ein Goldrausch macht die Yanomami krank
Im Januar 2023 gingen Bilder von zu Skeletten abgemagerten Menschen vom Volk der Yanomami um die Welt. Vor allem Kinder mit schweren Zeichen von Unterernährung wurden mit dem Helikopter ins Krankenhaus von Boa Vista transportiert. Einige landeten direkt auf der Intensivstation mit Krankheiten, die alle vermeidbar und zu behandeln gewesen wären. Doch für viele Yanomami-Kinder kam die Hilfe zu spät.
Nach vier Jahren Regierung unter Jair Bolsonaro wurden die Konsequenzen seiner Politik in ihrer gesamten Dramatik sichtbar. Die medizinische Lage sei desaströs und katastrophal, berichtete André Siquiera nach seinem Besuch in der Region Surucucu im Bundesstaat Roraima im Januar. »Wir sahen eine sehr prekäre Gesundheitssituation, Patienten, die an schwerer Unterernährung, Atemwegsinfektionen litten und viele Fälle von Malaria und Durchfallerkrankungen«, erklärte der Tropenmediziner gegenüber BBC-News.
In den letzten vier Jahren sind mindestens 570 Yanomami-Kinder, die jünger als fünf Jahre waren, gestorben. Die für 2020 errechnete Säuglingssterblichkeit liegt dadurch bei 114 von 1000 Kindern, das ist zehnmal mehr als der brasilianische Durchschnitt und übertrifft im weltweiten Vergleich sogar noch die ärmsten Länder Afrikas.
Im Februar bestätigten die brasilianischen Behörden André Siquieras Diagnose: Im Bericht »Mission Yanomami« kommt das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit (SESAI) ebenfalls zu dem Schluss, dass vermeidbare Ursachen zum Tod der Kinder geführt hatten: akuter Durchfall, Atemwegserkrankungen, Lungenentzündung, starke Unterernährung. Und immer wieder auch Malaria.
Die Autorinnen und Autoren des Berichts vergleichen die Lage in den Indigenengebieten mit Zuständen in Kriegsgebieten. Schuld daran seien vor allem die prekären Gesundheitsstrukturen, außerdem mangele es an Ausrüstung, Fachkräften und an fachlicher Unterstützung. Fünf von 78 Gesundheitsposten wurden zwischen 2018 und 2022 eingestellt, medizinische Notrufe in den betroffenen Gegenden verhallten zumeist ungehört.
Viele Beobachter gehen davon aus, dass dahinter gezieltes Handeln stand. Die Regierung Bolsonaro habe die Absicht gehabt, den Indigenen zu schaden – ein Verdacht, der laut dem neuen Justizminister Flávio Dino nun untersucht werden soll.
Die Yanomami traf in den vergangenen Jahren ein Doppelschlag: Während auf der einen Seite die Gesundheitsversorgung ausgehöhlt wurde, stieg auf der anderen Seite die Belastung noch zusätzlich an. Nicht nur durch das Coronavirus, das sich in den Indigenengebieten ungehemmt ausbreiten konnte, sondern auch durch den massiven Zustrom von Goldschürfern in das brasilianische Amazonasgebiet. In den abgelegenen Gebieten, in denen es zudem acht isolierte Völker gibt, ist die Kontrolle lückenhaft und die Korruption verbreitet. Goldhändler, Juweliere, zahlungskräftige Hintermänner – sie alle verdienen kräftig am Geschäft. Die Goldsucher, die Garimpeiros, die in den illegalen Minen schuften, liefern die Ware dazu und riskieren nicht selten selbst ihre Gesundheit.
Auf indigenem Land hat sich die Zahl der Goldschürfgebiete zwischen 2010 und 2021 mehr als versechsfacht. Besonders im Territorium der Yanomami, dem größten Indigenengebiet Brasiliens, das sich über die zwei Bundesstaaten Roraima und Amazonas erstreckt und an Venezuela grenzt, werden die Minen in den Wald geschlagen. Die Zahl der Goldschürfer ist nach offiziellen Angaben zeitweise auf 25 000 gestiegen.
Die Wälder sind überjagt und die Flüsse vergiftet
»Die Abholzung der Wälder und das Schürfen nach Bodenschätzen tragen auch direkt zu Unterernährung bei«, sagt die Ethnologin Gabriele Herzog-Schröder, die seit fast 40 Jahren hauptsächlich mit Yanomami in Venezuela forscht. »Die Situation im Osten Brasiliens, wo das Land von Garimpeiros überschwemmt wird, ist dramatisch.« Hier haben die Indigenen mit der schwersten Unterernährung zu kämpfen, die je bei indigenen Gemeinschaften in Amerika festgestellt wurde. »Weiter im Westen gab es keine hungernden Menschen. Allerdings haben die Leute nicht ausreichend Gärten, um davon zu leben. Sie hängen am Tropf der brasilianischen Institutionen und konsumieren Hühnchen, Reis und Bohnen.«
Das verändere auch ihre Kultur. »Viele Indigene haben ihre traditionelle Subsistenzwirtschaft bereits weitgehend aufgegeben, vor allem in den Randgebieten zur so genannten Zivilisation. Damit sind sie natürlich leichte Beute für die Versprechen der Invasoren«, sagt die Ethnologin.
Seit 2017 ist der Goldrausch im Amazonas wieder voll in Schwung gekommen. Um das Gold aus dem abgebauten Material zu extrahieren, verwenden viele Garimperios ein Verfahren, bei dem Quecksilber eingesetzt wird. Gelangt es in die Umwelt hat das schwer wiegende Folgen für die Gesundheit, vor allem für die indigene Bevölkerung, die sich aus den belasteten Gewässern ernährt: Bereits 2019 warnte eine Studie der Fiocruz – der Forschungseinrichtung für Gesundheitswissenschaften –, dass über die Hälfte (56 Prozent) der Indigenen in ihrem Blut Rückstände aufwiesen, die den Grenzwert von zwei Mikrogramm Quecksilber pro Liter überschritten. Auch litten acht von zehn Kindern aus den vom Bergbau betroffenen Regionen an starker Unterernährung und 70 Prozent an Anämie – was auf das verseuchte Trinkwasser zurückzuführen ist.
Trotz mehrerer Berichte und Warnungen des Obersten Gerichthofs, der Indigenen Schutzbehörde (Funai) und der Armee unternahm die Regierung Bolsonaro nichts, um die drohende humanitäre Krise zu verhindern. Das von Lula da Silva neu besetzte Ministerium für Menschenrechte warf der Vorgängerregierung in einem Bericht schwere Unterlassung vor. Der Präsident sprach sogar von versuchtem Völkermord an den Yanomami.
Der Goldrausch lässt Malaria explodieren
Neben der Quecksilberverseuchung und Unterernährung führte der illegale Goldabbau zu einem explosionsartigen Anstieg von Malaria. In den ersten drei Jahren der Regierungszeit Bolsonaros starben im Gebiet der Yanomami mindestens 14 Kinder unter fünf Jahren an den Folgen der Infektionskrankheit. Das macht etwa zwei Drittel der gesamten Malariatodesfälle in dieser Altersgruppe brasilienweit aus, wie eine Reportage des gemeinnützigen Magazins für investigativen Journalismus »Agência Pública« zeigte. Und das, obwohl die geschätzt 25 000 bis 35 000 Yanomami im Land nur einen verschwindend geringen Bruchteil des 214-Millionen-Volks Brasiliens ausmachen.
Parallel zum Anstieg der Fälle wurde das nationale Malaria-Kontrollprogramm (NMCP) jedoch nicht gestärkt, sondern zurückgefahren. Während der letzten vier Jahre wurden alle technischen Beratungsgruppen abgeschafft und die Entwicklung eines strategischen Plans zur Malariabekämpfung nicht mehr unterstützt. So heißt es in einer kürzlich erschienenen Studie von Marcia C. Castro und Cassio Peterka.
Die Folgen waren dramatisch. Die Infektionen im Bundesstaat Mato Grosso stiegen um insgesamt 727 Prozent an. In Roraima, wo viele Yanomami leben, kletterte die Zahl der Malariafälle um 110 Prozent. Ein Trend ist brasilienweit identisch: Während die Infektionen in den städtischen und ländlichen Siedlungsgebieten zurückgingen, schnellten sie in den Bergbaugebieten in die Höhe. Allein in der Yanomami-Region Palimiu in Roraima gab es der Auswertung einer Indigenenorganisation zufolge doppelt so viele Malariafälle wie Personen, was bedeutet, dass diese die Krankheit mehrmals durchmachten.
Marcia Castro ist Professorin für Demografie und Leiterin der Abteilung für globale Gesundheit und Bevölkerung an der Harvard University. Seit Jahren untersucht sie, wie sich die durch Insekten übertragenen Tropenkrankheiten ausbreiten und wie sich diese Entwicklung durch Umweltzerstörung und Klimawandel beschleunigt. Der Beitrag für das Fachblatt »Nature Medicine«, den sie mit Cassio Peterka verfasste, belegt den direkten Zusammenhang zwischen der Ausbreitung der Krankheit und den zunehmenden Aktivitäten im Bergbau.
In Kraterlandschaften schwärmen die Mücken aus
Auch Castro und Peterka machen die Politik der Regierung Bolsonaros für die Verschiebung in den Fallhäufigkeiten verantwortlich. Der ungezügelte Goldrausch ließ die Kettensägen röhren: Von 2019 bis 2022 wurden rund 45 000 Quadratkilometer Wald niedergemacht – eine Fläche fast so groß wie die von Niedersachsen. Mit ihren schweren Gerätschaften wühlten die Goldsucher die Flussufer auf. Die Kraterlandschaften entlang der Flüsse und Seen vergrößerten sich um mehr als das Doppelte. Zurück blieben quadratkilometerweise Brutflächen für die Anopheles-Mücke, die den Malariaerreger überträgt.
Dass der Expräsident die Gesundheitsdienste in den Indigenengebieten beschnitt, ist eine Sache. Um die Malaria in Griff zu bekommen, müssten aber vor allem der Abholzung und der Ausweitung des Bergbaus ein Riegel vorgeschoben werden, fordert Castro. Auch gelte es, die Malariaüberwachung erneut zu stärken und die kritischsten Gebiete sofort ins Visier zu nehmen. Und all dies im gesamten Amazonasgebiet.
Nothilfe auch durch robuste »Rückeroberung«
Noch bevor der neue Präsident Luiz Ignácio Lula da Silva offiziell im Januar 2023 sein Amt angetreten hatte, rief er den nationalen Notstand aus und schickte Gesundheitsteams in die Region. Nach Angaben der brasilianischen Luftwaffe wurden mittlerweile Medikamente und mehr als 20 000 Lebensmittelkörbe in die Region geflogen; in jedem Korb Reis, Vollmilchpulver, Maniokmehl, Paranüsse, Maisflocken, Sardinen und haltbar gemachtes Fleisch.
Darüber hinaus wurden in Feldlazaretten mehr als 1000 Patientinnen und Patienten behandelt. Kranke und unterernährte Kinder und Erwachsene wurden ausgeflogen. Lula versprach, die Gebiete von den Goldsuchern »zurückzuerobern« und den illegalen Bergbau in der Region zu unterbinden.
Im Februar starteten die Verkehrspolizei PRF (Polícia Rodoviária Federal) und das brasilianische Umweltinstitut (IBAMA) die »Operation Omawe« zur Bekämpfung des illegalen Bergbaus in Roraima. Sie trägt den Namen des Kulturbringers der Yanomami. Goldsucher und kriminellen Mafias sollen damit aus dem Land der Yanomami vertrieben werden.
Bisher zerstörten die Einheiten 327 Bergbaucamps, 18 Flugzeuge und zwei Helikopter. Illegale Landepisten und Infrastrukturen wurden gesprengt, und die Polizei stellte 20 Tonnen Kassiterit (Zinn), 505 Kubikmeter illegal gefälltes Holz und mehr als ein Kilogramm Gold sicher. Darüber hinaus fand sie rund fünf Kilogramm Quecksilber, 30 000 Liter Treibstoff und beschlagnahmte 50 Waffen, Munition, Drogen und knapp 8000 Euro in bar. Im April starben fünf Menschen bei einer Operation der IBAMA, als die Kriminellen Widerstand leisteten. Denn neben den Goldschürfern haben sich gewaltbereite Drogenmafias in den Gebieten angesiedelt.
Alles schon einmal da gewesen
Dieser Kampf wird nicht zum ersten Mal ausgefochten. »Mehrere Male wurden solche Operationen schon durchgeführt, dann aber nicht weiterverfolgt«, sagte der Verteidigungsminister José Múcio in den brasilianischen Medien. »Ich denke, dass diese Aufgabe schwieriger ist, wir müssen die Landesregierung, die Politiker und die Gesellschaft mit einbeziehen.«
Auch Herzog-Schröder fühlt sich an ähnliche Versuche in der Vergangenheit erinnert. »Doch inzwischen haben sich die Dimensionen verändert«, sagt sie. Der Bergbau werde nicht mehr primär von armen Garimpeiros in Handarbeit erledigt, stattdessen operieren die Betreiber mit schwerem Gerät. Die Macht internationaler Konsortien, die im Hintergrund wirken, verhindern nach Ansicht der Forscherin ein Durchgreifen der Behörden. »Dahinter stecken gigantische Schürforganisationen, die sich darüber hinaus mit ›grünen‹ Zertifikaten schmücken.«
Zudem wandern die vertriebenen Goldgräber zum Arbeiten in die Region Maturacá im Norden des Bundesstaats Amazonas ab, wie das unabhängige Journalistennetzwerk AmazoniaReal berichtete. Diese Gebiete müssten dringend in die Maßnahmen mit einbezogen werden, forderten die betroffenen Gemeinden in einem Brief an das Ministerium für Indigene Angelegenheiten. »Wir wollen nicht, dass es unseren Brüdern so ergeht wie in Roraima«, erklärte der Yanomami-Anführer José Mário Góes.
Treiber des Elends sind steigende Goldpreise
Es ist eine Kettenreaktion: Der Anstieg der Malariafälle, der Unterernährung und der Todesfälle durch vermeidbare Krankheiten ist auf die Ausweitung der illegalen Abbauflächen zurückzuführen. Deren Anstieg wiederum ist an die kletternden Marktpreise für Gold geknüpft. Und diese klettern immer dann, wenn Zentralbanken und Anleger im Gold einen sicheren Hafen gegen wirtschaftliche Turbulenzen suchen.
Dass das Gold aus dem Amazonasgebiet diese steigende Nachfrage bedienen kann, hatte eine weitere Ursache, die über die gezielte Vernachlässigungspolitik Jair Bolsonaros hinausgeht: ein Gesetz, das den An- und Verkauf sowie den Transport von Gold aus so genannten handwerklichen Minen gestattete. Es stammt noch aus der Regierungszeit von Dilma Rousseff. Gemäß dieser Regelung genügte schon eine einfache eidesstattliche Versicherung über die (angeblich) legale Herkunft, um Gold direkt auf dem freien Markt anzubieten. Bergleute, Händler und Juweliere, die ihre illegal geschürfte Ware an den Mann bringen wollten, konnten so die offiziellen Aufsichtsbehörden mit Leichtigkeit umgehen. Woher das Edelmetall stammte und auf welchen Wegen es gehandelt wurde, ließ sich anschließend kaum mehr zurückverfolgen.
Ende April hob das brasilianische Verfassungsgericht diese Regelung auf. Die Regierung hat nun drei Monate Zeit, eine Regelung zu finden, mit der sich verhindern lässt, dass Gold aus Umweltschutzgebieten und indigenem Land in den Handel gerät.
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