Serie: Frauen, die die Welt besser machen: Mit »fliegenden Spritzen« gegen Malaria
Fatou weint. »Mir tut die Haut überall weh«, sagt die 13-Jährige, während Doktor Abira Moise einen Tropfen ihres Bluts auf einen Teststreifen streicht. »Seit drei Tagen ist sie heiß und hat Schüttelfrost, ist schlapp und hat fiebrige Augen«, klagt die Mutter, die das Mädchen in den Armen hält. »Kann es womöglich Malaria sein? Mein kleiner Sohn hatte es schon mehrmals, ständig hab ich Angst.«
Der Arzt nickt. Die Symptome deuten darauf hin, der Test bestätigt den Verdacht. Der Fall von Fatou ist einer von vielen in Abira Moises Praxis. Diese liegt in Mikalou, einem Armenviertel der kongolesischen Hauptstadt Brazzaville. »Täglich kommen an die 16 Patienten zu mir, die Hälfte von ihnen mit Malariaverdacht«, erklärt er. »Die meisten überleben.«
Zu seinem Kummer aber nicht alle. Manche seiner Landsleute können sich weder Test noch Medikamente leisten. »Wird die Krankheit nicht richtig behandelt, kann sie tödlich enden«, sagt der Arzt. Deshalb hoffe er, dass Forscher möglichst bald einen Impfstoff entwickeln.
»In Brazzaville ignorierten mich zunächst viele Kollegen«
Moises Hoffnung hat einen Namen: Francine Ntoumi, vor 62 Jahren in Brazzaville geboren, und Molekularbiologin mit dem Spezialgebiet Malaria. Wer ihr begegnet, lernt sie als engagierte und weit gereiste Forscherin und Frauenrechtlerin kennen, sei es an Universitäten in Afrika oder in Europa. Ihr Werdegang ist ungewöhnlich für ein kongolesisches Mädchen: Bereits als Teenagerin besuchte sie ein Gymnasium in Paris, wo sie nach dem Abitur auch Biochemie und Physiologie studierte und 1992 promovierte. Nach zwei Jahren am Pariser Institut Pasteur, einer der renommiertesten Adressen für Infektionsforschung weltweit, ging sie auf wissenschaftliche Wanderschaft. Nach Gabun, Tansania und Den Haag landete sie im Jahr 2000 an der Uni Tübingen, wo sie bis heute eine Professur innehat. 2009 kehrte Ntoumi zurück in den Kongo und gründete eine Stiftung für medizinische Forschung.
Alles in allem eine höchst ungewöhnliche Karriere. Wissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen sind keine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht im Kongo. »In Brazzaville ignorierten mich zunächst viele Kollegen«, erzählt sie. »Vielleicht, weil ich nicht ihr traditionelles Rollenbild einer Frau erfülle.« Auch im Kongo beanspruchen noch immer Männer die wichtigen Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.
Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen
BurdaForward ist einer von drei deutschen Empfängern eines Stipendiums für konstruktiven Journalismus. Im Rahmen des internationalen Projekts »Solutions Journalism Accelerator« setzt BurdaForward von September 2022 bis August 2023 zusammen mit der renommierten Reportage-Agentur »Zeitenspiegel« 12 Multimedia-Produktionen um, die auf den Seiten von »FOCUS Online«, »Bunte.de«, »Chip.de« und »Spektrum.de« veröffentlicht werden. Die Serie trägt den Namen »Die Welt besser machen: 12 Frauen, 12 Ideen« und stellt die Arbeit von Wissenschaftlerinnen aus dem Globalen Süden vor, die mit ihrem Team an Lösungen für große Probleme der Menschheit forschen. Es geht dabei um die ersten sechs der so genannten »Sustainable Development Goals« der UN: keine Armut, kein Hunger, gute Gesundheit und Wohlbefinden, gute Bildung, Gendergleichheit, sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen. Auf »Spektrum.de« erscheinen ausgewählte Texte in unregelmäßigen Abständen. Das Projekt wurde vom European Journalism Centre durch den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.
Um das zu ändern, besucht Ntoumi landesweit Schulen, bringt Mikroskope und Laborproben mit und versucht, besonders Mädchen für Naturwissenschaften zu begeistern. Wichtige Voraussetzung ist dabei, über Geschlechterklischees zu diskutieren. Ihre spezielle Botschaft an Schülerinnen mündet jedes Mal in dem Appell: »Traut euch!« Denn gerade im Kampf gegen Malaria gälte es, alle Kräfte der Gesellschaft zu mobilisieren. Immer wieder schildert sie die Notlage, in der sich Afrika befindet.
Malaria-Impfstoff dringend gesucht
Die Fakten sprechen für sich: Weltweit infizieren sich nach Schätzung des Robert Koch-Instituts jährlich rund 300 bis 500 Millionen Menschen mit Malaria. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben weit mehr als eine halbe Million Menschen an der Krankheit, mehr als 90 Prozent davon allein in Afrika. Dass Stechmücken die Krankheit übertragen, ist bekannt, wie sie sich im Körper ausbreiten, ist inzwischen erforscht und immer wieder Thema ihrer Kurse, in denen sie Wege und Wirkung der Erreger im Körper zeigt.
Die Erreger wandern zunächst in die Leber, wo sie sich unbemerkt vermehren und nach ungefähr einer Woche massenhaft rote Blutkörperchen befallen. Im schlimmsten Fall legt ihre Invasion lebenswichtige Funktionen des Körpers lahm.
Heute hat Francine Ntoumi einen Termin im staatlichen Fernsehsender Télé Congo. Hupend bahnt sich der Toyota seinen Weg durch die verstopfte Innenstadt von Brazzaville. Ein TV-Mitarbeiter führt Francine Ntoumi ins Studio der Talkshow »Le Debat«. Moderatorin Itoua stellt ihre Gäste vor: vier Koryphäen der Malariaforschung.
Charles Wondji aus Kamerun ist Genetiker und lehrt an der Liverpooler Hochschule für Tropenmedizin. Sein Kollege Akim Adegnika aus Gabun ist Immunepidemiologe an der Uni Tübingen, wo auch Steffen Borrmann forscht, Facharzt für Klinische Parasitologie. Einzige Frau der Runde ist Francine Ntoumi, in Afrika das große Vorbild für junge Forscherinnen.
In der Fernsehdebatte von Télé Congo steht die Frage im Vordergrund, ob und wann es möglich sein wird, Malaria vorzubeugen, statt mit immerhin wirksamen Medikamenten ihren Schaden zu begrenzen. Seit mehr als 100 Jahren suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach einem Impfstoff. Ein Vakzin wird aktuell von der WHO zur Anwendung in Afrika empfohlen: Mosquirix. Das kann allerdings nur drei von zehn schweren Malariaverläufen verhindern. Ziel ist eine Reduktion um mindestens 75 Prozent. Größtes Problem: Malariaparasiten präsentieren im Blutkreislauf ständig neue Varianten von Oberflächenproteinen. Ein Impfstoff, der die Abwehrkräfte des Immunsystems trainieren soll, müsste sich dieser Wandlungsfähigkeit des Erregers anpassen.
Die Diskussion setzt sich fort, als Ntoumi am nächsten Morgen im Hotel King Maya eintrifft. Als sie den Konferenzsaal betritt, sind schon fast alle Plätze besetzt. Hinter aufgeklappten Laptops wartet ein fachkundiges Publikum darauf, dass Kollegin Ntoumi das Jahrestreffen des Zentralafrikanischen Netzwerks für klinische Forschung (CANTAM) eröffnet.
Sie und ihre Kollegen analysieren derzeit in Städten und Dörfern die Blutproben von Malariapatienten. Auf diese Weise wollen sie die Vielfalt der Malariastämme erfassen. »Durch Mutationen ist der Malariaparasit in der Lage, unserer Immunantwort zu entgehen«, berichtet sie. »Und das erschwert es uns, einen Impfstoff zu entwickeln.«
Gemeinsam gegen den Parasiten
Dennoch gibt es Hoffnung – und die speist sich aus einem Vorhaben, dass Francine Ntoumi mit Forschern aus aller Welt vorbereitet. Einer ihrer engsten Mitstreiter ist Steffen Borrmann, der seit Ende des Jahres 2022 viel unterwegs ist. Sein Ziel ist oft dasselbe: Lambaréné, eine kleine Stadt im zentralafrikanischen Gabun, nahe dem Äquator, gut 8000 Kilometer südlich von Tübingen. »Wir wollen es versuchen«, lautet die deutsche Übersetzung des Ortsnamens.
Eine verpflichtende Adresse, weltberühmt geworden durch den Theologen und Arzt Albert Schweitzer, der vor rund 100 Jahren ein Krankenhaus in Lambaréné gründete, um ein konkretes Beispiel christlicher Nächstenliebe zu geben. Mit dem Geld, das ihm sein Friedensnobelpreis einbrachte, baute er Mitte des 20. Jahrhunderts ein Lepradorf.
Dort plant die Gruppe um Ntoumi, Borrmann und Peter Kremsner, Medizinprofessor und Leiter des Tübinger Instituts für Tropenmedizin, ein ungewöhnliches Projekt. Ab Oktober 2023 werden jeweils 20 afrikanische Studenten der Biologie, Biochemie und Immunologie, aber auch Pharmazeuten und Mediziner den zweijährigen Masterkurs »Infektionskrankheiten« absolvieren – finanziell unterstützt vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD).
»Es mangelt in Afrika an Fachkräften und Frau Ntoumi findet nicht genug Nachwuchs«, erzählt Steffen Borrmann. Es gibt nicht genügend Universitäten, die entsprechende Ausbildungen anbieten, und nicht genügend Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder auf europäische oder nordamerikanische Universitäten zu schicken. Allein aus Tübingen beteiligen sich nun zehn Wissenschaftler an der Ausbildung, halten Vorträge und Praxisseminare in den Fächern Virologie, Mikrobiologie, Genetik und Statistik.
Malariaexperten aus Gabun, Kamerun und dem Kongo steuern ihre Expertise in Epidemiologie und der Übertragung von Infektionskrankheiten bei. »Wir können von unseren afrikanischen Kollegen viel lernen; so ist Charles Wondji aus Kamerun einer der weltweit führenden Wissenschaftler in der Analyse von Malariamücken«, betont Borrmann.
Immunisierung über Umwege
Noch wichtiger: Forscher beider Kontinente arbeiten in Lambaréné künftig an der Entwicklung eines Lebendimpfstoffs. Diese Impfstoffe funktionieren so: Mediziner verabreichen mit Spritzen abgeschwächte Formen des Erregers, die selbst nicht krank machen, aber das Immunsystem aktivieren, bevor die durch Mücken übertragenen gefährlichen Erreger ins Blut gelangen. Eine Methode, die bei Malaria sinnvoll scheint. Denn Menschen, die bereits mehrmals Malaria hatten, können zwar erneut erkranken, aber nicht mehr daran sterben.
Klinische Studien in Tübingen verliefen erfolgreich, sie konnten einen nahezu vollständigen Impfschutz belegen. »Leider ist der Impfschutz unter afrikanischen Studienteilnehmern nicht so hoch«, sagt Steffen Borrmann. Deshalb planen die Wissenschaftler, Parasiten dem Blut von Patienten zu entnehmen, um damit lokale Mückenkolonien zu infizieren. Diese »fliegenden Spritzen« dienen dann der kontrollierten Infektion von Studienteilnehmern. »Verstehen wir diese Prozesse, hilft uns das möglicherweise, einen verbesserten Impfstoff zu finden.«
»Zwischen Wissenschaftlern und Politikern fehlt es noch an Vertrauen«
Audienz bei Gesundheitsminister Gilbert Mokoki in Brazzaville: Steffen Borrmann, Francine Ntoumi und ihre zwei Kollegen können über den Stand ihrer Forschung berichten.
»Wie war die Konferenz?«, fragt der Minister. »Ein guter Austausch«, sagt Ntoumi. »Was ist die größte Herausforderung bei Ihrer Forschung?«, fragt Mokoki. – »Die Finanzierung.« – »Warum?« – »Für die Pharmaindustrie sind Investitionen in Malariaforschung wenig lukrativ.« – »Woran liegt das?« – »Weil Impfstoffe gegen eine armutsbedingte Krankheit nur geringe Margen versprechen.«
Mokoki, ehemaliger Brigadegeneral, sitzt hinter seinem Schreibtisch, die Hände vor sich gefaltet, wirkt ernsthaft interessiert. Ntoumi will diesen Moment nutzen. »Die Zusammenarbeit mit der Regierung könnte besser sein, zwischen Wissenschaftlern und Politikern fehlt es noch an Vertrauen«, sagt sie. Mokoki nickt.
In seinem kleinen Spital wenige Kilometer entfernt neigt Doktor Abira Moise unterdessen seinen kahlen Kopf über Fatou. Das Mädchen ist eingeschlafen. Sie wird überleben. »Es geht ihr schon besser«, sagt er zur Mutter, die auf dem Rand des Betts sitzt. »Ich glaube, sie kann bald nach Haus gehen.« Ein Glücksfall – nicht nur für das Mädchen: Ein Bett wird frei – denn es stehen bestimmt schon wieder acht Menschen mit Fieber und Schüttelfrost vor seiner Praxis.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.