Quantenphysik: Unsere Welt braucht imaginäre Zahlen
»Miguel und ich versuchen schon seit Jahren, ein Problem zu lösen«, begann der Physiker Antonio Acín das Gespräch mit seinem Kollegen Marc-Olivier Renou im Jahr 2020. Er hatte Renou, der damals noch in Genf lebte, zu sich ans Institute of Photonic Sciences (ICFO) im katalanischen Ort Castelldefels in der Nähe von Barcelona eingeladen, um mit ihm über ein Projekt zu sprechen, das er sich zusammen mit Miguel Navascués überlegt hatte. Renous Neugier schien geweckt, also erklärte Acín, was ihn schon so lange beschäftigte: »Kann die gewöhnliche Quantenmechanik auch ohne imaginäre Zahlen funktionieren?«
Das Besondere an diesen Zahlen ist, dass ihr Quadrat einen negativen Wert ergibt. Der Universalgelehrte René Descartes (1596–1650) nannte sie »imaginär«, um sie von den heute als »reell« bezeichneten Zahlen zu unterscheiden – jenen, die man auf einem Zahlenstrahl findet. Da imaginäre Zahlen es erlauben, manche Aufgaben wesentlich einfacher zu lösen, haben sie sich in der Fachwelt durchgesetzt. Das bisherige Zahlengerüst wurde daher um die komplexen Zahlen erweitert, die eine Summe aus reellen und imaginären Werten darstellen. Trotz ihres mathematischen Nutzens kann man sich aber fragen, ob imaginäre Zahlen in unserer realen Welt existieren: Schließlich tauchen sie in keiner der grundlegenden Gleichungen der Physik auf – mit Ausnahme der Quantenmechanik.
Die gängigste Version der Quantenphysik beruht auf komplexen Zahlen. Beschränkt man sich auf reelle Werte, ergibt sich ein neues Modell: die reelle Quantentheorie. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts konnten mehrere Forschungsteams zeigen, dass die reelle Variante viele Quantenexperimente korrekt beschreibt. Deswegen gingen zahlreiche Fachleute davon aus, dass die reelle Quantentheorie auch jeden anderen quantenmechanischen Versuch abdeckt. Die Entscheidung, mit komplexen statt reellen Zahlen zu arbeiten, sei lediglich eine Frage der Bequemlichkeit.
Doch das sind bloß Vermutungen. Könnte es sein, dass die Quantenphysik in Wirklichkeit auf imaginäre Zahlen angewiesen ist? Nach unserem Gespräch in Castelldefels haben wir monatelang gegrübelt, wie sich das beweisen ließe. Am Ende hatten wir die Idee für ein Experiment, dessen Ausgang eine reelle Version der Quantenmechanik nicht erklären könnte. Damit wären imaginäre Zahlen ein wesentlicher Bestandteil der Quantenphysik: Ohne sie würde die Theorie ihre Vorhersagekraft verlieren.
Die Geburt der imaginären Zahlen
Imaginäre Zahlen gehen auf das frühe 16. Jahrhundert zurück, als der italienische Mathematiker Antonio Maria del Fiore seinen Konkurrenten, den Professor Niccolò Fontana mit Spitznamen »Tartaglia« (deutsch: der Stotterer), zu einem Rechen-Duell herausforderte. In Italien war das damals gängige Praxis: Wenn der Herausforderer gewann, konnte er die Stelle seines Gegners erhalten. Infolgedessen neigten Mathematiker dazu, ihre Entdeckungen für sich zu behalten und die Theoreme, Korollarien und Lemmata nur zu veröffentlichen, um intellektuelle Kämpfe zu gewinnen.
Del Fiores Mentor, Scipione del Ferro, hatte ihm auf dem Sterbebett eine Formel zur Lösung von kubischen Gleichungen der Form x3 + ax = b mitgeteilt. Mit diesem Wissen legte del Fiore seinem Gegner Tartaglia 30 kubische Gleichungen vor und forderte ihn auf, innerhalb von eineinhalb Monaten für jede davon den korrekten Wert von x zu bestimmen.
Kurz vor Ablauf der Frist entdeckte auch Tartaglia die Lösungsformel für die spezielle Art der kubischen Gleichungen, löste die Aufgaben und gewann das Duell. Später vertraute Tartaglia seine Formel dem Arzt und Wissenschaftler Gerolamo Cardano an, der versprach, sie geheim zu halten. Trotz seines Schwurs veröffentlichte Cardano sie jedoch einige Jahre später. Die komplizierte Formel enthält unter anderem zwei Quadratwurzeln. Wenn die Radikanden negativ waren, ging man davon aus, dass die kubische Gleichung keine Lösung hätte. Denn es gibt keine reellen Zahlen, die quadriert einen negativen Wert ergeben.
Zeitgleich machte nun ein vierter Gelehrter, Rafael Bombelli, eine der bedeutendsten Entdeckungen in der Geschichte der Mathematik: Er fand lösbare kubische Gleichungen, für die die von Cardano veröffentlichte Lösungsformel Quadratwurzeln aus negativen Zahlen enthielt. Wie er überrascht feststellte, lieferte die Formel die richtige Lösung, wenn er so tat, als gäbe es eine neue Art von Zahl, deren Quadrat gleich −1 ist. Es stellte sich heraus, dass sich die Terme mit √−1 alle gegenseitig aufheben – und als Ergebnis eine reelle Lösung übrig bleibt.
In den folgenden Jahren untersuchten Wissenschaftler die Eigenschaften von »komplexen« Zahlen der Form a + b·√−1, wobei a und b reelle Werte sind. Im 17. Jahrhundert brachte Descartes diese mit nicht existierenden Merkmalen geometrischer Figuren in Verbindung und nannte die Zahl i = √−1 deshalb »imaginär«, um sie von den normalen Zahlen zu unterscheiden, die er als »reell« bezeichnete. Mathematiker und Mathematikerinnen verwenden diese Terminologie noch heute.
Komplexe Zahlen haben sich als fantastisches Werkzeug erwiesen – nicht nur zum Lösen von Gleichungen, sondern auch, um die klassische Physik zu vereinfachen. Ein Beispiel sind Lichtwellen: Es ist leichter, Licht als rotierende elektrische und magnetische Felder durch komplexe Zahlen zu beschreiben als durch oszillierende reelle Felder – obwohl es so etwas wie ein imaginäres elektrisches Feld natürlich nicht gibt. Auch die Formeln für elektronische Schaltkreise sind einfacher zu lösen, wenn man so tut, als hätten die Ströme komplexe Werte; dasselbe gilt für Gravitationswellen.
Vor dem 20. Jahrhundert sah man derartige Operationen mit imaginären Zahlen als mathematischen Trick an. Letztlich entsprechen die grundlegenden Elemente jeder klassischen Theorie (Temperatur, Positionen von Teilchen, Felder und so weiter) reellen Zahlen, Vektoren oder Funktionen. Doch dann kam die Quantenphysik und stellte diese Ansicht radikal in Frage.
Schrödinger und seine Gleichung
In der gewöhnlichen Quantenmechanik wird der Zustand eines Systems durch die so genannte Wellenfunktion dargestellt: ein Vektor (eine Größe mit einem Betrag und einer Richtung) aus komplexen Zahlen. Ihre zeitliche Entwicklung bestimmt die Schrödingergleichung, die fundamentale Formel der Quantenmechanik. Physikalische Eigenschaften, wie die Geschwindigkeit oder die Position eines Teilchens, sind keine einfachen Zahlen mehr, sondern »Operatoren«: Tabellen mit komplexen Einträgen. Diese starke Abhängigkeit von imaginären Werten widersprach von Anfang an der tief verwurzelten Überzeugung, dass sich Naturgesetze stets durch reelle Größen formulieren lassen. Erwin Schrödinger, der Erfinder der nach ihm benannten Gleichung, war einer der Ersten, der seine Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck brachte. In einem Brief an seinen Kollegen Hendrik Lorentz schrieb er am 6. Juni 1926: »Was hier unangenehm ist, und zwar direkt zu beanstanden, ist die Verwendung komplexer Zahlen. Die Wellenfunktion ist doch im Grunde eine reelle Funktion.«
Zunächst schien Schrödingers Unbehagen einfach zu beheben: Er schrieb die Wellenfunktion um und ersetzte einen einzelnen Vektor aus komplexen Zahlen durch zwei reelle Vektoren. Schrödinger bestand darauf, dass diese Version die wahre Theorie sei und dass die imaginären Werte nur der Bequemlichkeit dienten. In den folgenden Jahren haben Physikerinnen und Physiker andere Wege gefunden, die Quantenmechanik durch reelle Zahlen auszudrücken. Aber keine der Alternativen hat sich je durchgesetzt. Denn mit der komplexen Standard-Quantentheorie lässt sich die Wellenfunktion von Quantensystemen, die aus mehreren Teilchen bestehen, leicht darstellen – eine Eigenschaft, die den reellen Versionen fehlt.
Was passiert, wenn man Wellenfunktionen dennoch auf reelle Zahlen beschränkt? Auf den ersten Blick nicht viel. Man erhält die reelle Quantentheorie, die der komplexen Variante ähnelt: Es lassen sich immer noch Quantenberechnungen durchführen, geheime Nachrichten durch den Austausch von Quantenteilchen versenden, und man kann den Zustand eines subatomaren Systems über Kontinente hinweg teleportieren.
Grundlegend für solche Anwendungen sind kontraintuitive Eigenschaften wie Überlagerungen, Verschränkungen und die Unschärferelation. Diese sind auch Teil der reellen Quantentheorie. Deshalb gingen Physiker davon aus, dass komplexe Zahlen nur aus Bequemlichkeit verwendet werden. Demnach wäre die reelle Quantentheorie ebenso gültig wie die komplexe Variante. An jenem Herbstmorgen im Jahr 2020 in Acíns Büro begannen wir jedoch an dieser Vorstellung zu zweifeln.
Die reelle Quantentheorie widerlegen
Um ein Experiment zu entwerfen, das die reelle Quantentheorie widerlegt, mussten wir vorsichtig vorgehen. Man kann zum Beispiel keine Annahmen über die verwendeten Versuchsgeräte machen, da Anhänger des reellen Lagers diese jederzeit in Frage stellen könnten. Angenommen, ein Instrument soll die Polarisation eines Photons bestimmen. Kritiker könnten argumentieren, dass das Gerät eine andere Eigenschaft gemessen hat, etwa den Bahndrehimpuls des Teilchens. Wir haben keine Möglichkeit, herauszufinden, ob die Apparate wirklich das tun, was wir glauben. Doch wie soll man eine physikalische Theorie falsifizieren, ohne etwas über den Versuchsaufbau anzunehmen? Glücklicherweise gab es schon ähnliche Bemühungen, an denen wir uns orientieren konnten.
Albert Einstein war zwar einer der Begründer der Quantenphysik, hat aber nie an sie geglaubt: Es widerstrebte ihm, dass die Welt so kontraintuitiv sein könnte. Selbst wenn die Quantenmechanik genaue Vorhersagen macht, war er überzeugt, sie müsse eine vereinfachte Version einer fundamentaleren Theorie sein, die die scheinbar paradoxen Eigenheiten auflöst. So weigerte sich Einstein beispielsweise zu glauben, dass die heisenbergsche Unschärferelation (wonach man Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens nicht beliebig genau bestimmen kann) grundlegend ist. Stattdessen sah er den Grund in technischen Beschränkungen. Der Physiker ging davon aus, dass eine zukünftige »klassische« Theorie die Ergebnisse aller Quantenexperimente erklären würde.
Wie wir heute wissen, war Einsteins Intuition falsch. 1964 zeigte der Physiker John S. Bell, dass sich einige Quanteneffekte nicht durch eine klassische Theorie modellieren lassen. Dafür stellte er eine Art von Experiment vor, die inzwischen als Bell-Test bezeichnet wird: Darin arbeiten zwei Experimentatoren, Alice und Bob, in getrennten Labors. Eine weitere Person schickt beiden je ein Teilchen, das sie unabhängig voneinander messen. Bell bewies, dass die Messergebnisse in jeder sinnvollen klassischen Theorie gewisse Ungleichungen erfüllen. Dann zeigte der Physiker, dass diese Ungleichungen in manchen Fällen verletzt werden, zum Beispiel wenn Alice und Bob einen verschränkten Quantenzustand messen. Wichtig ist, dass die bellschen Ungleichungen für alle klassischen Theorien gelten – egal wie kompliziert sie sind. Daher widerlegte der Bell-Test ganz grundsätzlich die Annahme, ein klassisches Modell könne Quantenphänomene beschreiben.
Zahlreiche Experimente haben dies seither bestätigt. Und 2015 haben Forschungsteams in Delft, Wien und Boulder alle Schlupflöcher beseitigt, die frühere Versuche offen gelassen hatten. Die Ergebnisse belegen nicht, dass unsere Welt eine Quantenwelt ist. Aber sie beweisen, dass man sie nicht durch die klassische Physik beschreiben kann.
Wir hofften, ein ähnliches Experiment wie das von Bell zu entwickeln, um die reelle Quantentheorie zu widerlegen. Wir brauchten also ein Versuchsszenario, dessen Ergebnisse sich nicht durch ein reelles Modell erklären lassen. Anschließend könnten – so hofften wir – Physiker und Physikerinnen den Versuch im Labor umsetzen. Wenn das gelänge, sollte der Test selbst die skeptischsten Befürworter davon überzeugen, dass sich unsere Welt nicht durch reelle Zahlen beschreiben lässt.
Unsere erste Idee war, das ursprüngliche Bell-Experiment so zu verändern, dass es auch die reelle Quantentheorie falsifiziert. Leider haben zwei unabhängige Arbeiten von Károly Pál und Tamás Vértesi im Jahr 2008 sowie von Matthew McKague, Michele Mosca und Nicolas Gisin 2009 bereits gezeigt, dass das nicht funktioniert: Die Physiker konnten beweisen, dass die reelle Quantentheorie jeden Bell-Test genauso gut besteht wie die gewöhnliche Quantenmechanik. Deshalb kamen die meisten Fachleute zu dem Schluss, die reelle Variante sei unwiderlegbar. Doch sie lagen falsch.
Auf der Suche nach dem passenden Experiment
Zwei Monate nach unserem Gespräch in Castelldefels hatte das Projekt acht theoretische Physiker von verschiedenen Orten und Arbeitsgruppen zusammengebracht. Obwohl wir uns nicht persönlich treffen konnten, tauschten wir mehrmals pro Woche E-Mails aus und führten Online-Diskussionen. Durch eine Kombination aus langen einsamen Spaziergängen und intensiven Zoom-Meetings kamen wir im November 2020 auf ein Quantenexperiment, dessen Ergebnis die reelle Quantentheorie nicht erklären könnte. Unsere Schlüsselidee bestand darin, das Standard-Bell-Szenario mit einer einzigen Teilchenquelle aufzugeben – stattdessen betrachteten wir eine Anordnung mit mehreren unabhängigen Quellen. Uns war aufgefallen, dass die reellen Modelle in der erwähnten Arbeit von Pál und Vértesi nicht die richtigen Ergebnisse für Experimente mit »Quantennetzwerken« lieferten, und das haben wir ausgenutzt.
Es war ein viel versprechender Anfang, aber nicht genug: Wir mussten die Existenz jeder Form von reeller Theorie ausschließen – egal wie ausgeklügelt sie sein mochte. Dazu brauchten wir ein konkretes Gedankenexperiment, für das sich zeigen lässt, dass keine reelle Quantentheorie die Vorhersagen der gewöhnlichen Quantenmechanik modellieren kann.
Ursprünglich dachten wir an komplizierte Netzwerke mit sechs Experimentatoren und vier Teilchenquellen. Doch dann entschieden wir uns für einen einfacheren Aufbau mit den drei Personen Alice, Bob und Charlie sowie zwei unabhängigen Quellen. Die erste sendet zwei verschränkte Photonen aus, eines an Alice und eines an Bob; die zweite schickt ebenfalls zwei verschränkte Photonen, aber diesmal an Bob und Charlie. Als Nächstes wählen Alice und Charlie eine Richtung, entlang derer sie die Polarisation der Teilchen messen. Währenddessen bearbeitet Bob die zwei Photonen, die bei ihm angekommen sind, derart, dass sie hinterher miteinander verschränkt sind. Wird das Experiment mehrmals wiederholt, kann man eine Statistik der verschiedenen Messergebnisse von Alices und Bobs Polarisationsmessung erstellen.
Dann haben wir gezeigt, dass keine reelle Quantentheorie die sich ergebenden Statistiken vorhersagen kann. Dabei stützten wir uns auf ein Konzept, das als »Selbsttest« bekannt ist: Es ermöglicht Fachleuten, sowohl ein Messgerät als auch das System, das es untersucht, gleichzeitig zu zertifizieren. Was bedeutet das? Stellen Sie sich ein Instrument vor, zum Beispiel eine Waage. Um zu garantieren, dass sie genau ist, setzt man eine Testmasse darauf. Aber wie kann man diese Masse eichen? Man braucht eine andere Waage, die wiederum mit einem Gewicht kalibriert werden muss, und so weiter. In der klassischen Physik setzt sich dieser Prozess unendlich fort. Erstaunlicherweise ist es in der Quantentheorie möglich, sowohl ein gemessenes System als auch das Messgerät gleichzeitig zu zertifizieren – als ob die Waage und die Testmasse die Kalibrierung der jeweils anderen überprüfen.
Das haben wir in unserer Arbeit genutzt. Für jede Manipulation von Bob führt man einen Selbsttest für die Messungen von Alice und Charlie durch. Mit anderen Worten: Die Messergebnisse des einen (zum Beispiel Charlie) bestätigt die Quantennatur des anderen (das Photon bei Alice) und umgekehrt. Als wir die dafür erforderlichen Geräte, die mit der reellen Quantentheorie vereinbar sind, untersuchten, landeten wir bei dem reellen Modell aus den Arbeiten von Pál, Vértesi, McKague, Mosca und Gisin. Von diesem wissen wir aber bereits, dass sie für Quantennetzwerke nicht funktioniert. Damit hatten wir den erhofften Widerspruch gefunden. Ähnlich wie bei den Bell-Tests erzeugte auch unser Gedankenexperiment Messstatistiken, die keine reelle Quantentheorie vorhersagen kann. Damit ist die reelle Quantentheorie also falsifizierbar.
Bevor wir uns zu früh freuten, mussten wir sicherstellen, dass sich die Idee unter realen Bedingungen umsetzen lässt. Wie wir herausfanden, kann die reelle Quantentheorie auch dann die Ergebnisse nicht reproduzieren, wenn die Messstatistiken leicht von den idealen Werten abweichen. Damit hängt die Schlussfolgerung nicht von kleinen Störungen und Schwankungen ab. Nur so ist es überhaupt möglich, das Gedankenexperiment in der Praxis zu überprüfen. Denn man kann ein Labor niemals perfekt kontrollieren, sondern nur hoffen, dort Quantenzustände zu erzeugen, die annähernd den gewünschten entsprechen, – und in etwa jene Messungen durchzuführen, die man beabsichtigt hat, wodurch sich ungefähr die vorhergesagte Messstatistik ergibt. Der von uns entworfene Versuch erfordert eine hohe Präzision, die jedoch mit den heutigen Technologien erreichbar ist. Deshalb hofften wir, dass es bloß eine Frage der Zeit sei, bis ein Forschungsteam unsere Vision verwirklichen würde.
Wir mussten nicht lange warten. Nur zwei Monate nach unserer Veröffentlichung meldete eine Gruppe in Schanghai, dass sie das Gedankenexperiment mit supraleitenden Qubits durchgeführt hatte. Etwa zur gleichen Zeit nahm ein anderes Team in Shenzhen Kontakt zu uns auf, um unsere Idee mit optischen Systemen zu verwirklichen. Ein paar Monate später lasen wir von einer weiteren Umsetzung des Experiments. Bei allen drei Versuchen haben die Fachleute Messungsergebnisse erhalten, die ein reelles Modell nicht erklären kann. Auch wenn noch einige Schlupflöcher zu schließen sind, fällt es angesichts der drei unabhängigen Arbeiten schwer, an der reellen Quantenhypothese festzuhalten.
Der Blick in eine Quanten-Zukunft
Weder eine klassische noch eine reelle Theorie kann demnach bestimmte Phänomene unserer Welt erklären. Wie geht es nun weiter? Wenn neue Versionen der Quantenmechanik als Alternativen vorgeschlagen werden, kann man diese künftig mit einer ähnlichen Technik prüfen. Aber wäre es vielleicht sogar möglich, einen Schritt weiter zu gehen – und auch die gewöhnliche Quantenphysik zu widerlegen?
Dann hätten wir allerdings überhaupt keine Theorie mehr für die mikroskopische Welt, da es an Alternativen fehlt. Viele Fachleute sind dennoch überzeugt, dass die Standard-Quantenmechanik nicht das passende Modell ist. Denn sie widerspricht einer anderen grundlegenden Theorie unserer Welt, der allgemeinen Relativitätstheorie. Deshalb sind wir auf der Suche nach einer neuen, tiefer gehenden »Quantengravitationstheorie«, die beide Konzepte in Einklang bringt – und die gewöhnliche Quantenphysik ersetzen könnte. Man kann das Problem aber auch anders herum angehen: Falls wir die Quantenmechanik widerlegen, zeigt das eventuell einen Weg zur Quantengravitationstheorie auf.
Gleichzeitig versuchen einige Forscherinnen und Forscher zu beweisen, dass die Quantentheorie unersetzbar ist – und keine andere Theorie ausreicht, um unsere Welt zu beschreiben. Die Physikerin Mirjam Weilenmann vom Institut für Quantenoptik und Quanteninformation in Wien hat zusammen mit dem Mathematiker Roger Colbeck von der University of York 2016 argumentiert, dass es möglich sein könnte, alle alternativen physikalischen Theorien durch geeignete bellähnliche Experimente zu verwerfen. Sollte sich das bewahrheiten, wäre die Quantenmechanik tatsächlich das einzige Modell, das mit experimentellen Beobachtungen vereinbar ist.
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