Versagensängste: Die Selbstzweifel überwinden
Manche Menschen werden von extremen Selbstzweifeln geplagt. Anstatt ihre Erfolge auf ihr eigenes Können zurückzuführen, gehen sie davon aus, dass alles, was sie im Leben erreicht haben, nur dem Zufall geschuldet ist. Die amerikanischen Psychologinnen Pauline Rose Clance und Suzanne Imes verliehen dieser speziellen Art von Selbstzweifeln bereits 1978 den Namen »Impostor-Syndrom« (auf Deutsch auch: »Hochstapler-Syndrom«). Aus der Überzeugung heraus, alles Positive, was ihnen widerfährt, nicht wirklich verdient zu haben, fühlen sich die Betroffenen in ihrer Rolle oft fehl am Platz und leiden unter permanenten Versagensängsten. Ihr negatives Selbstkonzept erschwert es ihnen, sich über Erfolge zu freuen oder Komplimente anzunehmen, und hemmt sie stark in ihrer persönlichen Entwicklung.
Als psychische Störung im eigentlichen Sinn gilt das Impostor-Syndrom nicht. Es wird eher als eine Art Persönlichkeitsmerkmal angesehen – und ist als solches keineswegs selten. Eine 2011 von der thailändischen Psychologin Jaruwan Sakulku und ihrem australischen Kollegen James Alexander vorgelegte Analyse des Forschungsstands ergab: Etwa 70 Prozent aller Menschen machen mindestens einmal in ihrem Leben Bekanntschaft mit dem Phänomen. Frauen scheinen insgesamt anfälliger zu sein als Männer – zumindest, wenn man den Durchschnitt betrachtet. In der Realität gibt es natürlich auch Frauen mit starkem Selbstwertgefühl und Männer mit Impostor-Syndrom. Die meisten Frauen, die sich als Hochstaplerin betrachten, scheuen sich sehr, dieses schambesetzte Thema anzusprechen. Tun sie es dann trotzdem, stellen sie bald fest, dass viele ihrer Geschlechtsgenossinnen das erdrückende Gefühl, nicht gut genug zu sein, mit ihnen teilen. Und diese Erkenntnis ist häufig schon der erste Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstvertrauen.
Etwa 70 Prozent aller Menschen machen mindestens einmal in ihrem Leben Bekanntschaft mit dem Impostor-Syndrom
Mangelndes Selbstvertrauen ist ein zentraler Faktor im Hinblick auf das Impostor-Syndrom. Das Phänomen reicht allerdings noch deutlich tiefer. Wer kein Selbstbewusstsein hat, mag sich hin und wieder in seiner Ehre angegriffen fühlen, zweifelt aber nicht gleich an seiner Daseinsberechtigung. Schließlich gelingt es auch vielen Menschen mit geringem Selbstwertgefühl, Unsicherheiten zu überwinden, sich besonders viel Mühe zu geben und am Ende stolz auf erzielte Erfolge zu sein. Bei Menschen mit Impostor-Syndrom ist das anders: Sie arbeiten zwar genauso viel und erzielen die gleichen Erfolge, können diese jedoch einfach nicht als solche betrachten, geschweige denn sich darüber freuen. Stattdessen leben die Betroffenen in ständiger Anspannung und fürchten sich umso mehr vor eventuellen Rückschlägen und davor, irgendwann »aufzufliegen«.
Vom Impostor-Syndrom zum Burnout
Das Syndrom äußert sich häufig in verschiedenen Verhaltensweisen, welche die US-amerikanische Autorin und Impostor-Syndrom-Expertin Valerie Young schon vor ihrer Zusammenarbeit mit Pauline Rose Clance und Suzanne Imes in ihrer Promotion aufzeigte. Das häufigste Merkmal ist der Perfektionismus: Da Impostor-Geplagte in der permanenten Angst leben, ihre vermeintliche Unfähigkeit könnte entlarvt werden, versuchen sie diese Blamage durch Überkompensation zu vermeiden. Sie schrauben ihre Ansprüche in unermessliche Höhen und stellen die unmöglichsten Erwartungen an sich selbst. Damit geraten sie in eine gefährliche Spirale, die nicht selten zu einem Burnout führt.
Aber auch das genau entgegensetzte Verhalten kann auftreten: Prokrastinieren und Selbstsabotage. Die Zweifel an der eigenen Kompetenz führen dann dazu, dass Betroffene sich von vornherein nicht mehr anstrengen und folglich noch schneller scheitern. Was dann wieder als Bestätigung der eigenen Unfähigkeit gedeutet wird.
Oft erlauben es sich die Betroffenen nicht, Ansprüche zu stellen. Entsprechend kämen sie nie auf die Idee, eine Beförderung oder eine Gehaltserhöhung zu verlangen
Das ist nicht die einzige Art, wie das Impostor-Syndrom den beruflichen Werdegang blockieren kann: Häufig erlauben es sich die Betroffenen nicht, Ansprüche zu stellen. Entsprechend kämen sie nie auf die Idee, eine Beförderung oder eine Gehaltserhöhung zu verlangen. Wie könnten sie auch, haben sie doch in ihren Augen nicht einmal ihre aktuelle Position verdient! Eine Studie des britischen Chartered Management Institute zeigte 2013 einen Zusammenhang zwischen dem niedrigen Selbstbewusstsein von Frauen und ihrem erschwerten Zugang zu Führungspositionen. Obwohl Frauen rund 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen, leiten sie weltweit nur 18 Prozent der Unternehmen und besetzen in den OECD-Ländern gerade einmal 22 Prozent der Vorstandsposten. Dies geht aus einer Schätzung hervor, die der Internationale Währungsfonds im März 2020 veröffentlichte. Natürlich ist fehlendes Selbstbewusstsein nur einer von vielen Faktoren, die Frauen den Weg an die Spitze verbauen: Patriarchale Strukturen, Macho-Gehabe in den Führungsetagen und mangelnde Repräsentanz in Spitzenpositionen ergeben zusammen mit dem Impostor-Syndrom eine unheilvolle Mischung für weibliche Führungskräfte.
Liebt er mich? Nein, kann gar nicht sein!
Im Privatleben kann sich das Impostor-Syndrom in einer Abneigung gegenüber sich selbst oder dem eigenen Körper äußern. Und wer sich selbst nicht mag, kann oft auch nicht glauben, dass jemand anderes ihn ins Herz geschlossen hat. Für Menschen mit Impostor-Syndrom ist es deshalb unmöglich, der geliebten Person zu genügen: Die wird den Irrtum sowieso irgendwann bemerken und sich davonmachen.
Auch hier führt die Angst oft dazu, dass Betroffene alles dafür tun, um eine Trennung zu beschleunigen und ihre Beziehungen zu sabotieren. Wie bei Carla: Immer wieder bestätigen Freundinnen der attraktiven Italienerin, dass sie mit ihrem »perfekten« Ehemann das große Los gezogen hat. Als Carla sieht, wie beliebt ihr Mann bei Frauen ist, entwickelt sie jedoch einen Minderwertigkeitskomplex und wird krankhaft eifersüchtig. Um das Problem zu beseitigen, sorgt sie, um ihn unattraktiver zu machen, dafür, dass ihr Mann an Gewicht zunimmt. Zunächst freut sie sich, dass er einen kleinen Bauch ansetzt, aber dann begreift sie, wie ungesund die Situation ist, und holt sich Rat. In einer Therapie erkennt sie ihr verzerrtes Selbstbild und schafft es, allmählich mehr Vertrauen zu entwickeln – zu sich selbst und zu ihrem Mann.
Wurzeln in der Kindheit
Woher kommen solche Selbstzweifel? Zum Teil hat das Impostor-Syndrom seine Wurzeln in der Kindheit. Die Vorstellung, weniger begabt zu sein als die Geschwister, oder in der Familie als »der Schwierige« abgestempelt zu werden: All das verletzt die Würde eines Kindes und zwängt es in ein einengendes Bild von sich selbst. Dadurch entwickelt es womöglich große Selbstzweifel und negative Glaubenssätze und schließlich Kompensationsstrategien, um dennoch geliebt und geschätzt zu werden.
Ein Kind will die bedingungslose Anerkennung seiner Eltern. Erlebt es harsche Kritik, Gleichgültigkeit, Kälte oder bekommt es den Eindruck, dass die Liebe seiner Eltern an bestimmte Bedingungen (etwa an bestimmte Leistungen) geknüpft ist, entwickelt es eine unsichere Bindung. Die Betroffenen betrachten sich dabei oft als minderwertig und denken, sie hätten es verdient, so behandelt zu werden – Glaubenssätze, die das Leben bis ins Erwachsenenalter hinein beeinträchtigen können.
Bei der Recherche zu unserem Buch »Le Syndrome d'imposture« (bislang nur auf Französisch erschienen, Anm. d. Red.) sind wir vielen Menschen begegnet, die in der Kindheit solche Erfahrungen gemacht haben. Zum Beispiel der Dozentin, Schauspielerin und Autorin Silva Kahn, die als Teenager von ihrer Mutter den Satz zu hören bekam: »Du solltest einen Stenografiekurs belegen, denn ich bin nicht sicher, ob es bei dir zur Kassiererin im Supermarkt reichen wird.« Silvia studierte später Psychologie, aber es dauerte viele Jahre, bis sie ihr mangelndes Selbstvertrauen überwand und sich endlich traute, das zu tun, was sie liebte.
Im Fall von Maria trafen gleich mehrere Kriterien des Impostor-Syndroms zu. Sie arbeitete in ihrem Traumjob, aber anstatt sich darüber zu freuen, war sie voller Sorge, dass ihre »Hochstapelei« irgendwann auffliegen könnte. Das ging so weit, dass sie Atemprobleme entwickelte. Sie schlief kaum noch, legte ein unmenschliches Arbeitstempo an den Tag und verzichtete auf jegliches Sozialleben. Schließlich begann sie, sich um ihre psychische Gesundheit zu sorgen. Erst im Gespräch mit dem Arzt wurde ihr bewusst, wie sehr ihre Kindheit zu ihren Problemen beigetragen hatte: Ihre Mutter war völlig selbstbezogen und kritisierte sie gnadenlos mit Aussagen wie: »Konzentrier dich lieber auf dein Studium, denn dein Äußeres, na ja.« Ihr Vater war hauptsächlich abwesend.
Zeiten des Umbruchs fördern Selbstzweifel
Joel Lane von der University of Portland fand 2015 heraus, dass sich vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die kurz vor dem Einstieg ins Berufsleben stehen, oft wie Hochstapler fühlen. In dieser Phase endet die Adoleszenz, man muss Erwachsenenrollen einüben und Verantwortung übernehmen. Hinzu kommen eine unbekannte Umgebung, hohe Erwartungen, ein neuer Job und erfahrene Kollegen. Veränderungen wie diese können verunsichern und das Selbstwertgefühl erschüttern.
Das Gleiche gilt für eine Scheidung, eine Krankheit oder einen Trauerfall. Auch Sheryl Sandberg, Mitgeschäftsführerin von Meta Platforms (ehemals Facebook Inc.), verlor ihr Selbstvertrauen nach dem Tod ihres Mannes. »Mein Leben brach in allen Bereichen zusammen. Ich hielt mich für eine schlechte Freundin, und ich traute mir meinen Job nicht mehr zu«, gestand sie im April 2017 in einem Artikel im »Time Magazine«. Indem sie ihre Erfahrungen im Umgang mit ihrer Trauer teilte und darüber schrieb, schaffte sie es, sich wieder aufzubauen.
Frauen wurde Schwäche lange Zeit gewissermaßen anerzogen
Destruktive Eltern und schwierige Übergangsphasen erleben Männer und Frauen oft gleichermaßen im Leben. Frauen scheinen allerdings mehr unter spezifischen Anforderungen und Stereotypen zu leiden. Ihr geringes Selbstwertgefühl beruht dabei auf einem historischen, sozialen, kulturellen und familiären Erbe. In den langen Zeiten des Patriarchats wurde ihnen Schwäche gewissermaßen anerzogen. Und obwohl sich in den letzten 50 Jahren einiges getan hat, beeinflussen die jahrhundertealten Klischees immer noch oft unbewusst ihr Verhalten.
Insgesamt stellt die Gesellschaft hohe Anforderungen an Frauen. Sie sollen leistungsfähig, schön und jung sein, zugleich jedoch Mutter und Partnerin. Sie sollen einen perfekten Körper haben und schlank sein, aber im Restaurant bitte nicht nur lustlos im Essen herumstochern. Sie sollen gepflegt und vorzeigbar sein, allerdings bitte nicht zu viel Make-up auflegen. All die widersprüchlichen und kaum zu erfüllenden gesellschaftlichen Normen sorgen dafür, dass viele Frauen permanent das Gefühl haben, nicht zu genügen, so wie sie sind.
David Dunning und Joyce Ehrlinger von der Cornell University untersuchten 2002 in einer Reihe von Studien, wie Männer und Frauen sich hinsichtlich ihres Selbstvertrauens unterscheiden. Dabei entdeckten sie, dass Frauen dazu neigen, ihre Fähigkeiten und Leistungen zu unterschätzen – vor allem in Bereichen, in denen sie traditionell als »weniger gut« gelten, etwa in den Naturwissenschaften. Männer überschätzen sich hingegen tendenziell. Auch die Wahrnehmung von Erfolg und Misserfolg ist verschieden. Nach schwierigen Prüfungen denken Mädchen eher: »Selbst schuld, wenn ich durchfalle, ich bin nicht sehr begabt und habe nicht genug gelernt.« Sie führen Niederlagen damit hauptsächlich auf persönliche Eigenschaften zurück. Jungen sagen eher: »Ich falle durch, weil die Prüfung zu schwer und der Lehrer zu streng war« – sie betrachten Misserfolge also eher als das Resultat äußerer Einflüsse. Umgekehrt ist es, wenn etwas gut läuft: Hier greifen Frauen verstärkt auf externe Gründe wie Zufall und Glück als Erklärung zurück und Männer schreiben es ihren persönlichen Stärken zu.
Dunning und Ehrlinger konnten zudem zeigen, dass Männer sich auf eine Stellenanzeige bewerben, wenn sie nur etwa 50 Prozent der Anforderungen erfüllen. Frauen wagen das erst, wenn sie die Dinge zu 100 Prozent beherrschen. Zwar leiden durchaus auch Männer unter dem Impostor-Syndrom – trotzdem lassen sie sich oft weniger in ihrem Werdegang bremsen. Der Grund: Traditionell sind sie diejenigen, die arbeiten gehen und die Familie ernähren müssen. Selbst wenn sie Ängste haben, gehen sie deshalb meist mehr Risiken ein.
Die Hochstapler-Gefühle überwinden
Wie alles im Leben unterliegt zum Glück auch das Selbstwertgefühl einem ständigen Auf und Ab. Mit zunehmendem Alter beginnen darum häufig auch Frauen, sich von den Erwartungen anderer zu lösen, und lernen sich selbst besser kennen. Eine 2018 veröffentlichte Studie von Ulrich Orth, Professor für Psychologie an der Universität Bern, und seinem Team zeigt, dass Frauen im Alter von 60 Jahren das größte Selbstvertrauen entwickeln: Die Kinder sind aus dem Haus, die Partner gefunden oder erneut gefunden, und das möchten sie genießen.
Um das Impostor-Syndrom in Schach zu halten, ist es wichtig, eigene Erfolge als solche anzuerkennen. Dabei kann ein erster Schritt sein, Komplimente anzunehmen
Doch was ist, wenn man nicht bis dahin warten möchte? Leider ist es nicht so einfach, das Impostor-Syndrom loszuwerden. Man kann es aber in Schach halten. Dabei hilft es zunächst, falsche Bilder von sich selbst zu hinterfragen und negative Glaubenssätze aus der Kindheit aufzuarbeiten. Zudem ist es wichtig, eigene Erfolge als solche anzuerkennen. Dabei kann ein erster Schritt sein, Komplimente anzunehmen: Statt eigene Leistungen kleinzureden, ist ein einfaches »Danke schön« eine tolle Möglichkeit, vor uns selbst zuzugeben, dass wir das Lob durchaus verdient haben.
Ein weiterer Tipp: alle Fortschritte und Erfolge in einem Notizbuch festhalten. In Momenten, in denen man wieder mal denkt, man habe seine Ziele nur durch Glück oder Schwindel erreicht, kann man so seine »Heldentaten« noch einmal durchgehen und sich vergegenwärtigen, was man alles geleistet hat.
Wichtig ist, sich von dem ständigen Perfektionismus zu verabschieden und eine andere Haltung gegenüber dem Scheitern einzunehmen. Misserfolge sollten dabei nicht länger als Zeichen von Unfähigkeit angesehen werden, sondern schlicht als etwas, was zum Leben dazugehört: Eine Niederlage ist nur eine Etappe, die uns die Möglichkeit gibt, etwas dazuzulernen. Das bedeutet auch, sich mit seinen eigenen Schwächen zu arrangieren. Wer um seine Unzulänglichkeiten weiß, kann sie überwinden und an ihnen wachsen. Und hat weit bessere Chancen, sein persönliches Potenzial auszuschöpfen, als jemand, der sich fortwährend selbst boykottiert.
Hilfreich kann auch das britische Mantra »Fake it till you make it« sein, was so viel heißt wie »Tu so als ob, bis du es kannst«. Gavin Kilduff von der New York University und Adam Galinsky von der Columbia Business School kamen in einer 2013 veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass Menschen mit selbstbewusster Ausstrahlung sich besser behaupten können und eher die Anerkennung ihrer Mitmenschen erhalten. Eine solche Grundhaltung kann also eine selbstbestätigende und selbststärkende Wirkung haben.
Von zentraler Bedeutung ist es, sich mit den richtigen Personen zu umgeben, mit wohlwollenden Menschen und Vorbildern, die inspirieren und stärken. Solche Vorbilder lassen sich etwa in persönlichen Begegnungen, aber auch in Filmen oder in der Literatur für Frauen wie für Männer finden. Und je mehr Frauen in den Führungsebenen vertreten sind, desto selbstverständlicher werden sie sich in ihre Rollen einfügen. Letztlich muss der Kampf gegen das Impostor-Syndrom auf gesamtgesellschaftlicher Ebene geführt werden.
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