Fluiddynamik: Ist das Schwimmbecken der Olympischen Spiele in Paris »langsam«?
Für viele Sportlerinnen und Sportler ist es der Höhepunkt ihrer Karriere. Jahrelang haben sie hart trainiert, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Dort eine Medaille zu gewinnen, ist für die meisten ein Kindheitstraum – der nur von der Hoffnung übertroffen wird, während der Wettkämpfe einen neuen Weltrekord aufzustellen.
Denn das passiert immer wieder. Bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio im Jahr 2021 wurden in dutzenden Disziplinen bestehende Weltrekorde gebrochen – allein sechs im Schwimmen. Meist sind es nur Zehntel- oder gar Hundertstelsekunden, die den Unterschied machen. Wie in den meisten olympischen Sportarten geht es dabei vor allem um Präzision; die kleinste falsche Bewegung oder äußere Störung kann über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Dennoch sticht Schwimmen in einem Punkt heraus. Es findet im Wasser statt, genauer gesagt, in einem mit Wasser gefüllten Schwimmbecken. Und dessen Design kann die Leistung der Olympioniken stark beeinflussen.
Vor dem Beginn der diesjährigen Olympischen Sommerspiele in Paris waren die Hoffnungen auf neue Rekorde groß. Einer der Gründe waren neue Trainingstechniken mit »digitalen Zwillingen«. Das sind Computermodelle der Sportler, mit denen Mathematiker und Mathematikerinnen sie zu Höchstleistungen bringen wollen. Doch bisher waren die Ergebnisse ernüchternd. Es wurde kein einziger neuer Weltrekord im Schwimmen aufgestellt (Stand 31. Juli 2024). Und schlimmer noch: Die Olympioniken scheinen weit hinter den Erwartungen zurückzubleiben. So erreichte beispielsweise Nicolò Martinenghi, der Sieger im 100-Meter-Brustschwimmen der Männer, bloß eine Zeit von 59,03 Sekunden – die langsamste Siegeszeit bei einer Olympiade seit 2004.
Schnell war eine Ursache gefunden: Das olympische Schwimmbecken sei nicht tief genug, hieß es. Wenige Tage nach der Eröffnung der Spiele folgten die ersten Schlagzeilen: »Paris Olympics swimmers noticing pool is ›slow‹«, »No World Records Through Two Nights In Paris, Is The Pool In Paris “Slow”?«, »How Paris's slow pool is thwarting swimmers' world record bids« und auch auf Deutsch: »Diskussion ums Olympiabecken: ›Das macht einfach keinen Spaß‹«. Aber kann das sein? Ist das Becken wirklich schuld an den ausbleibenden Rekorden? Wer jetzt auf ein klares Ja oder Nein hofft, wird enttäuscht sein. Eine einfache Antwort gibt es leider nicht, weil die Frage mit einem der komplexesten Probleme der Mathematik zusammenhängt.
Ein umgebautes Rugby-Stadion
Die La-Defense-Arena in Paris ist eigentlich ein Rugby-Stadion, das zur Schwimmhalle umfunktioniert wurde (und in dem sogar schon die US-Sängerin Taylor Swift aufgetreten ist). Das riesige Sportbecken wird nach den Olympischen Spielen wieder abgebaut. Dieses Vorgehen ist naheliegend: Während der Sommerspiele sollen viele Zuschauer auf das Schwimmbecken blicken können; außerhalb solcher Ereignisse wirken Schwimmbäder mit einer Zuschauertribüne, die 15 000 Menschen Platz bietet, dagegen völlig überdimensioniert. Deshalb stellen viele olympische Schwimmbecken temporäre Lösungen dar.
Was aber überrascht, ist die Schwimmtiefe des diesjährigen Sportbeckens. Das ist mit 2,15 Metern nämlich erstaunlich flach. Doch tatsächlich gibt es keine einheitliche Regelung, welche Maße ein olympisches Becken haben soll. Bis vor einigen Jahren musste es mindestens zwei Meter tief sein, inzwischen liegt die Mindesttiefe bei 2,5 Metern; empfohlen wird aber eine Tiefe von drei Metern. Da der Bau des Pariser Sportbeckens bereits 2017 startete, galt damals noch die Zwei-Meter-Regelung. Daher ist das Becken in Nanterre zulässig – trotz der vergleichsweise geringen Tiefe. Und das, so sind viele überzeugt, führe dazu, dass das Olympiabecken »langsam« sei.
»Schwimmbecken können schnell oder langsam sein, und das hängt von ihrem Design ab«Joel Stager, Biophysiker
Schwimmbecken werden als langsam bezeichnet, wenn in ihnen Strömungen entstehen, die Schwimmerinnen und Schwimmer ausbremsen können. Auch wenn das im ersten Moment erstaunlich klingt, ist es eine wissenschaftlich anerkannte Tatsache. »Schwimmbecken können schnell oder langsam sein, und das hängt von ihrem Design ab«, sagt der Biophysiker Joel Stager von der Indiana University Bloomington, der in der Vergangenheit an solchen Problemen geforscht hat. »Es gibt eine Reihe von Variablen zu berücksichtigen«, erklärt er. »Beckentiefe, Abmessungen der Rinne, Gestaltung der Bahnen, Wasserrücklauf, Bodengestaltung und so weiter.«
Sobald die Olympioniken ins Wasser springen, erzeugen sie Wellen. Diese werden am Beckenrand und am Boden reflektiert. Dabei können Strömungen und Strudel entstehen, die die Schwimmerinnen und Schwimmer bremsen. Die olympischen Sportbecken und die Wettkampfregeln sind daher so gewählt, dass diese Effekte möglichst klein sind oder bestenfalls ganz ausbleiben. Bei den Wettkämpfen werden die Bahnen am äußeren Rand zum Beispiel nicht genutzt. Und das ist auch der Grund für die Mindesttiefe der Becken. Je tiefer sie sind, desto stärker werden die Wellen gedämpft. Das macht es dann unwahrscheinlicher, dass die Wellen am Boden reflektiert werden und in der Nähe der an der Oberfläche schwimmenden Sportler bremsende Turbulenzen erzeugen. Die beeindruckenden Ergebnisse der Sommerspiele in Peking 2008 scheinen das zu beweisen. Das dortige Schwimmbecken hatte eine Tiefe von drei Metern und die Olympioniken konnten ganze 25 Weltrekorde aufstellen.
Wie sieht ein optimales Becken aus?
Es gibt dennoch Gründe, kein besonders tiefes temporäres Becken zu bauen. Neben wirtschaftlichen Faktoren würde das nämlich bedeuten, dass weniger Zuschauerplätze genutzt werden können (die Becken werden in die Höhe gebaut). Und es gibt auch einen psychologischen Faktor, der die Tiefe der Becken begrenzt. Schwimmende orientieren sich oft an Markierungen am Beckenboden, etwa dem Abstand der Fliesen. Wenn diese besonders weit entfernt sind, bekommen sie das Gefühl, langsam voranzukommen. Deswegen scheint es eine Art optimale Tiefe für Sportbecken zu geben, die bei etwa drei Metern liegen soll.
»Es gibt dadurch sehr viele Verwirbelungen, das bringt keine guten Zeiten«Bernd Berkhahn, Schwimm-Bundestrainer
»Selbst wenn es einen technischen Grund dafür gab, dass es in Nanterre 2,15 Meter geworden sind, hätten sie einen Weg finden müssen, das Problem zu lösen und das Geld/den Ingenieur zu bezahlen, damit es 3 Meter Tiefe werden«, schreibt zum Beispiel der Reddit-Nutzer FreestyleRobinson, der laut eigenen Angaben Mitarbeiter bei Myrtha ist, dem Hersteller des temporären Sportbeckens in Nanterre. Dem stimmt auch der deutsche Schwimm-Bundestrainer Bernd Berkhahn zu: »Es gibt dadurch sehr viele Verwirbelungen«, erklärt er »swimsportnews«. »Das (...) bringt keine guten Zeiten.«
Der Biophysiker Stager weist auf eine weitere Problematik hin. »Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass temporäre Schwimmbecken problematisch sein können«, sagt er. In statistischen Analysen hatten er und seine Kollegen 16 professionelle Schwimmwettkämpfe untersucht und kamen zu dem Ergebnis, dass offenbar 70 Prozent der Bahnen in temporären Becken störende Strömungen aufweisen, während bei dauerhaften Becken nur 35 Prozent der Bahnen betroffen sind.
Zweifel an der Langsame-Becken-Theorie
Dennoch lässt sich bisher nicht mit Sicherheit belegen, dass das Becken in Paris langsam ist. Vor allem nicht, wenn man die Argumentation auf fehlende Rekorde stützt. »Weltrekorde sind per Definition ›Ausreißer‹ und sagen nicht viel über das Beckendesign an sich aus«, erklärt Stager. Und tatsächlich stützen nicht alle Ergebnisse die Langsame-Becken-Theorie. Betrachtet man zum Beispiel die Zeiten, welche die Schwimmenden erreichten, um sich für das Olympiafinale zu qualifizieren, deutet sich ein anderer Trend an. Unter anderem erzielten die Frauen beim 400-Meter-Freistil-Wettbewerb eine Bestzeit von 4:03,83 Minuten für den Einzug ins Finale, was die Leistung bei den Olympischen Spielen in Tokio (4:04,07 Minuten) übertrifft.
»Aus technischer Sicht gibt es kein Problem mit dem Becken«Roberto Colletto, Geschäftsführer von Myrtha Pools
»Ich weiß, dass die Leute darüber reden, dass die Leistungen besser sind, wenn das Becken tiefer ist«, sagte Roberto Colletto, Geschäftsführer von Myrtha Pools, dem französischen Sender RMC Sport. »Aber von der technischen Seite aus gesehen, gibt es kein Problem mit dem Becken.« Die Firma hat die Schwimmbecken der letzten sechs Olympischen Sommerspiele hergestellt und nutzt Technologien wie numerische Fluiddynamik-Simulationen, um möglichst gute Wettkampfbedingungen zu schaffen.
Allerdings sind solche Untersuchungen schwierig. Grund dafür ist, dass der Bau eines idealen Beckens mit einem der komplexesten Probleme der Mathematik zusammenhängt: den Navier-Stokes-Gleichungen. Seit Jahrzehnten beißen sich Fachleute erfolglos die Zähne daran aus; eine exakte Lösung zu berechnen, scheint unmöglich. In der Praxis bedeutet das: Möchte man die Strömungen von Wasser, etwa in einem Pool, modellieren, ist man auf aufwändige Computersimulationen angewiesen. Und diese sind unter Umständen sehr ungenau, denn selbst kleinste Abweichungen können in solchen Modellen starke Auswirkungen haben – der berühmte Schmetterlingseffekt, der auch beim Wetter zum Tragen kommt.
Die Formel ist bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt und beschreibt die Strömung von Flüssigkeiten und Gasen. Sie hängt von der Dichte und der Viskosität eines Mediums ab und gibt an, wie sich die Geschwindigkeit je nach Ort und Zeit ändert. Die Gleichung sieht nicht nur kompliziert aus: Tatsächlich ist sie Teil von einem der sieben Millennium-Probleme der Mathematik, deren Lösung mit einer Million US-Dollar belohnt wird. In diesem Fall geht es aber nicht darum, die Gleichung zu lösen – man erhält das Preisgeld schon, wenn es gelingt zu zeigen, dass die Formel stets eine Lösung besitzt.
Vorherige Kontroversen
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Schwimmbecken in der Kritik steht. So wurden bereits bei der Schwimm-Weltmeisterschaft in Barcelona im Jahr 2013 Stimmen laut, dass Strömungen im Becken die Sportler stören würden. Damals widmeten sich Stager und sein Team dem Problem. Allerdings konnten die Forschenden den Pool nicht direkt untersuchen, da dieser unmittelbar nach dem Wettbewerb abgebaut wurde. Also blieb ihnen nur eines: Sie mussten die Zeiten aller Schwimmer und Schwimmerinnen untersuchen, mit anderen Wettkämpfen vergleichen und eine statistische Analyse durchführen. Dafür werteten sie die mittlere Zeitdifferenz zwischen Hin- und Rückweg auf den einzelnen Bahnen aus. Und sie fanden tatsächlich statistisch signifikante Hinweise darauf, dass es auf einigen der Bahnen wohl Störungen gab. Die Fachleute schreiben, eine Strömung sei die einzig bekannte Ursache, welche ihre Ergebnisse erklären könnten.
Und auch bei den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro im Jahr 2016 gab es hitzige Debatten über das Sportbecken. Wieder schienen einige der Schwimmerinnen und Schwimmer jeweils in einer Richtung schneller voranzukommen als in der anderen. Und erneut konnten die Fachleute um Stager in statistischen Analysen einen bahnabhängigen Leistungsunterschied erkennen. Allerdings geben sie in ihrer Arbeit zu bedenken: »Da wir in keinem dieser Fälle die physikalischen Eigenschaften der Schwimmbecken gemessen haben, können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob die Verzerrungen durch Strömungen oder andere Faktoren verursacht wurden. Was wir jedoch sagen können, ist, dass unsere Ergebnisse mit Wasserströmungen in den Wettkampfbecken übereinstimmen.«
»Wir müssen die Schwimmer schwimmen lassen!«Joel Stager, Biophysiker
Ob es im Becken in der La-Defense-Arena störende Strömungen gibt, lässt sich bisher nicht belegen. Man müsste dafür im Schwimmbecken Messungen vornehmen oder – wie bei vorherigen Sportereignissen – im Nachhinein statistische Analysen durchführen. »Wenn die Spiele vorbei sind, können die Ergebnisse untersucht werden, und vielleicht wissen wir dann mehr«, sagt Stager. Bis dahin hilft nur: »Wir müssen die Schwimmer schwimmen lassen!«
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